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Ubersprungbewegung auch Ubersprunghandlung Ubersprungverhalten engl displacement activity gelegentlich auch substitute activity oder behaviour out of context ist ein Fachausdruck der vor allem von Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen ausgearbeiteten Instinkttheorie der klassischen vergleichenden Verhaltensforschung Ethologie Er bezeichnet bestimmte Verhaltensmuster die vom Beobachter als unerwartet empfunden werden da sie innerhalb einer Verhaltensabfolge auftreten in der sie keinem unmittelbaren Zweck zu dienen scheinen Der Fachausdruck wurde von Nikolaas Tinbergen und Adriaan Kortlandt in die Ethologie eingefuhrt 1 2 Nikolaas Tinbergen beschrieb ihn wie folgt Diese Bewegungen scheinen irrelevant in dem Sinne zu sein dass sie unabhangig vom Kontext der unmittelbar vorhergehenden oder folgenden Verhaltensweisen auftreten 3 Gedeutet wurde solches dem Beobachter unpassend ohne nachvollziehbaren Bezug zur gegebenen Situation erscheinendes Verhalten als Anzeichen eines Konfliktes zwischen zwei Instinkten 4 weswegen die Fortfuhrung des zuvor beobachtbaren Instinktverhaltens zumindest zeitweise nicht moglich ist und stattdessen eine Verhaltensweise gezeigt wird die der Instinkttheorie zufolge aus einem vollig anderen dritten Funktionskreis des Verhaltensrepertoires stammt Spatere verhaltensbiologische Forschung deutete ursprunglich als Ubersprungbewegung interpretierte Verhaltensweisen als soziale Signale und damit als keineswegs irrelevant im jeweiligen Kontext Inhaltsverzeichnis 1 Modelle zum Ubersprungverhalten 1 1 Ubersprungshypothese 1 2 Enthemmungshypothese 2 Beispiele 3 Kritik 4 Siehe auch 5 Literatur 6 BelegeModelle zum Ubersprungverhalten BearbeitenDem Konzept der Ubersprungbewegungen lag die Annahme zugrunde dass zwei einander entgegengesetzte Instinkthandlungen zum Beispiel Angriff und Flucht sich wechselseitig hemmen und die fur beide freigesetzte Triebenergie in dieser Situation auf eine dritte Verhaltensweise uberspringt so dass diese dritte Verhaltensweise ausgefuhrt werde also Bewegungen die einem anderen Instinkt gehoren als den augenblicklich aktivierten Instinkten bzw dem augenblicklich aktivierten Instinkt 1 Klaus Immelmann erlauterte das von den Vertretern der klassischen vergleichenden Verhaltensforschung als Ubersprungverhalten klassifizierte Verhaltensmuster sei fur den Beobachter unerwartet in dem Sinne dass es in der Situation in der es auftritt nicht die normale biologische Funktion erfullt fur die es im Laufe der Stammesgeschichte entwickelt wurde 5 Mit anderen Worten Wird der Ablauf einer Instinkthandlung durch Mangel der auslosenden Situation oder Auftreten eines Konfliktes zwischen unvereinbaren Instinkten gestort kann die aufgestaute Triebenergie uber ein in der Situation scheinbar irrelevantes zu einem anderen Instinkt gehorendes Verhalten abreagiert werden 6 Ubersprungshypothese Bearbeiten Die von Tinbergen um 1940 entwickelte Ubersprungshypothese geht davon aus dass immer dann wenn die Entladung einer aktionsspezifischen Erregung also des aktivierten Instinktes nicht moglich ist ein anderes aber immer gleiches Bewegungsmuster hervorgebracht wird Laut Tinbergens Instinktlehre von 1952 zeige ein Tier dann Ubersprungverhalten wenn bei sehr starkem Trieb die Aussensituation nicht hinreicht um die Endhandlung auszulosen 7 Dies bedeutet in der Konsequenz dass diesem Modell zufolge eine Verhaltensweise C einerseits und in der Regel von ihrer spezifischen Erregung ausgelost wird andererseits aber auch gleichsam durch das Uberspringen einer Fremderregung durch Verhaltensweise B ausgelost werden kann namlich dann wenn Verhaltensweise B zum Beispiel aufgrund fehlender Schlusselreize blockiert ist und daher ein Erregungsstau auftritt Enthemmungshypothese Bearbeiten Im Unterschied zur Ubersprungshypothese wird die Ubersprungbewegung nach van Iersel amp Bol 1958 laut Enthemmungshypothese durch eine eigene Energie aktiviert 8 Die Enthemmungshypothese basiert auf der Annahme dass ein bestimmter Instinkt auf andere Instinkte eine hemmende Wirkung ausuben kann Wenn eine bestimmte Instinktbewegung gerade ausgefuhrt werde unterbinde sie alle anderen Instinktbewegungen um ein standiges Hin und Herspringen zwischen verschiedenen Verhaltensweisen zu vermeiden Die weitergehende und fur das Funktionieren der Enthemmungshypothese entscheidende Annahme besagt dass sich bestimmte Instinkte wechselseitig hemmen konnen Ist deren Starke ungefahr gleich gross so bedeute dies dass sie sich gegenseitig vollstandig blockieren Weder die eine noch die andere Instinktbewegung konne dann auftreten Eine solche gegenseitige Hemmung zweier Antriebe habe zur Folge dass eine gegenuber einem dritten Instinkt zuvor bestehende Hemmung aufgehoben werde Die diesem dritten Instinkt zugeordneten Verhaltensmuster konnen dann aufgrund der Enthemmung in Erscheinung treten und werden als Ubersprungbewegungen interpretiert Allgemeiner formuliert nach Bernhard Hassenstein 9 Antrieb A und B hemmen einander Verhaltensweise B hemmt wenn sie auftritt zusatzlich auch den Antrieb fur Verhaltensweise C da Verhaltensweise B aber nicht auftreten kann solange sie von A blockiert wird tritt Verhaltensweise C auf und kann vom Beobachter als Ubersprungbewegung klassifiziert werden Hassenstein wies allerdings 1983 die Enthemmungshypothese als untauglich zuruck 10 Beispiele BearbeitenDas wohl am haufigsten angefuhrte Beispiel fur Ubersprungbewegungen bezieht sich auf Beobachtungen an annahernd gleich starken Hahnen die miteinander ihre Hackordnung auskampfen Plotzlich pickt einer der beiden auf dem Boden umher als nehme er Futter auf und haufig folgt der andere umgehend dem Vorbild des Rivalen 11 Gedeutet wird diese Situation im Rahmen der Instinkttheorie als Ausdruck einer gleich starken Kampf und Flucht Motivation Handlungen A und B was als Ubersprungbewegung Futterpicken Handlung C hervorrufe Nach einem solchen Zwischenspiel werde der Kampf in der Regel fortgesetzt Von Lachmowenmannchen berichtet Nikolaas Tinbergen 3 dass sie vergleichbar den Hahnen einen Kampf gelegentlich gleichzeitig unterbrechen und die Bewegungsweise des Grasabrupfens zeigen ohne dabei aber Gras abzurupfen Grasabrupfen ist Tinbergen zufolge eine Bewegungsweise die dem Funktionskreis des Nestbauens zuzuordnen sei wenn sie aber im Zusammenhang mit einem Kampf auftrete sei sie ohne jede Funktion irrelevant und somit eine Ubersprungbewegung Ein weiteres von Tinbergen in einem Ubersichtsartikel dargestelltes und seitdem vielfach zitiertes Beispiel stammt aus dem Fortpflanzungszyklus der Dreistachligen Stichlinge 12 Wenn das Weibchen Eier abgelegt hat fachelt das Mannchen am Nest haufig und intensiv mit seinen Flossen Als Schlusselreiz fur diese Instinktbewegung gelten die im Nest befindlichen Eier Tritt dieses Facheln bereits wahrend der Werbung um ein Weibchen oder wahrend des Nestbaus auf wenn also noch keine Eier vorhanden sind so wird es von Tinbergen als Ubersprungverhalten eingeordnet Seeschwalben fuhren Putzbewegungen durch wenn sie in Konflikt zwischen Brutpflege und Flucht oder Flucht und Angriff sind 8 Honigbienen putzen sich am Futterplatz wenn sie in Konflikt zwischen Bleiben oder Aufsuchen eines neuen Futterplatzes sind 13 Austernfischer vor einem Spiegel fuhren Schlafbewegungen im Konflikt zwischen Angriff und Flucht aus 14 Haufig erwahnt wird schliesslich auch das Verhalten des Menschen der sich zum Beispiel gelegentlich im Auto verlegen am Kopf kratzt wenn er nicht weiss ob er nach der Ampel rechts oder links abbiegen soll Zu derartigen Verhaltensweisen die in ahnlicher Form auch bei Schimpansen beobachtet wurden schrieb Nikolaas Tinbergen Das Sich hinterm Ohr Kratzen beim Menschen was besonders dann auftritt wenn man daran behindert wird einer Situation bzw einem Problem auszuweichen durfte stammesgeschichtlich auch Ubersprunghaarpflege sein 15 Kritik BearbeitenBeide Modelle anhand derer die mutmasslichen inneren Ursachen der als Ubersprungbewegungen gedeuteten Verhaltensweisen formal beschrieben werden konnen sind Fortentwicklungen der alteren psychohydraulischen Verhaltensmodelle hin zu moderneren an elektrischen Schaltkreisen orientierten Modellen Sie gehen von zwei Voraussetzungen aus 1 Jede Bewegung kann einem Verhaltenssystem zugeordnet werden 2 Man kann in jeder Situation feststellen welche Verhaltenssysteme aktiviert sind und welche nicht 11 Ein weiterer grundlegender Gedanke dieser Modelle ist dass tierisches Verhalten nicht rein reaktiv ist wie es in den 1930er Jahren von den Behavioristen angenommen wurde und auch keine blosse Abfolge von Reflexen sondern dass die Spontaneitat des Verhaltens betont wird Man ging davon aus dass es spontan aktive Nervenzellen im Gehirn gebe die Erregung produzieren und so ein Tier veranlassen ein bestimmtes Verhalten zu zeigen 16 Bedenken gegen diese Deutung beobachtbaren Verhaltens hatte bereits Gerard Baerends geaussert als er 1956 im Handbuch der Zoologie darauf hinwies dass die von den Ethologen als Ubersprungbewegung interpretierten Verhaltensweisen zumindest sekundar Signalbedeutung erlangen konnten und zugleich bedauert Von der Physiologie der Ubersprungbewegungen ist jedoch leider nichts weiteres bekannt 4 Da auch spater keine Hirnregionen identifiziert werden konnten die mit dem Ubersprungverhalten in Verbindung zu bringen waren griff Peter Sevenster 1974 in Grzimeks Tierleben Baerends Hinweis auf und betonte dass wir selten wenn uberhaupt jemals den Anpassungswert oder sogar die Stammesgeschichte der betreffenden Bewegung durchschauen 17 Zwei Jahrzehnte spater wurden die evolutionsbiologischen Vorbehalte gegen das Konzept der Ubersprungbewegungen durch die damalige Bonner Verhaltensbiologin Hanna Maria Zippelius mit wissenschaftstheoretischen Argumenten vertieft Zippelius Kritik lautete Keine der beiden Hypothesen die das Auftreten einer Ubersprungbewegung erklaren sollen bietet die Moglichkeit einer empirischen Uberprufung 18 da kein Verfahren zur Verfugung stehe um die postulierten Veranderungen von inneren Antrieben fortlaufend zu messen Nur unter der Voraussetzung dass die Starke zweier Antriebe gleichzeitig gemessen werden konne sei aber eine Aussage moglich dass die Antriebe zu dem Zeitpunkt zu dem die Ubersprungbewegung beobachtbar ist gleich stark sind 18 Zugleich kritisierte sie die anmassende Behauptung ein Verhaltensforscher konne allein anhand von Tierbeobachtungen ohne Kenntnis der Stammesgeschichte des Verhaltens der betreffenden Tierart entscheiden ob ein Verhaltensmuster in einer bestimmten Situation irrelevant also nicht zweckdienlich eine blosse Unterbrechung der eigentlichen Handlung sei Damit sind diese Hypothesen nicht mehr als phantasievolle Uberlegungen Einzelner die unter Anwendung des Lorenzschen Triebkonzeptes eine Erklarung des in Rede stehenden Phanomens nur vortauschen 18 Zippelius verwies in diesem Zusammenhang u a auch auf Konrad Lorenz der in seinem Spatwerk 19 eingeraumt hatte es sei geradezu schwer Beispiele von Ubersprungbewegungen zu finden die nicht Signalwirkungen entfalten Wenn aber die sogenannten Ubersprungbewegungen durchweg soziale Signale sind dann haben sie durchaus eine Funktion in dem Kontext in dem sie beobachtet werden Unerwartet sind sie dann nur noch fur den Beobachter der sie nicht versteht d h sie nicht interpretieren kann 20 Das oben erwahnte Beispiel der kampfenden Hahne von denen einer plotzlich auf dem Boden umher pickt als wurde er Futter aufnehmen kann beispielsweise auch als soziales Signal gedeutet werden das dem Rivalen moglicherweise anzeigt dass sich der pickende Hahn so uberlegen fuhlt dass er selbst in dieser prekaren Situation noch Futter aufnehmen kann Wolfgang Wickler ein Schuler von Konrad Lorenz bewertete schon 1990 das Konzept der Ubersprungbewegung als uberholt Die aktionsspezifische Energie erwies sich als modernes Phlogiston und das psychohydraulische Modell trotz raffinierter Veranderungen als untauglich die Bereitschafts und Zustandsanderungen im Tier adaquat abzubilden 21 Siehe auch BearbeitenLeerlaufhandlung Angeborener Auslosemechanismus AggressionshemmungLiteratur BearbeitenNikolaas Tinbergen Die Ubersprungbewegung In Zeitschrift fur Tierpsychologie Band 4 1940 S 1 40 Volltext PDF Belege Bearbeiten a b Peter Sevenster Die Ubersprungbewegung In Grzimeks Tierleben Erganzungsband Verhaltensforschung Kinder Verlag Zurich 1974 S 225 Juan D Delius Displacement Activities and Arousal In Nature Band 214 1967 S 1259 1260 doi 10 1038 2141259a0 a b Nikolaas Tinbergen Derived activities their causation biological significance origin and emanzipation during evolution In The Quarterly Review of Biology Band 27 1952 S 25 a b Gerard Baerends Aufbau des tierischen Verhaltens In Handbuch der Zoologie Band 8 Mammalia 10 Teil 1 Halfte 1956 S 18 Klaus Immelmann Einfuhrung in die Verhaltensforschung Berlin Parey 1983 S 53 I Lindner in Lexikon der Psychologie Band 3 S 2383 ISBN 978 3 451 17942 6 Nikolaas Tinbergen Instinktlehre Parey Berlin 1952 S 108 a b J J A van Iersel A C Angela Bol Preening of two tern species A study on displacement activities In Behaviour Band 13 1958 S 1 88 Zusammenfassung Peter Sevenster A causal analysis of a displacement activity fanning in Gasterosteus aculeatus In Behaviour Supplement 9 1961 S 1 170 Bernhard Hassenstein Instinkt Lernen Spielen Einsicht Einfuhrung in die Verhaltensbiologie Piper Munchen 1980 Bernhard Hassenstein Funktionsschaltbilder als Hilfsmittel zur Darstellung theoretischer Konzepte in der Verhaltensbiologie In Zoologische Jahrbucher Physiologie Band 87 1983 S 181 187 a b Peter Sevenster Die Ubersprungbewegung In Grzimeks Tierleben Erganzungsband Verhaltensforschung Kinder Verlag Zurich 1974 S 224 Nikolaas Tinbergen Die Ubersprungbewegung In Zeitschrift fur Tierpsychologie Band 4 1940 S 1 40 Volltext PDF Walter Flumm Zur Wiederholung von Ubersprung Fuhlerputzbewegungen der Honigbiene beim Sammeln verschieden konzentrierter Zuckerlosungen In Insectes Sociaux Band 32 1985 S 435 444 doi 10 1007 BF02224020 psychologie uni wuerzburg de PDF 1 0 MB Memento vom 21 Oktober 2012 im Internet Archive eingesehen am 29 Juli 2013 Josua Haderer Allgemeine Psychologie I S 5 Elementare Strukturen des Verhaltens Nikolaas Tinbergen Die Ubersprungbewegung S 7 Gerard Baerends beschrieb diese hypothetischen verhaltensauslosenden Nervenzellen vorsichtig als intrazentrale Mechanismen die auch ohne extrazentrale Informationen Bewegungen koordinieren In Gerard Baerends Aufbau des tierischen Verhaltens S 6 Peter Sevenster Die Ubersprungbewegung In Grzimeks Tierleben Erganzungsband Verhaltensforschung Kinder Verlag Zurich 1974 S 226 a b c Hanna Maria Zippelius Die vermessene Theorie Eine kritische Auseinandersetzung mit der Instinkttheorie von Konrad Lorenz und verhaltenskundlicher Forschungspraxis Braunschweig Vieweg 1992 S 260 ISBN 978 3 528 06458 7 Konrad Lorenz Vergleichende Verhaltensforschung Grundlagen der Ethologie Springer Verlag Wien und New York 1978 S 202 f Hanna Maria Zippelius Die vermessene Theorie S 261 Wolfgang Wickler Von der Ethologie zur Soziobiologie In Jost Herbig Rainer Hohlfeld Hrsg Die zweite Schopfung Geist und Ungeist in der Biologie des 20 Jahrhunderts Hanser Verlag Munchen 1990 S 176 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Ubersprungbewegung amp oldid 234246383