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Angeborener Auslosemechanismus AAM zeitweise auch angeborenes auslosendes Schema ist ein Fachbegriff der vor allem von Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen ausgearbeiteten Instinkttheorie der klassischen vergleichenden Verhaltensforschung Ethologie Er ermoglicht einem Tier das angeborene Erkennen einer biologisch relevanten Umweltsituation 1 Ein AAM ist folglich ein Reizfilter Apparat der auf einen bestimmten Schlusselreiz anspricht zudem sorgt er aber auch fur die Ankoppelung des erkannten Reizes an eine bestimmte Verhaltensweise motorische Koordination 2 Das heisst der AAM bewirkt zugleich dass eine bestimmte phylogenetisch programmierte erbkoordinierte Bewegung Instinktbewegung in Gang gesetzt wird mit deren Hilfe die durch den Schlusselreiz bestimmte Umweltsituation mit angeborenem Konnen gemeistert wird 1 Die Bezeichnung angeborener Auslosemechanismus und die ihm zugeschriebenen physiologischen Eigenschaften wurde in nachtelangen Diskussionen gemeinsam von Nikolaas Tinbergen und Konrad Lorenz im Verlauf einer Fachtagung zum Thema Instinkte geboren 3 die der niederlandische Zoologe Cornelis Jakob van der Klaauw 1936 an die Universitat Leiden einberufen hatte 4 Spater wurde das Konstrukt des angeborenen Auslosemechanismus angestossen vor allem durch eine Veroffentlichung des osterreichischen Zoologen Otto Storch Leiter des Zoologischen Instituts in Graz 5 aus dem Jahr 1949 6 um einen durch Erfahrung modifizierten AAM EAAM erganzt Wolfgang Schleidt fuhrte 1962 zudem noch die erworbenen Auslosemechanismen EAM ein bei denen das ursprunglich vorhanden gewesene Gerust des AAM nicht mehr nachweisbar ist oder die ohne die Mitwirkung eines AAM zustande gekommen sind 7 Inhaltsverzeichnis 1 AAM und Schlusselreiz 2 Die neurobiologische Basis des AAM 3 Literatur 4 Anmerkungen 5 BelegeAAM und Schlusselreiz Bearbeiten Hauptartikel Schlusselreiz Verhaltensbeobachtern war schon immer aufgefallen dass viele neugeborene Tiere sofort in der Lage sind die ihnen zutragliche Nahrung aufzunehmen Seien es Kuken die nach dem Schlupfen sofort zu wissen scheinen was Futter ist und wie sie Futter zu picken haben seien es Saugetiere die ohne fremde Hilfe sofort zu den Zitzen der Mutter drangen Der Nachweis einer angeborenen Verhaltensweise kann am leichtesten bei erfahrungslos aufgezogenen Testtieren gefuhrt werden frisch aus dem Ei geschlupfte Vogel hatten vor dem Schlupfen zum Beispiel keinerlei Moglichkeiten fur visuelle Wahrnehmungen Dies ist einer der Grunde dafur dass so gut wie alle fruhen Ethologen auf dem Gebiet der Ornithologie tatig waren Ahnlich Pawlows Verknupfung von bedingtem Reiz und bedingtem Reflex hatte Konrad Lorenz erstmals 1935 in seinem Fruhwerk Der Kumpan in der Umwelt des Vogels das Konzept des Zusammenwirkens von Schlusselreiz und AAM dargestellt allerdings verwendete Lorenz damals fur diese als Teilsystem des Zentralnervensystems postulierte Schaltstelle die dem spezifischen Input einen spezifischen Output folgen lasse statt AAM noch die Bezeichnung auslosendes Schema 8 Eine besondere Rolle spielen nun bei Vogeln die instinktmassig angeborenen auslosenden Schemata Wenn das auslosende Schema einer Reaktio instinktmassig angeboren ist so entspricht es stets einer verhaltnismassig einfachen Kombination von Einzelreizen die in ihrer Gesamtheit den Schlussel zu einer bestimmten instinktmassigen Reaktion darstellen Das angeborene auslosende Schema einer Instinkthandlung greift aus der Fulle der Reize eine kleine Auswahl heraus auf die es selektiv anspricht und damit die Handlung in Gang bringt 9 Es ist also der AAM der die laut Instinkttheorie kontinuierlich erzeugte aktionsspezifische Erregung fur bestimmte Instinktbewegungen daran hindert in unpassenden Situationen freigesetzt zu werden und der umgekehrt dafur sorgt dass sie nur in den passenden Situationen vom Individuum in einer bestimmten ererbten Weise freigesetzt wird Diese vom AAM wie von einem Filter selektierten Schlusselkombinationen mussen Lorenz zufolge ein Mindestmass allgemeiner Unwahrscheinlichkeit besitzen das heisst sie mussen weitestgehend falschungssicher sein und durfen allenfalls sehr selten irrtumlich eine Instinktbewegung in Gang setzen und zwar aus denselben Grunden aus denen man dem Barte eines Schlussels eine generell unwahrscheinliche Form gibt 10 In gewissem Sinne fullt der AAM folglich die von klassischen Behavioristen so bezeichnete Black Box und kann durch drei Eigenschaften charakterisiert werden das Erkennen eines Schlusselreizes und die auf ihn folgende Verhaltensweise ist angeboren und artspezifisch ohne AAM kann keine adaquate Reaktion auf einen Schlusselreiz erfolgen die einem Schlusselreiz folgende Reaktion ist stereotyp da jedem Schlusselreiz ein eigener AAM und eine spezifische Reaktion zugeschrieben wird Die Bezeichnung angeborenes auslosendes Schema hatten Konrad Lorenz und Nikolaus Tinbergen 1936 gewahlt weil der Organismus nicht etwa auf ein gestaltetes Gesamtbild der adaquaten Umweltsituation anspricht sondern auf eine Summe von ganz bestimmten diese Situation skizzenhaft schematisch kennzeichnenden Reizkombinationen Man hat den Ausdruck angeborenes Schema deshalb verlassen weil er immer noch die Vorstellung von einem wenn auch vereinfachten Bild der Gesamtsituation oder des Gegenstandes einer Verhaltensweise nahelegt Man spricht jetzt vom angeborenen Auslosemechanismus AAM und es ist von vornherein klar dass bei verschiedenen Lebewesen und auf verschiedener Integrationshohe ihrer kognitiven Leistungen und Verhaltensweisen sehr verschieden hohe Anspruche an die Selektivitat ihrer Reizbeantwortung gestellt werden und dass es sehr verschiedene physiologische Mechanismen sind die diesen Anforderungen gerecht werden 1 Zum durch Erfahrung veranderten AAM dem EAAM merkte Lorenz 1978 an Einer der am weitesten verbreiteten Lernvorgange und moglicherweise der urtumlichste unter ihnen besteht darin dass ein AAM durch Hinzulernen von weiteren fur die auslosende Reizkonfiguration kennzeichnenden Merkmalen selektiver gemacht wird Dies bedeutet selbstverstandlich eine adaptive Modifikation des Verhaltens 11 Die neurobiologische Basis des AAM BearbeitenDas angeborene auslosende Schema spater umbenannt in angeborener auslosender Mechanismus wurde 1936 als ein rein gedankliches Konstrukt postuliert also ohne experimentelle Grundlage Es basierte zunachst nur auf der Beobachtung dass Tiere offenkundig auch ohne vorheriges Lernen auf bestimmte Umweltreize in bestimmter vorhersagbarer Weise reagieren dass sie also uber spezifische angeborene Umweltkenntnisse und uber ein spezifisches angeborenes Verhaltensrepertoire verfugen Eine solche starre Koppelung von externem Schlusselreiz und Instinktbewegung setzt aber ein neurophysiologisches Filter und Aktivierungssystem voraus Insofern war der AAM ein zwingend zu unterstellendes Bindeglied zwischen Reiz und Reaktion Das aber wirft methodische Probleme auf Schlusselreiz und AAM konnen experimentell nicht getrennt voneinander untersucht werden denn ein Schlusselreiz ist ja gerade dadurch definiert dass er dank eines AAM eine bestimmte Instinktbewegung anstosst und umgekehrt ist ein AAM dadurch definiert dass er einem bestimmten Schlusselreiz zugeordnet ist 12 Das postulierte Konstrukt des AAM kann somit eher als ein erkenntnistheoretisches naturphilosophisches Konstrukt und weniger als ein naturwissenschaftliches angesehen werden Es spielt daher in der aktuellen naturwissenschaftlichen Forschung kaum noch eine Rolle Gleichwohl ist das angeborene Erkennen einer biologisch relevanten Umweltsituation von Verhaltensforschern und Neurophysiologen vielfach beschrieben worden und gilt als gesichert Weniger gut gesichert ist allerdings weiterhin wie genau ein bestimmter AAM beschaffen sein muss damit der zugehorige Schlusselreiz situationsgerecht beantwortet werden kann Konrad Lorenz selbst hatte 1978 eingeraumt Uber die physiologischen Funktionen von denen die seligierende Reizfilterung A 1 des AAM vollzogen wird wissen wir heute nur wenig 13 Und 1994 schrieb der Neurophysiologe Jorg Peter Ewert Aufgrund unseres heutigen Wissens ist keine allgemeingultige Zuordnung neuronaler Zentren als Ort von Auslosemechanismen moglich 14 Die genaue Bestimmung neuronaler Ensembles die eine neurophysiologische Entsprechung zum AAM darstellen ist auch in den Jahrzehnten danach nur fur einzelne Spezialfalle moglich gewesen Auf einen solchen Spezialfall verwies 1978 auch Lorenz als Beleg fur seine Hypothesen Jerome Lettvin Humberto Maturana Warren McCulloch und Walter Pitts hatten 1959 beim Leopardfrosch Rana pipiens zunachst Rezeptive Felder nachgewiesen und kurz darauf berichtet dass bestimmte neuronale Verschaltungen in der Netzhaut dazu beitragen dass ein Frosch ein vorbeifliegendes kleines Insekt als Beute erkennt ein grosseres fliegendes Objekt hingegen als Feind 15 16 17 Gruppen von Seh Elementen sind mit je einer Ganglienzelle verbunden manche von ihnen sprechen auf Hell oder Dunkelwerden an andere auf so spezifische Reize wie beispielsweise eine Hell Dunkelgrenze mit konvexem dunklen Rand die in bestimmter Richtung uber die Seh Elemente der Gruppe hinweglauft Ein Seh Element kann dabei Mitglied einer ganzen Reihe von Gruppen sein d h mit verschiedenen Ganglienzellen in Verbindung stehen Man ist geradezu versucht zentralwarts von diesen Gruppen eine nachsthohere integrierende Instanz zu postulieren die aus der Information solcher Untersysteme eine Meldung wie etwa Fliege von rechts nach links voruberfliegend integriert 13 Angelehnt an solche neuroethologische Forschung empfahl Jorg Peter Ewert 1994 eine Rettung der Bezeichnung Auslosemechanismus unabhangig von der historischen Instinkttheorie und unter kybernetischen und systemtheoretischen Gesichtspunkten Unter Auslosemechanismen sollten wir heute Auslosesysteme verstehen in denen Merkmalsfilter Ortungs Motivations und Lernsysteme ineinandergreifen Unter Einbeziehung einer solchen Differenzierung behalt der Begriff Auslosemechanismus seine Fruchtbarkeit vor allem auch fur die neuroethologische Forschung 14 Literatur BearbeitenWolfgang M Schleidt Die historische Entwicklung der Begriffe Angeborenes auslosendes Schema und Angeborener Auslosemechanismus in der Ethologie In Zeitschrift fur Tierpsychologie Band 19 Nr 6 1962 S 697 722 doi 10 1111 j 1439 0310 1962 tb00800 x Anmerkungen Bearbeiten seligierende Reizfilterung selektierende ReizfilterungBelege Bearbeiten a b c Konrad Lorenz Vergleichende Verhaltensforschung Grundlagen der Ethologie Springer Wien und New York 1978 S 122 ISBN 978 3 7091 3098 8 Uwe Jurgens und Detlev Ploog Von der Ethologie zur Psychologie Kindler Verlag Munchen 1974 S 9 ISBN 3 463 18124 X Konrad Lorenz Vergleichende Verhaltensforschung Grundlagen der Ethologie S 6 Klaus Taschwer und Benedikt Foger Konrad Lorenz Biographie Zsolnay Wien 2003 S 72 ISBN 3 552 05282 8 Ute Felbor Rassenbiologie und Vererbungswissenschaft in der Medizinischen Fakultat der Universitat Wurzburg 1937 1945 Konigshausen amp Neumann Wurzburg 1995 Wurzburger medizinhistorische Forschungen Beiheft 3 zugleich Dissertation Wurzburg 1995 ISBN 3 88479 932 0 S 96 Otto Storch Erbmotorik und Erwerbmotorik In Akademischer Anzeiger der medizinisch naturwissenschaftlichen Klasse der osterreichischen Akademie der Wissenschaften Heft 1 Wien 1949 Wolfgang M Schleidt Die historische Entwicklung der Begriffe Angeborenes auslosendes Schema und Angeborener Auslosemechanismus in der Ethologie In Zeitschrift fur Tierpsychologie Band 19 Nr 6 1962 S 697 722 doi 10 1111 j 1439 0310 1962 tb00800 x Konrad Lorenz Der Kumpan in der Umwelt des Vogels In Journal fur Ornithologie Band 83 Nr 2 3 1935 S 137 215 und S 289 413 doi 10 1007 BF01905355 Konrad Lorenz Der Kumpan in der Umwelt des Vogels Nachdruck in Derselbe Uber tierisches und menschliches Verhalten Aus dem Werdegang der Verhaltenslehre Gesammelte Abhandlungen Band 1 S 268 Piper Munchen 1965 ISBN 3 492 01385 6 Volltext PDF Konrad Lorenz Der Kumpan in der Umwelt des Vogels Nachdruck S 117 Konrad Lorenz Vergleichende Verhaltensforschung Grundlagen der Ethologie S 137 Hanna Maria Zippelius Die vermessene Theorie Eine kritische Auseinandersetzung mit der Instinkttheorie von Konrad Lorenz und verhaltenskundlicher Forschungspraxis Vieweg Braunschweig 1992 S 13 ISBN 3 528 06458 7 a b Konrad Lorenz Vergleichende Verhaltensforschung Grundlagen der Ethologie S 125 a b Jorg Peter Ewert Ist das Konzept vom Auslosemechanismus noch zeitgemass In Gerd Heinrich Neumann und Karl Heinz Scharf Hrsg Verhaltensbiologie in Forschung und Unterricht Ethologie Soziobiologie Verhaltensokologie Aulis Verlag Deubner Koln 1994 S 223 ISBN 3 7614 1676 8 Jerome Lettvin Humberto Maturana Warren McCulloch und Walter Pitts What the Frog s Eye Tells the Frog s Brain In Proceedings of the Institute of Radio Engineers Band 47 Nr 11 1959 S 1940 1951 Volltext PDF Humberto R Maturana Jerome Y Lettvin Warren S McCulloch und Walter H Pitts Anatomy and Physiology of Vision in the Frog Rana pipiens In Journal of General Physiologie Band 43 Nr 6 1960 129 175 doi 10 1085 jgp 43 6 129 PMC 2195076 freier Volltext Jorg Peter Ewert Neurobiological Basis for the Recognition and Localization of Environmental Signals How Does a Toad Brain Recognize Prey and Enemy In Derselbe Neuroethology An Introduction to the Neurophysiological Fundamentals of Behavior Springer Berlin und Heidelberg 1980 S 69 128 ISBN 978 3 642 67502 7 Jorg Peter Ewert The Neural Basis of Visually Guided Behavior In Scientific American Nr 3 1974 S 34 42 Volltext PDF Memento vom 29 Oktober 2019 im Internet Archive Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Angeborener Auslosemechanismus amp oldid 226137724