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Als Untertanenprozesse bezeichnen Rechtshistoriker diejenigen Gerichtsverfahren im Heiligen Romischen Reich Deutscher Nation die Untertanen einzelner Reichsstande seit Beginn der Fruhen Neuzeit gegen ihre reichsunmittelbare Landesherrschaft anstrengen konnten Audienz am Reichskammergericht Kupferstich 1750Inhaltsverzeichnis 1 Entstehung und Streitgegenstande 2 Moglichkeiten und Grenzen 3 Bedeutung 4 Literatur 5 Weblinks 6 EinzelbelegeEntstehung und Streitgegenstande BearbeitenIm Zuge der Reichsreform unter Maximilian I hatte der Reichstag zu Worms im Jahr 1495 das mittelalterliche Fehderecht abgeschafft den Ewigen Landfrieden verkundet und als Mittel der friedlichen Konfliktlosung das Reichskammergericht geschaffen Diesem obersten Organ der Rechtsprechung im Reich stellte Konig Maximilian 1498 den Reichshofrat als weitere allein von ihm kontrollierte letzte Instanz zur Seite Der Deutsche Bauernkrieg von 1524 25 verdeutlichte die Notwendigkeit Wege der friedlichen Konfliktlosung zu verbessern So entstand in seinem Gefolge ein eine umfangreiche Bauernrechtsliteratur und 1555 schuf die Reichskammergerichtsordnung auch die materiellen Voraussetzungen dafur dass Untertanen Klage gegen ihre Landesherrschaft erheben konnten Sie hatten nun die Moglichkeit einzeln oder kollektiv an eines der beiden obersten Gerichte zu appellieren wenn sie den Rechtsweg vor den territorialen Gerichten ausgeschopft hatten oder diese die Annahme ihrer Klage verweigerten Bei Kollektivklagen ging es zumeist um Rechtsstreitigkeiten zwischen Dorf oder Stadtgemeinden und ihrer jeweiligen Landesherrschaft etwa um Wald und Weide Mastungs Jagd und Fischereirechte oder um die Rechtmassigkeit von Frondiensten Steuern und Abgaben Klagen von Einzelpersonen richteten sich zumeist gegen Eingriffe der Obrigkeit in tatsachlich oder vermeintlich erworbene Rechte und Privilegien oder gegen Urteile der Territorialgerichte Moglichkeiten und Grenzen BearbeitenNach Titel XLI der Reichskammergerichtsordnung von 1555 wurde das Rechtsmittel der Appellation ausdrucklich auch armen partheien eroffnet die sich die ublichen Prozessgebuhren nicht leisten konnten Ihnen sollten advocaten und procurator zugeordnet und vergebens gedient das heisst Anwalt und Untersuchungsrichter kostenlos zur Verfugung gestellt werden Die Gerichtskosten sollte ein Armer erst dann zahlen wenn er zu besserer vermuglichkeyt keme Von der Klagemoglichkeit wurde reger Gebrauch gemacht Einen Hohepunkt erreichte die Prozesswelle am Reichskammergericht in den 1590er Jahren als jahrlich etwa 700 Klagen eingereicht wurden 1 Um 1600 galt der Untertanenprozess als die alltagliche Form bauerlichen Widerstands gegen obrigkeitliche Massnahmen 2 Dagegen wurden bereits Ende des 16 Jahrhunderts Missbrauchsvorwurfe seitens der Landes und Grundherren laut So beschwerten sich 1586 einzelne Stande des Niederrheinisch Westfalischen Reichskreises dass viele mutwillige untertanen sich wider fugh und recht gegen ir von Gott verordnete obrigkeit ufflehnen und wan sie durch dieselbige obrigkeit ires ungehorsams und frevels halben gestrafft sie alsbalt beschwerliche prozessen am kammergericht und des mehrer teil et falsis narratis ausssprengen d h mit falschen Angaben anstrengen dadurch dan ir mutwill gesteift und gutte polizei nicht voll zu underhalten 3 Die Reichsfursten mussten schon die Tatsache dass es uberhaupt eine Appellationsinstanz jenseits ihrer Zustandigkeit gab als Einschrankung ihrer Souveranitat verstehen Sie versuchten daher vielfach beim Kaiser ein Privilegium de non appellando zu erwirken Als privilegium limitatum beschrankte dieses das Appellationsrecht der Untertanen entweder auf bestimmte Rechtsfalle oder auf solche ab einem gewissen Streitwert Als privilegium illimitatum versperrte es ihnen den Weg zu einem der Reichsgerichte vollstandig es sei denn die Territorialgerichte hatten zuvor die Annahme ihres Falles verweigert Den Kurfursten hatte der Kaiser dieses Privileg bereits in der Goldenen Bulle zugestanden fast alle grosseren Reichsstande erhielten es bis zur Mitte des 17 Jahrhunderts Aber auch sie schufen nun oberste Appellationsgerichtshofe als letzte Instanz Den Bewohnern der kleinen und mittleren Territorien stand der Weg zu den Reichsgerichten weiterhin offen Bedeutung BearbeitenTrotz der Ausnahmen durch das Privilegium de non appellando schuf die Moglichkeit des Untertanenprozesses im romisch deutschen Reich bereits zu einem fruhen Zeitpunkt eine relativ moderne Rechtswegegarantie 4 Zudem wurde die Spruchpraxis des Reichskammergerichts in einer umfangreichen Bauernrechtsliteratur dargestellt zusammengefasst kommentiert und verbreitet Beides trug nach heutiger Expertensicht dazu bei dass es nach dem Bauernkrieg in Deutschland anders als etwa in Frankreich oder England kaum noch zu grosseren Aufstandsbewegungen der Landbevolkerung kam 5 Es bildete sich ein Rechtsbewusstsein aus das nicht in der Fehde sondern in einem nach festen Regularien ausgetragenen Rechtsstreit das letzte Mittel der innerstaatlichen Konfliktbewaltigung und Friedenssicherung sah Dass dem so war zeigt sich an der Haufigkeit mit der die Reichsgerichte in Anspruch genommen wurden Allein das Reichskammergericht wurde in den rund 300 Jahren seines Bestehens ca 80 000 Mal 1 angerufen Dazu kamen die Verfahren vor dem Reichshofrat in Wien von denen ein Grossteil Untertanenprozesse waren Das kaiserliche Gericht in Wien wurde seit der zweiten Halfte des 16 Jahrhunderts von den suddeutschen katholischen Untertanen und Standen bevorzugt da zum einen seine Richterstellen rein katholisch besetzt waren und da es zum anderen in dem Ruf stand schneller effizienter und vor allem haufiger zuungunsten der Landesherren zu entscheiden als das von den Standen mitkontrollierte Reichskammergericht Dieses wurde bereits von den Zeitgenossen wegen seiner Schwerfalligkeit kritisiert zumal sich die Standevertreter oft gegenseitig blockierten Einzelne Verfahren dauerten Jahrzehnte oder gar ein Jahrhundert Die neuere Forschung hat jedoch ergeben dass beide Reichsgerichte in den meisten Fallen relativ zugig entschieden Da das Reichskammergericht paritatisch mit Katholiken und Protestanten besetzt war wurde es ofter als der Reichshofrat von den Protestanten aus dem Norden und Osten des Reichs bemuht Damit trug es nach heutiger Forschungsmeinung zur Integration der seit dem Hochmittelalter reichsfernen Gebiete Niederdeutschlands in das Reich bei Der Historiker Gerhard Oestreich sah in der Schaffung einer Rechtswegegarantie durch den Untertanenprozess auch einen Faktor der die Entstehung eines deutschen Nationalbewusstseins gefordert hat Reichspatriotismus und Kaiserverehrung treffen sich im Bewusstsein des Rechtsschutzes gegen Willkur und Despotismus durch die Reichsgerichte Reichskammergericht und Reichshofrat die uber Religionsfreiheit Auswanderungsrecht Schutz des Eigentums personliche Freiheit soweit sie damals rechtlich bestand Briefgeheimnis und geordnetes Gerichtsverfahren wachten 6 Instanzen wie die Reichsgerichte verdeutlichten den Untertanen also ihre Zugehorigkeit zu einer staatlichen rechtlichen und kulturellen Einheit die das Territorium ihres jeweiligen Landesherrn uberwolbte Literatur BearbeitenJohannes Arndt Der Fall Meier Cordt contra Graf zur Lippe Ein Untertanenprozess vor den Territorial und Reichsgerichten zwischen 1680 und 1720 Schriftenreihe der Gesellschaft fur Reichskammergerichtsforschung 20 Wetzlar 1997 Bernhard Diestelkamp Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Romischen Reiches Deutscher Nation Schriftenreihe der Gesellschaft fur Reichkammergerichtsforschung 1 Wetzlar 1985 Ralf Fetzer Untertanenkonflikte im Ritterstift Odenheim vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende des Alten Reiches Veroffentlichungen der Kommission fur Geschichtliche Landeskunde in Baden Wurttemberg Reihe B Forschungen 150 Stuttgart 2002 Julia Maurer Der Lahrer Prozess 1773 1806 Ein Untertanenprozess vor dem Reichskammergericht Quellen und Forschungen zur hochsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 30 Koln Weimar Wien 1996 Gerhard Oestreich Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des Alten Reiches Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte 11 4 Aufl Munchen 1982 Kurt Perels Die Justizverweigerung im alten Reiche seit 1495 PDF 4 2 MB in Zeitschrift der Savigny Stiftung fur Rechtsgeschichte Germanistische Abteilung 25 1904 S 1 51 Wolfgang Reinhard Geschichte der Staatsgewalt Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfangen bis zur Gegenwart Munchen 1999 besonders S 237 f Rita Sailer Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Halfte des 18 Jahrhunderts Quellen und Forschungen zur hochsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 33 Koln Weimar Wien 1999 Martina Schattkowsky dass die Untertanen ausserhalb Rechtens in nichts willigen und eingehen wollen Gerichtsprozesse in einem sachsischen Rittergut im 16 und 17 Jahrhundert In Jan Peters Hrsg Gutsherrschaft als soziales Modell Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise fruhneuzeitlicher Agrargesellschaften Historische Zeitschrift Beiheft 18 Munchen 1995 S 385 400 Vorschau bei Google Bucher Winfried Schulze Reichstage und Reichssteuern im spaten 16 Jahrhundert PDF 1 9 MB in Zeitschrift fur Historische Forschung 2 1975 S 43 58 Wolfgang Sellert Prozessgrundsatze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens Aalen 1973 Heinz Schilling Hofe und Allianzen Deutsche Geschichte von 1648 bis 1763 Siedler Deutsche Geschichte 5 Berlin 1989 besonders S 114 116 Werner Trossbach Soziale Bewegung und politische Erfahrung Bauerlicher Protest in hessischen Territorien 1648 1806 Sozialgeschichtliche Bibliothek Weingarten 1987 Siegrid Westphal Weshalber wir mit diesem ganz unertraglich gewordenen Weibe mancherlei unangenehme Beschaftigungen haben mussen Ein individueller Untertanenkonflikt zwischen Herzogin Anna Amalia und ihrer Untertanin Maria Elisabeth Dopelin in Zeitschrift des Vereins fur Thuringische Geschichte 50 1996 S 163 200 Weblinks BearbeitenGesellschaft fur Reichskammergerichtsforschung e V in Wetzlar Rita Sailer Untertanenprozesse in zeitenblicke 3 2004 Nr 3 PDF Datei 61 kB Einzelbelege Bearbeiten a b Schilling Hofe und Allianzen S 114 so Georg Schmidt Der Dreissigjahrige Krieg Munchen 1995 S 16 f zit nach Schulze Reichstage S 43 58 siehe hierzu Reinhard Geschichte der Staatsgewalt S 296 297 siehe hierzu Georg Schmidt Der Dreissigjahrige Krieg Munchen 1995 S 16 und Schilling Hofe und Allianzen S 117 Oestreich Verfassungsgeschichte S 43 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Untertanenprozess amp oldid 219588490