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Das Konzept der Arterhaltung ist eine biologische Hypothese nach der Individuen einer Art mit einer Anlage oder einem Trieb ausgestattet seien die sie veranlassen wurden ihr Verhalten am Interesse ihrer Art auszurichten um deren Wohlergehen und damit letztlich ihre Existenz zu fordern und zu sichern Das Konzept stammt aus der antiken Philosophie galt in der mittelalterlichen Scholastik als gesichertes Wissen und wurde in die moderne Evolutionstheorie ubernommen Mit dem Aufkommen und dem Erfolg der Synthetischen Evolutionstheorie seit den 1940er Jahren geriet das vorher selten hinterfragte Konzept in Zweifel und gilt seit dem Aufkommen der Theorie der Verwandtenselektion seit Ende der 1960er Jahre als wissenschaftlich uberholt Inhaltsverzeichnis 1 Ursprunge 2 Das Konzept der Arterhaltung in der Evolutionsbiologie 3 Arterhaltung in der klassischen Verhaltensforschung 4 Arterhaltung und nationalsozialistische Ideologie 5 Literatur 6 BelegeUrsprunge BearbeitenDie griechischen Philosophen der Antike dachten bereits daruber nach wie Lebewesen ihre Existenz erhalten konnen Neben dem sinnfalligen und zweckmassigen Bau ihres Korpers schienen ihnen dafur angeborene Triebe eine Erklarung Der Sokrates Schuler Xenophon sagte schon im 4 Jahrhundert vor Christus Dass den Lebewesen der Trieb nach Nachkommenschaft den Muttern der Trieb zur Aufzucht der Jungen und diesen selber heisse Begierde nach Leben und grosse Furcht vor dem Tod eingegeben wurden all das scheinen doch die zweckmassigen Einrichtungen einer Macht zu sein welche planmassig die Existenz von Lebewesen ermoglichte 1 In den Werken von Platon und Aristoteles handelt es sich um Auswirkungen der begehrenden Seele bzw Nahrseele des niedersten der drei Seelenteile Die Gegenuberstellung von zwei Prinzipien des Prinzips der Selbsterhaltung und des Prinzips der Arterhaltung das nicht der direkten Selbsterhaltung dienende aber notwendige Triebe wie etwa den Fortpflanzungstrieb oder die Mutterliebe umfasse war beinahe Allgemeingut der antiken Philosophie und wurde in der Schule der Stoa formalisiert 2 Das antike Gedankengut wurde im Mittelalter rezipiert und fortentwickelt Der Gegensatz Selbsterhaltung conservatio sui oder conservatio individui und Arterhaltung conservatio speciei ist ein gangiger Topos in der scholastischen Literatur Der immens einflussreiche Theologe Thomas von Aquin postuliert in seinem Hauptwerk Summa theologica eine universell beobachtbare Tendenz alles Lebendigen zur Selbsterhaltung und zur Arterhaltung aus der sich ein naturliches Recht darauf ergebe weil dies vom Schopfer selbst angelegt und so gewollt sei Allerdings sollen Menschen anders als Tiere diese Triebe durch ihre Vernunft und Tugenden wie die Massigung temperantia im Zaum halten 3 Albertus Magnus ordnet die Arterhaltung der Selbsterhaltung uber er erklart mit ihrer hohen Stellung das hohe Lustgefuhl das mit der Fortpflanzung verbunden sei 2 Dieser Dualismus aus Selbsterhaltung und Arterhaltung galt als gesichertes Wissen das auch von Denkern der Aufklarung und der fruhen Neuzeit wie Bernard Mandeville oder Gottfried Wilhelm Leibniz aufgenommen und weiter tradiert wurde Immanuel Kant unterscheidet in seinen anthropologischen Schriften drei Triebe Selbsterhaltung Fortpflanzung der Art und den Trieb zur Gemeinschaft in Bezug auf die Naturzwecke schreibt er den alten Dualismus fort So wie die Liebe zum Leben von der Natur zur Erhaltung der Person so ist die Liebe zum Geschlecht von ihr zur Erhaltung der Art bestimmt In der in dieser Zeit neu entstehenden Wissenschaft der Biologie findet sich der Terminus Arterhaltung vermutlich zum ersten Mal im Jahr 1834 in einer Schrift des Botanikers Johann Wilhelm Peter Hubener 2 Der zu seiner Zeit sehr einflussreiche Georg Heinrich Schneider erklart den Arterhaltungstrieb in seinem Werk Der thierische Wille 1880 zu einem der Grundantriebe des Verhaltens und begrundet damit eine besondere Popularitat in Deutschland Noch in den 1920er Jahren werden von nicht biologischen Autoren wie dem Soziologen Franz Oppenheimer der Trieb der Selbsterhaltung und der Arterhaltung als die finalen Grundtriebe des Menschen angefuhrt Das Konzept der Arterhaltung in der Evolutionsbiologie BearbeitenDer Begrunder der Evolutionstheorie Charles Darwin hat sich in seinem Werk etwas zweideutig und missverstandlich zur Arterhaltung als Prinzip oder Antrieb geaussert In Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl The descent of Man ausserst er sich daruber dass die angeborenen sozialen Instinkte vom Menschen wie im Tierreich fur das Wohl der Gemeinschaft gegenuber dem Interesse des einzelnen Individuums erworben worden seien Er zieht dies vor allem auch als Erklarung fur die Evolution der Sozialen Insekten heran die er als eines der schwierigsten Probleme fur seine Theorie einschatzte Damit begrundete er ein Konzept das spater Gruppenselektion genannt wurde 4 Im Gegensatz zu seinem Hauptwerk Uber die Entstehung der Arten legte Darwin hier Wert darauf zu betonen dass auch Altruismus und die noblen moralischen Anlagen der Menschheit durch naturliche Evolution entstanden sein konnen Damit wollte er sich auch vom zweiten Theoriebegrunder Alfred Russel Wallace absetzen 5 Da ein Trieb zur Arterhaltung anderen Individuen derselben Art zugutekommen wurde handelt es sich um einen Spezialfall der Gruppenselektion wobei die begunstigte Gruppe hier die ganze Art ware Durch die Werke der Zoologen und Genetiker J B S Haldane 1932 6 und William D Hamilton 1964 7 wurde fur solches Verhalten das ausschliesslich anderen Individuen zugutekommt der ursprunglich moralphilosophische Terminus Altruismus ubernommen Die Begrunder der synthetischen Evolutionstheorie in den 1930er und 1940er Jahren hielten die Evolution altruistischen Verhaltens durch Gruppenselektion in eng begrenzten Spezialfallen fur moglich 8 9 z B Ronald Aylmer Fisher 1930 fur die Warnfarbung giftiger Insekten die ja nur anderen Individuen als dem gerade gefressenen zugutekommen kann Durch ihre Betonung der Gene und der Genetik lenkten sie aber den Fokus des Interesses weg von der Art und hin zur Population als Einheit der Evolution Populationsgenetik so dass Konzepte zur Erhaltung der Art keine Plausibilitat mehr besassen da fur ihre Ausbildung kein Mechanismus angegeben werden kann Nachdem innerhalb der Evolutionstheorie das Konzept der Gruppenselektion durch Vero Wynne Edwards noch einmal weiter ausgearbeitet worden war gelten Erklarungen der Evolution altruistischen Verhaltens zum Wohle der Art oder einer anderen Gruppe durch klassische gruppenselektive Massnahmen in der Evolutionstheorie seit den Werk von Forschern William D Hamilton 1964 auf das spater andere wie Robert Trivers aufbauten 10 als uberholt George C Williams wies in seinem ausserst einflussreichen Werk Adaptation and Natural Selection 1966 Erklarungen von Adaptationen zum Wohle der Art auch ganz explizit zuruck 11 Die klassische Alternative wurde die vor allem durch William D Hamilton begrundete und spater durch Edward O Wilson und Richard Dawkins auch fur ein nicht fachliches Publikum popularisierte Theorie der Verwandtenselektion kin selection Auch wenn es uber die Verwandtenselektion spater erneut zu wissenschaftlichen Kontroversen gekommen ist wurde dabei ein Konzept der Arterhaltung niemals wieder ernsthaft in Betracht gezogen Arterhaltung in der klassischen Verhaltensforschung BearbeitenAusserhalb der engeren Evolutionsbiologie hielten aber die Begrunder der Ethologie oder vergleichenden Verhaltensforscher wie Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen die klassische Ansicht der Evolution von Verhaltensweisen zum Wohle der Art allerdings noch bis in die 1960er Jahre aufrecht Fur sie stand die evolutionare Anpassung Adaptation des arteigenen Verhaltens im Zentrum des Interesses die sie ahnlich den klassischen Argumenten fur die Anpassung des Korperbaus als einheitlich und typisch fur die jeweilige Art auffassten Als ein bedeutender Vertreter des Konzeptes der Arterhaltung gilt Konrad Lorenz der zeitlebens daran festhielt obwohl ihm die Schwachpunkte des Konzeptes bekannt waren 12 Auch der Zoologe Bernhard Grzimek hat dieses Konzept zeitlebens vertreten und in zahlreichen Publikationen als Erklarung fur soziale und kooperative Verhaltensweisen herangezogen In deutschen Schulbuchern ist es seit etwa Mitte der 1990er Jahre in den Hintergrund getreten Neben Lorenz wurde das Konzept im Rahmen der Erklarung von Verhalten in damals weit verbreiteten popularen Schriften etwa von Desmond Morris und Robert Ardrey auf das menschliche Verhalten bezogen ausserhalb der Fachdebatte popularisiert 13 Im Rahmen der klassischen Verhaltensforschung ratselhafte und paradox erscheinende Verhaltensweisen wie der Infantizid durch Mannchen bei manchen sozial lebenden Saugetieren wie Pavianen oder Lowen sind durch die Theorie der Verwandtenselektion zwanglos erklarbar Ubernimmt zum Beispiel ein Lowenmannchen als dominantes Mannchen ein aus Weibchen und deren Nachkommen bestehendes Rudel durch Vertreiben seines Vorgangers kann es selbst mehr Nachkommen produzieren wenn es zuvor die Nachkommen seines Vorgangers getotet hat da dann die Weibchen fruher wieder trachtig werden Damit kann sich ein solches Verhalten der Mannchen in der Population durchsetzen wenn es genetisch determiniert ist obwohl es fur das Wohl der Art nachteilig ist 14 Arterhaltung und nationalsozialistische Ideologie BearbeitenDer Ausdruck Arterhaltung findet sich als Phrase in Hitlers Propagandaschrift Mein Kampf wo er im Abschnitt Staat und Wirtschaft einmal uber einen Trieb der Arterhaltung als die erste Ursache zur Bildung menschlicher Gemeinschaften redet so dass der Erhaltungswillen der Art und Rasse den Staat aufbaue Die Nationalsozialisten wie auch Hitler personlich waren aber im Grunde desinteressiert an der Evolutionstheorie lediglich Darwins Selektionstheorie vergrobert zum Kampf ums Dasein 15 nahmen sie gern fur ihre sozialdarwinistischen Ansichten in Anspruch Evolutionsbiologen im Dritten Reich waren teilweise Unterstutzer und Anhanger der Nazis insbesondere diejenigen mit Hintergrund in der Anthropologie Auch der Partei sehr nahestehende Forscher wie Gerhard Heberer gehorten aber zu den fruhen Unterstutzern der synthetischen Evolutionstheorie 16 wenn sie auch meist zogerten diese offen auf ideologisch aufgeladene Themen wie die Rassenbiologie anzuwenden 17 Das Konzept der Arterhaltung spielte also ausser in der Propaganda 18 und teilweise im Schulunterricht keine grosse Rolle Der einzige namhafte Theoretiker der das Konzept der Arterhaltung tatsachlich auch wissenschaftlich vertreten hat war Konrad Lorenz 19 der bekanntermassen auch nach dem Krieg bis zu seinem Tode daran festhielt Literatur BearbeitenRichard Dawkins Das egoistische Gen Mit einem Vorwort von Wolfgang Wickler Ins Deutsche ubersetzt von Karin de Sousa Ferreira Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg 1998 ISBN 3 499 19609 3 John R Krebs Nicolas B Davies Einfuhrung in die Verhaltensokologie 3 Auflage Blackwell Berlin Wien 1996 ISBN 3 8263 3046 3 Heinz Ulrich Reyer Von der Arterhaltung zum egoistischen Gen Grundbegriffe und Konzepte der Evolutionstheorie In E Kubli A K Reichardt Hrsg Die moderne Biologie und das Verhaltnis zwischen Natur und Geisteswissenschaft Ernst Klett Schulbuchverlag Stuttgart 1999 S 5 16 uli reyer ch PDF Belege Bearbeiten Xenophon Memorabilia zitiert nach Urs Dierauer Tier und Mensch im Denken der Antike Studien zur Tierpsychologie Anthropologie und Ethik B R Gruner Verlag Amsterdam 1977 ISBN 90 6032 050 6 S 58 a b c Georg Toepfer Historisches Worterbuch der Biologie Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe Band 1 Analogie Ganzheit J B Metzler Stuttgart Weimar 2011 ISBN 978 3 476 02319 3 Kapitel Arterhaltung S 132 140 Maximilian Forschner Thomas von Aquin Beck sche Reihe Denker Verlag C H Beck Munchen 2006 ISBN 3 406 52840 6 Mark E Borrello The rise fall and resurrection of group selection In Endeavour Band 29 Nr 1 2005 S 43 47 doi 10 1016 j endeavour 2004 11 003 Piers J Hale Charles Darwin sexual selection and the evolution of other regarding ethics In BJHS Themes Band 6 2021 S 157 177 doi 10 1017 bjt 2021 5 John B S Haldane Causes of Evolution Longmans Green and Co London New York 1932 S 210 W D Hamilton The genetical evolution of social behaviour I und II In Journal of Theoretical Biology Band 7 1964 S 1 52 Helena Cronin The Ant and the Peacock Altruism and Sexual Selection from Darwin to Today Cambridge University Press 1991 S 253 254 S A Frank Natural selection VII History and interpretation of kin selection theory In Journal of Evolutionary Biology Band 26 2013 S 1151 1184 doi 10 1111 jeb 12131 Jean Baptiste Grodwohl Modeling Social Evolution 1964 1973 Inclusive Fitness Meets Population Structure In Historical Studies in the Natural Sciences Band 47 Nr 1 2017 S 1 41 doi 10 1525 hsns 2017 47 1 1 George C Williams Adaptation and Natural Selection Princeton University Press 1996 ISBN 0 691 02615 7 S 116 Dietmar Zinner Das sogenannte Bose Von Konrad Lorenz zur heutigen verhaltensbiologischen Aggressionsforschung In Jorg Martin Jehle Hrsg Das sogenannte Bose Das Verbrechen aus interdisziplinarer Perspektive Nomos Verlagsgesellschaft Baden Baden 2020 ISBN 978 3 7489 2218 6 S 63 88 Timothy Shanahan The Evolution of Darwinism Cambridge University Press 2004 ISBN 0 521 83413 9 S 258 259 Wolfgang Wickler Prinzip Arterhaltung In Reisenotizen 57 Episoden uber Ansichten Absichten und Hirngespinste Springer Heidelberg 2020 ISBN 978 3 662 61995 7 Kapitel 14 Bei Darwin struggle for existence der Kampf geht auf die deutsche Ubersetzung durch Heinrich Georg Bronn zuruck vgl Rolf Lother Kampf ums Dasein vor bei und nach Darwin In Deutsche Gesellschaft fur Geschichte und Theorie der Biologie Hrsg Annals of the History and Philosophy of Biology Band 15 2012 S 173 194 Thomas Junker Uwe Hossfeld Synthetische Theorie und Deutsche Biologie Einfuhrender Essay In Rainer Bromer Uwe Hossfeld Nicolaas Rupke Hrsg Evolutionsbiologie von Darwin bis heute Verhandlungen zur Geschichte und Theorie der Biologie Band 4 VWB Verlag Berlin 2000 ISBN 3 86135 382 2 Uwe Hossfeld Thomas Junker Anthropologie und synthetischer Darwinismus im Dritten Reich Die Evolution der Organismen 1943 In Anthropologischer Anzeiger Band 61 Nr 1 2003 S 85 114 etwa als Propagandaformel beim SS Funktionar Erich Darre Sittlich ist was der Arterhaltung des deutschen Volkes forderlich ist unsittlich ist was dem entgegensteht In Zucht und Sitte Verlag Blut und Boden 1940 Ute Deichmann Biologists under Hitler aus dem Deutschen ubersetzt von Thomas Dunlap Harvard University Press 1996 ISBN 0 674 07405 X 3 3 The Principle of Species Preservation Arterhaltung Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Arterhaltung amp oldid 235302913