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Verwandtenselektion englisch kin selection auch Sippenselektion bezeichnet in der Evolutions und Soziobiologie eine Erweiterung der Theorien der naturlichen Auslese biologischen Selektion Im Rahmen der Theorie der Gesamtfitness vergleiche biologische Fitness will die Verwandtenselektion eine Erklarung liefern fur die Vererbung von kooperativem und selbstlosem Verhalten zwischen Lebewesen Wenn beispielsweise ein Tier seinen Verwandten dabei hilft ihre Nachkommen aufzuziehen fordere dies das Weiterbestehen und die zukunftige Verbreitung seiner eigenen Erbinformationen Das Ausmass an selbstlosem Verhalten Altruismus richtet sich dabei nach dem Verwandtschaftskoeffizienten Grad der Verwandtschaft Je enger Tiere miteinander verwandt sind desto haufiger ist selbstloses Verhalten anzutreffen Erklart wird diese Tatsache mit der hoheren Wahrscheinlichkeit durch Verwandtenhilfe die eigenen Gene in nachfolgenden Generationen weiterbestehen zu lassen Die Theorie der Verwandtenselektion wurde von den britischen Theoretischen Biologen John Maynard Smith 1964 und William D Hamilton entwickelt Sie wird aber auch in Frage gestellt siehe unten Inhaltsverzeichnis 1 Gesamtfitness 2 Verwandtenselektion bei eusozialen Hautfluglern 3 Gruppenstruktur 4 Kritik 5 Konkurrierende und weiterfuhrende Konzepte 6 Siehe auch 7 EinzelnachweiseGesamtfitness BearbeitenGesamtfitness direkte Fitness indirekte FitnessDie genetische Gesamtfitness inclusive fitness der genetische Erfolg eines Lebewesens misst sich an der Anzahl der eigenen Gene die in der nachfolgenden Generation vorhanden sind Sie setzt sich zusammen aus der direkten Fitness der Anzahl der Gene die durch eigene Nachkommen weitergegeben wird und der indirekten Fitness der Anzahl der eigenen Gene die uber Verwandte an die nachste Generation weitergegeben wird Ein Individuum das die Fortpflanzungschancen eines nahen Verwandten erhoht kann somit eine Erhohung seiner eigenen Gesamtfitness bewirken bedeutet genetischer Erfolg Die Forderung anderer Individuen kann fur die eigene Fortpflanzungsrate neutral sein oder sich sogar positiv auf diese auswirken Beispiel Hilfe auf Gegenseitigkeit In diesen Fallen addieren sich direkte und indirekte Fitness zur Gesamtfitness auf Dann wenn die Hilfe die eigene direkte Fortpflanzungsrate vermindert also mit Kosten in Bezug auf die reproduktive Fitness verbunden ist wird dies als Altruismus im biologischen Sinn bezeichnet Dieser Altruismus ist nur dann erfolgreich und breitet sich in Populationen aus wenn der Nutzen fur die Genweitergabe den das altruistische Verhalten zeigt grosser ist als die Kosten die dafur aufgebracht werden Hamiltons Regel Mathematisch ausgedruckt muss das Verhaltnis von Nutzen B zu Kosten C grosser sein als 1 dividiert durch den Verwandtschaftsgrad B C gt 1 r r B gt C displaystyle frac B C gt frac 1 r Leftrightarrow r cdot B gt C nbsp Dabei sind B der Nutzen benefit C die Kosten cost und r der Verwandtschaftskoeffizient relatedness Unter Einbeziehung der verschiedenen Verwandtschaftsgrade zum Empfanger und zu den eigenen Nachkommen ergibt sich folgende Formel Hamilton s rule r B B gt r C C displaystyle r B cdot B gt r C cdot C nbsp wobei r B displaystyle r B nbsp der Verwandtschaftsgrad des Gebers zu den Nachkommen des Empfangers und r C displaystyle r C nbsp Verwandtschaftsgrad des Gebers zu den eigenen Nachkommen ist BeispieleBeispiel 1 Ein Tier das auf zwei eigene Nachkommen verzichtet C 2 dafur aber einem Geschwister Verwandtschaftsgrad zwischen Geschwistern bei diploiden Organismen r 0 5 hilft funf zusatzliche Nachkommen B 5 zu bekommen hat eine hohere Gesamtfitness als ein Tier das egoistisch nicht hilft r B gt C displaystyle r cdot B gt C nbsp 0 25 5 gt 0 5 2 displaystyle 0 25 cdot 5 gt 0 5 cdot 2 nbsp Beispiel 2 Wenn ein Mensch sein Leben opfert aber zwei Geschwister dafur uberleben macht das fur seine Gene keinen Unterschied rettet er drei Geschwister ist das fur seine Gene ein Gewinn Aus Sicht der Gesamtfitness sollte eine Person ihr Leben opfern wenn sie dadurch mehr als zwei ihrer Kinder vier Neffen oder acht Cousins rettet da ein Kind 50 ein Neffe 25 und ein Cousin 12 5 der Gene mit ihr gemeinsam hat Verwandtenselektion bei eusozialen Hautfluglern BearbeitenEin besonderes Problem der Evolutionstheorie ist die Entstehung von Insektenstaaten mit einer Kaste sich selbst nicht mehr fortpflanzender Helfer Arbeiter Diese hoch eusozialen Insekten machen nur wenige Prozent der Arten aber einen grossen Anteil der Individuen weltweit aus sind also sehr erfolgreich Die Theorie der Verwandtenselektion bietet eine elegante Moglichkeit zu erklaren warum Eusozialitat in der Ordnung der Hautflugler besonders haufig auftritt eusoziale staatenbildende Hautflugler sind etwa alle Ameisen viele Bienen wie die Honigbiene und Faltenwespen wie die Echten Wespen und Feldwespen Bei allen Hautfluglern wird das Geschlecht des Nachwuchses uber Haplodiploidie bestimmt das bedeutet dass aus befruchteten Eiern immer Weibchen hervorgehen aus unbefruchteten immer Mannchen Arrhenotokie Das hat zur Folge dass der Verwandtschaftsgrad r vom Geschlecht des Nachwuchses abhangt Bei Monogamie haben alle Tochter das vaterliche Erbgut zu hundert Prozent gemeinsam das mutterliche zu funfzig Prozent der Verwandtschaftsgrad ist 0 75 drei Viertel Der Verwandtschaftsgrad ihrer eigenen Nachkommen ist hingegen wie bei geschlechtlicher Fortpflanzung normal 0 5 die andere Halfte stammt vom Vater der Nachkommen Da Weibchen mit ihren Schwestern also naher verwandt sind als mit ihrem eigenen Nachwuchs besassen sie eine genetische Praadaption zur Sozialitat sie seien also leicht geneigt eher die Anzahl ihrer Schwestern zu erhohen als eigene Tochter zu produzieren wodurch sich eusoziale Staaten leichter bilden konnten Wie allerdings bereits Hamilton selbst darlegte 1 ist diese Vorhersage an zahlreiche Bedingungen gebunden und kann bestenfalls eine Tendenz wiedergeben schliesslich sind die meisten Insekten mit haplodiploider Geschlechtsbestimmung nicht eusozial und die ebenfalls eusozialen Termiten besitzen keine haplodiploide Geschlechtsbestimmung Dennoch wurde dieses Beispiel in oft vergroberter und vereinfachter Form als besonders schlagendes Argument fur die Verwandtenselektion verwendet Die tatsachlichen Verhaltnisse sind allerdings viel verwickelter Trivers und Hare zeigten 1976 2 in einer einflussreichen Arbeit dass der Mechanismus dazu fuhren kann dass die Geschlechterverteilung zugunsten der Weibchen verschoben wurde Dies hatte zur Folge dass der relative Fortpflanzungserfolg der Mannchen ansteigen wurde wodurch uber eine entgegengesetzte Selektion der Mechanismus zunichtegemacht wird Spatere Forschungen zeigten dass er dann funktionieren kann wenn sich zumindest so lange bis Eusozialitat fest etabliert ist Kolonien mit unterschiedlicher Spezialisierung auf mannlichen und weiblichen Nachwuchs ausbilden split sex ratio zudem funktioniert er nur bei monogamer Fortpflanzung 3 Aufgrund der zahlreichen Einschrankungen waren viele Forscher geneigt der Haplodiploidie wenn uberhaupt nur eine geringe Rolle bei der Evolution eusozialen Verhaltens zuzuschreiben Neuere Uberlegungen zeigen allerdings dass sie als einer von zahlreichen Faktoren durchaus dazu beigetragen haben kann 4 Der von Trivers und Hare beschriebene Mechanismus verhindert dies auch nur dann wenn die Population nicht im Gleichgewicht ist 5 Sobald eusoziale Insektenstaaten mit sterilen Arbeiterinnen einmal evolviert sind konnen sich auch die Verhaltnisse andern die fur ihre Entstehung grundlegend waren So ist dem Modell zufolge Evolution von Eusozialitat uber haplodiploide Geschlechtsbestimmung nur dann moglich wenn sich die zukunftigen Koniginnen nur einmal paaren also monogam sind Dies war in der Tat soweit bekannt der Ausgangszustand bei den Hautfluglern Sekundar haben sich bei vielen Gruppen etwa den Honigbienen und einigen Ameisen daraus wieder polygame Paarungsweisen evolviert Bei der Honigbiene sind dadurch zum Beispiel die Arbeiterinnen nicht zwingend naher miteinander verwandt als mit der Konigin oder mit hier rein hypothetischem eigenen Nachwuchs Auch in solchen Fallen ist die Theorie der Verwandtenselektion nach wie vor ein wertvolles Werkzeug So kann sie verwendet werden um Konflikte zwischen Konigin und Arbeiterinnen etwa uber das Geschlecht des Nachwuchses zu erklaren Gruppenstruktur BearbeitenDie Verwandtenselektion macht auch Aussagen zu Gruppenstruktur von Populationen Wann bildet sich eine ungleiche Rangordnung heraus bei der sich nur die Ranghochsten fortpflanzen Um seine Gesamtfitness zu maximieren sollte das Individuum je nach den Umweltbedingungen den Schwerpunkt auf die Erhohung der direkten Fitness oder die Erhohung der indirekten Fitness legen Sind die Umweltbedingungen gunstig und der mogliche Fortpflanzungserfolg gross dann sollte ein Individuum abwandern und seine Gene durch eigene Nachkommen verbreiten Die Hierarchieunterschiede innerhalb einer Gruppe sind dann gering Sind die Umweltbedingungen ungunstig und der mogliche Fortpflanzungserfolg gering dann sollte das Individuum zu Hause bleiben Es bilden sich dann hierarchische Gruppenstrukturen mit starker Rangordnung heraus Kritik BearbeitenDer US amerikanische Insektenkundler und Soziobiologe Edward O Wilson der die Bezeichnung Soziobiologie einfuhrte ist inzwischen von der Gesamtfitness Theorie und der Verwandtenselektion als Grundlage der Soziobiologie abgeruckt 2012 kritisiert er diesen Ansatz sogar als unwissenschaftlich 6 2013 sagt er uber diese Grundlage der Soziobiologie 7 Das alte Paradigma der sozialen Evolution das nach vier Jahrzehnten fast schon Heiligenstatus geniesst ist damit gescheitert Seine Argumentation von der Verwandtenselektion als Prozess uber Hamiltons Ungleichung als Bedingung fur Kooperation bis zur Gesamtfitness als darwinschem Status der Koloniemitglieder funktioniert nicht Wenn es bei Tieren uberhaupt zur Verwandtenselektion kommt dann nur bei einer schwachen Form der Selektion die ausschliesslich unter leicht verletzbaren Sonderbedingungen auftritt Als Gegenstand einer allgemeinen Theorie ist die Gesamtfitness ein trugerisches mathematisches Konstrukt unter keinen Umstanden lasst es sich so fassen dass es wirkliche biologische Bedeutung erhalt Auch fur den Nachvollzug der Evolutionsdynamik genetisch bedingter sozialer Systeme ist es unbrauchbar Edward O Wilson 2012 Wilsons Kritik an der Gesamtfitness Theorie wurde von zahlreichen Wissenschaftlern in diversen Aufsatzen widersprochen so bereits in der Fachzeitschrift Nature 2011 von P Abbot 8 J J Boomsma u a 9 J E Strassmann u a 10 R Ferriere und R E Michod 11 sowie von E A Herre und W T Wcislo 12 Konkurrierende und weiterfuhrende Konzepte BearbeitenGruppenselektion von Vero Wynne Edwards 1962 Reziproker Altruismus wechselseitige Selbstlosigkeit und Tit for Tat Spieltheorie von Robert Trivers Optimal Skew Theorie von Laurent Keller und H Kern ReeveEine mathematisch elegante Synthese der Verwandtenselektion oder allgemeiner der individuellen Selektion unter Berucksichtigung genetischer Verwandtschaften und der Gruppenselektion stellt die Price Gleichung dar in der Individual wie auch Gruppenselektion berucksichtigt werden Siehe auch BearbeitenElternaufwand Evolutionstheorie Avunkulat soziale Vaterschaft des Mutterbruders Evolutionsvorteil durch mutterseitige Grossmutter ethnologische Befunde Verwandtschaftsbeziehungen Bezeichnungen Verwandtschaftssysteme ethnologische Unterscheidungen Richard Dawkins Das egoistische Gen 1976 George C Williams Evolutionsbiologe Einzelnachweise Bearbeiten W D Hamilton 1972 Altruism and Related Phenomena Mainly in Social Insects Annual Review of Ecology and Systematics 3 193 232 JSTOR 2096847 Robert L Trivers and Hope Hare 1976 Haplodiploidy and the Evolution of the Social Insects Science 191 4224 249 263 Andy Gardner Joa o Alpedrinha Stuart A West 2012 Haplodiploidy and the Evolution of Eusociality Split Sex Ratios Amercan Naturalist 179 2 240 256 doi 10 1086 663683 Andres E Quin ones amp Ido Pen 2016 A unified model of Hymenopteran preadaptations that trigger the evolutionary transition to eusociality Nature Communications 8 Article number 15920 doi 10 1038 ncomms15920 Petri Rautiala Heikki Helantera Mikael Puurtinen 2019 Extended haplodiploidy hypothesis Evolution Letters 3 3 263 270 doi 10 1002 evl3 119 Vergleiche Edward O Wilson Die soziale Eroberung der Erde Beck Munchen 2013 ISBN 978 3 406 64530 3 S 213 englisch 2012 The Social Conquest of Earth Edward O Wilson Die soziale Eroberung der Erde Beck Munchen 2013 ISBN 978 3 406 64530 3 S 221 P Abbot u a Inclusive fitness theory and eusociality In Nature Band 471 E1 E4 2011 doi 10 1038 nature09831 J J Boomsma u a Only full sibling families evolved eusociality In Nature Band 471 E4 E5 2011 doi 10 1038 nature09832 J E Strassmann u a Kin selection and eusociality In Nature Band 471 E5 E6 2011 doi 10 1038 nature09833 R Ferriere R E Michod Inclusive fitness in evolution In Nature Band 471 E6 E8 2011 doi 10 1038 nature09834 E A Herre W T Wcislo In defence of inclusive fitness theory In Nature Band 471 E8 E9 2011 doi 10 1038 nature09835 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Verwandtenselektion amp oldid 239378889