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Gruppenselektion ist ein evolutionstheoretisches Konzept das auf Charles Darwin zuruckgeht und 1962 vom britischen Zoologen Vero Wynne Edwards ausgearbeitet wurde 1 Das Konzept der Gruppenselektion unterstellt dass nicht die Individuen sondern Gruppen von Individuen jene Einheiten sind auf die die Selektion einwirkt Schon fruh gab es aber ernsthafte Zweifel daran dass Gruppenselektion einen entscheidenden Mechanismus der Evolution darstellt 2 3 4 In jungerer Zeit haben sich einige Evolutionsbiologen fur eine Neuentdeckung der Gruppenselektion starkgemacht allerdings weniger als fundamentaler Mechanismus sondern eher als emergente Konsequenz der Individualselektion 5 oder als Multilevel Selektion 6 7 Inhaltsverzeichnis 1 Problemstellung nach Charles Darwin 2 Die Grundannahmen der Theorie 3 Widerspruche 4 Siehe auch 5 Literatur 6 Weblinks 7 BelegeProblemstellung nach Charles Darwin BearbeitenWie kann die Evolution auf Grundlage von Individualselektion auch gemeinschaftliches Verhalten hervorbringen Darwin stellte sich bereits in Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl diese Frage Es ist ausserst zweifelhaft ob die Nachkommen der sympathischeren und wohlwollenderen Eltern oder derjenigen welche ihren Kameraden am treuesten waren in einer grosseren Anzahl aufgezogen wurden als die Kinder selbstsuchtiger und verratherischer Eltern desselben Stammes Wer bereit war sein Leben eher zu opfern als seine Kameraden zu verrathen wie es gar mancher Wilde gethan hat der wird oft keine Nachkommen hinterlassen seine edle Natur zu vererben Charles Darwin Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl 8 Seine Antwort fand Darwin in der heute so genannten Gruppenselektion Es lasst sich nicht zweifeln dass ein Stamm welcher viele Glieder umfasst die in einem hohen Grade den Geist des Patriotismus der Treue des Gehorsams Muths und der Sympathie besitzen und daher stets bereit sind einander zu helfen und sich fur das allgemeine Beste zu opfern uber die meisten andern Stamme den Sieg davontragen wird und dies wurde naturliche Zuchtwahl sein Charles Darwin Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl 9 Die Selbstorganisation der Stamme erfolge uber Lob und Tadel einsichtigem Verstand auch der Egoist profitiere vom Gemeinschaftserfolg und der Religion so Darwin Demnach gebe es also auch Selektionsprozesse jenseits der Individualselektion beziehungsweise der Verwandtenselektion Wie sich spater zeigte benotigen diese Kooperation stabilisierenden Mechanismen die schon Darwin nennt also Reputation und Sanktion Lob und Tadel das Konzept der Gruppenselektion nicht 10 11 12 13 Man kann auch feststellen dass schon Darwin Probleme mit dem Konzept der Gruppenselektion hatte da es dem von ihm entdeckten Prinzip der Individualselektion widersprach vor allem im Hinblick auf die Entstehung von gemeinschaftlichem Verhalten Man konnte aber nun fragen woher kam es dass innerhalb eines und desselben Stammes eine grossere Anzahl seiner Glieder zuerst mit socialen und moralischen Eigenschaften begabt wurde und wodurch wurde der Massstab der Vorzuglichkeit erhoht Charles Darwin Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl 8 Die Grundannahmen der Theorie BearbeitenIm biologisch evolutionaren Sinn definiert man eine Gruppe als eine Menge von Individuen die wechselseitig den Grad ihrer evolutionaren Angepasstheit beeinflussen sei es fur den Bruchteil einer Lebensspanne sei es fur ein Leben oder sei es uber mehrere Generationen hinweg Verwandtschaftliche Beziehung sowie raumliche Nahe spielen dabei nicht notwendigerweise eine Rolle Die ursprungliche Theorie der Gruppenselektion postuliert dass altruistische selbstlose Individuen sich hauptsachlich deshalb so verhalten weil dies ihrer sozialen Gruppe nutzt deren Chancen auf Fortpflanzung also erhoht und so auch die Vermehrung der Erbanlagen des altruistischen Individuums im Vergleich zu Individuen in weniger altruistischer Gruppen befordert Vero Wynne Edwards unterstellt also eine Selektion die vorwiegend das Beste fur die Gruppe zur Folge hat daher Gruppenselektion wahrend die klassische Evolutionstheorie die Wirkung der Selektion vornehmlich auf der Ebene von Individuen sieht und Effekte auf Gruppenebene negative und positive nur als Konsequenz der Individualselektion Populare Beispiele von Gruppenselektion Wenn eine Gruppe von Tieren gleicher Art infolge ihrer genetischen Ausstattung ihre Fortpflanzungsrate auf ein Niveau unterhalb ihrer Moglichkeiten begrenzt oder auf die Anwendung lebensbedrohlicher Korperteile Waffen verzichtet so ist diese Gruppe dieser Theorie zufolge im Vorteil gegenuber einer Vergleichsgruppe bei der es solche Begrenzungen nicht gibt und die deshalb Massensterben durch Uberbevolkerung und nachfolgendem Nahrungsmangel bzw Tod und Verletzungen bei Rivalenkampfen hinnehmen muss Wolfgang Wickler 14 merkt in diesem Zusammenhang an Verhaltensforscher behaupten im Grunde genommen dasselbe wie Wynne Edwards wenn sie davon ausgehen Kommentkampfe seien entstanden im Dienste der Erhaltung der Art weil jeder Beschadigungskampf der einen Artgenossen gefahrdet oder gar vernichtet gegen das Prinzip von der Erhaltung der Art verstosst Auch die von Konrad Lorenz wiederholt postulierte Totungshemmung ware mit dem Konzept der Gruppenselektion umstandslos zu erklaren Widerspruche BearbeitenDer Widerspruch zu dem schon von Darwin erkannten Grundprinzip der Weitergabe von Eigenschaften uber die durch Selektion vermittelte differenzielle Fortpflanzung von Individuen ist offenkundig Wie konnen sich Individuen erfolgreich fortpflanzen die ihren Reproduktionserfolg zugunsten anderer Unverwandter unter dem potentiell realisierbaren belassen Ein solches Verhalten speziell zum Wohle der Gruppe oder der Art ist evolutionar das heisst uber Generationen hinweg nicht stabil Schliesslich konnen Individuen die ihre eigene Stammlinie bevorzugen ihren relativen individuellen Fortpflanzungserfolg das heisst den Anteil ihrer genetischen Information in zukunftigen Populationen Biologische Fitness im Vergleich zu den Altruisten stetig erhohen und letztere schliesslich verdrangen Postulate einer Gruppenselektion inklusive zum Wohle der Art scheitern immer wieder vor allem an diesem Problem der evolutionaren Stabilitat 15 siehe auch Evolutionar stabile Strategie Etwa 100 Jahre nach Darwins Bemerkungen zu diesem Konzept zeigte sich zunehmend dass es nicht funktioniert 15 16 17 18 19 und schon Darwin zu Recht zweifelte Modelle zur Erklarung von Gruppenselektion z B 1 7 20 21 22 23 24 25 erfuhren zahlreiche Modifikationen doch keines lost den oben genannten Widerspruch auf Entweder treffen sie Annahmen uber Populationsstrukturen und Genfluss die so in der Natur keine Entsprechung finden oder sie vernachlassigen die Bedeutung von vererbten Merkmalen 16 oder sie verwaschen die Ebenen von Gruppe und Individuum oder sie verwechseln Ursache und Konsequenz Wilson amp Sober 7 23 erklaren sogar die Verwandtenselektion zu einem Spezialfall von Gruppenselektion obwohl das Konzept der Gruppenselektion vor allem deshalb formuliert wurde um Altruismus zwischen Unverwandten zu erklaren Unter verwandten Individuen ist Kooperation ohnehin nicht altruistisch im engeren Sinn da von Verwandten aufgrund gemeinsamer Vorfahren zum Teil identische genetische Information weitergegeben wird wie schon William D Hamilton erkannt hatte 26 Johan H Koeslag 5 sieht Gruppenselektion als emergentes Resultat der Individualselektion Das ist zwar schlussig verlasst aber das eigentliche Gruppenselektionsproblem denn Gruppenselektion im engeren Sinne bedeutet ja gerade dass Individualselektion im Hinblick auf Kooperation nicht notwendig beziehungsweise sogar kontraproduktiv ist Auch alle jene Modelle die Gruppenselektion als Teil einer Multilevel Selektion betrachten losen sich vom ursprunglichen Konzept Bis dato ist nicht nur kein Gruppenselektions Modell verfugbar das in der Lage ware die Entstehung von Altruismus Gruppen in einer Umwelt mit heterogenen Strategien zu erklaren sondern auch keines das erklaren kann wie solche wie auch immer entstandenen Gruppen unter realistischen Bedingungen evolutionar gegenuber individuellen Strategien stabil sein sollen ohne seinerseits individuelle Strategien zu Hilfe zu nehmen Allein die Tatsache dass verschiedene Phanomene von Kooperation nicht abschliessend erklart sind ist kein Argument fur Gruppenselektion Viele Beispiele fur vermeintliche Selbstlosigkeit sind zudem nach genauer Uberprufung ohne Gruppenselektion erklarbar 10 11 19 27 Die Vorstellung dass Individualselektion im Gegensatz zur Gruppenselektion keine Kooperation zwischen Unverwandten hervorbringen kann ist ein popularer Irrtum der immer wieder Motor fur die Idee der Gruppenselektion war und ist Selektion auf der Ebene von Individuen schliesst nicht aus dass es auch Merkmale gibt die sowohl fur das Individuum als auch fur die Gruppe von Vorteil sind beispielsweise Alarmrufe gegen Pradatoren 28 Wenn Gruppenmitglieder gleichzeitig durch gruppenexterne Einflusse bedroht werden dann nahern sich die Interessen der Gruppe jenen der Individuen an Damit aber Gruppenselektion nennenswert wirksam werden konnte musste sich die Reproduktionsrate von ganzen Gruppen jener von Individuen annahern Dafur gibt es in der Natur nur sehr wenige Beispiele und selbst dann bleibt das Individuum die Reproduktionseinheit und Gruppeneffekte sind im Wesentlichen eine Konsequenz der Individualselektion was einige moderne Konzepte der Gruppenselektion auch berucksichtigen z B 5 Zur Evolution von Kooperation ohne Gruppenselektion sei verwiesen auf z B 18 19 27 29 30 Siehe auch BearbeitenArterhaltung Altruismus dort v a der Abschnitt zur Evolutionsbiologie Biologische Fitness Evolutionar stabile Strategie Verwandtenselektion Multilevel SelektionLiteratur BearbeitenMark E Borrello Evolutionary Restraints The Contentious History of Group Selection The University of Chicago Press Chicago London 2010 ISBN 978 0 226 06703 2 Weblinks BearbeitenGruppenkonkurrenz und Gruppenselektion Von Eckart Voland Auf darwin jahr de vom 6 Januar 2009 David Sloan Wilsons Antwort auf die Gen Egoismus Theorie von Richard Dawkins Gruppenselektion vs Gen Egoismus Auf skeptic com zuletzt abgerufen am 16 April 2022 Filme mit verschiedenen Wachstumskonstellationen in Biofilmen Memento vom 1 Mai 2008 im Internet Archive Im Original publiziert von Jan Ulrich Kreft Universitat Bonn Belege Bearbeiten a b Vero Wynne Edwards Animal Dispersion in Relation to Social Behaviour Oliver amp Boyd 1962 G C Williams Adaptation and Natural Selection A Critique of Some Current Evolutionary Thought Princetown 1972 G C Williams Evolution Through Group Selection Blackwell 1986 John Maynard Smith Group selection and kin selection In Nature Band 201 1964 S 1145 1147 doi 10 1038 2011145a0 a b c Johan H Koeslag Evolution of cooperation cooperation defeats defection in the cornfield model In Journal of Theoretical Biology Band 224 2003 S 399 410 F McAndrew New evolutionary perspectives on altruism multilevel selection and costly signaling theories In Current Directions in Psychological Science Band 11 2002 S 79 82 a b c D S Wilson E Sober Reintroducing group selection to the human behavioral sciences In Behavioral and Brain Sciences Band 17 1994 S 585 654 a b C Darwin Die Abstammung des Menschen und geschlechtliche Zuchtwahl I Band Zweite Auflage Aus dem Englischen ubersetzt von J Victor Carus E Schweizerbart sche Verlagshandlung E Koch Stuttgart 1871 Kapitel 5 S 141 doi 10 5962 bhl title 1419 C Darwin Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl I Band Zweite Auflage Aus dem Englischen ubersetzt von J Victor Carus E Schweizerbart sche Verlagshandlung E Koch Stuttgart 1871 Kapitel 5 S 144 doi 10 5962 bhl title 1419 a b E Fehr U Fischbacher S Gachter Strong reciprocity human cooperation and the enforcement of social norms In Human Nature Band 13 2002 S 1 25 a b E Fehr S Gachter Altruistic punishment in humans In Nature Band 415 2002 S 137 140 doi 10 1038 415137a M Milinski D Semmann H J Krambeck Reputation helps solve the tragedy of the commons In Nature 2002 S 424 426 doi 10 1038 415424a M Milinski D Semmann H J Krambeck Donors to charity gain in both indirect reciprocity and political reputation In Proceedings of the Royal Society London Section B Band 269 2002 S 881 883 W Wickler U Seibt Das Prinzip Eigennutz Ursachen und Konsequenzen sozialen Verhaltens dtv 1981 a b John Maynard Smith und George R Price The logic of animal conflict In Nature Band 246 1973 S 15 18 doi 10 1038 246015a0 a b D C Dennett E Pluribus Unum Commentary on Wilson amp Sober Group Selection In Behavioral and Brain Sciences Band 17 1994 S 617 618 B S Low Why Sex Matters A Darwinian Look at Human Behaviour Princeton University Press 2000 a b R Trivers The evolution of reciprocal altruism In Quarterly Review of Biology Band 46 1971 S 189 226 a b c R Trivers Social Evolution Benjamin 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