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Der Sybel Ficker Streit ist nach einer Auseinandersetzung zwischen den beiden Historikern Heinrich von Sybel 1817 1895 und Julius Ficker 1826 1902 benannt Uber den fachwissenschaftlichen Diskurs im engeren Sinn hinaus war der Streit fur die allgemeine Debatte zwischen den Verfechtern einer grossdeutschen und einer kleindeutsch preussischen Losung der deutschen Frage von grosser Bedeutung Es ging namlich darum zu klaren ob Osterreich zu dem angestrebten deutschen Nationalstaat hinzugehoren sollte oder ob man sich kleindeutsch das heisst auf einen von Preussen dominierten Nationalstaat beschranken wollte Heinrich von SybelJulius FickerHeinrich von Sybel gab den Anstoss zur Kontroverse als er 1859 in einer Rede die mittelalterliche Kaiserpolitik der Italienzuge als unnational verurteilte Julius Ficker widersprach Sybel 1861 in Vorlesungen an der Universitat Innsbruck und rechtfertigte die Kaiser in ihrer universalen und zugleich nationalen Reichspolitik Wahrend Sybel eine kleindeutsch norddeutsch protestantische Geschichtsauffassung 1 vertrat sprach der aus Paderborn geburtige Katholik Ficker aus grossdeutscher Perspektive in die Osterreich nationalstaatlich einbezogen war Inhaltsverzeichnis 1 Hintergrund und Folgen 1 1 Nationalstaat und Imperialismus 1 2 Sybels Standpunkt in Preussen Deutschosterreich und in Hitlers Mein Kampf 2 Literatur 3 Weblinks 4 BelegeHintergrund und Folgen BearbeitenNationalstaat und Imperialismus Bearbeiten Der Streit hat seine Wurzeln in dem sich seit dem 18 Jahrhundert zuspitzenden preussisch osterreichischen Dualismus Aus ihm war Preussen unter Friedrich dem Grossen als weitere europaische Grossmacht hervorgegangen und zwar in Bezug auf Osterreich sogar auf dem gleichen Boden des Heiligen Romischen Reiches So ist Sybels Sichtweise bereits in preussischen Geschichtswerken vom Beginn des 19 Jahrhunderts zu finden Sie setzte sich mit der Bismarckschen Reichsgrundung von 1871 zunachst machtpolitisch durch nachdem im Deutschen Krieg von 1866 und dem Sieg Preussens uber Osterreich bei Koniggratz der Bruch mit Osterreich endgultig vollzogen worden war Der Streit aber dauerte als wissenschaftlicher Burgerkrieg Alfred Dove an verstarkte sich nach dem Ersten Weltkrieg bis in die 1930er Jahre und erreichte seinen Endpunkt mit dem Anschluss Osterreichs im Unternehmen Otto 1938 als aus dem Dritten Reich offiziell Grossdeutschland wurde Auslaufer lassen sich noch bis in die 1950er Jahre beobachten Der Streit um die mittelalterliche Kaiserpolitik nahm deshalb einen so grossen Raum ein weil aus ihr abgelesen werden sollte was im angestrebten ersten deutschen Nationalstaat fur eine Politik zu machen sei und was der Inhalt der nationalen Identitat sein sollte Wilhelm Giesebrecht wie Sybel ein Schuler Rankes war unmittelbarer Ausloser fur Sybels offentliche Stellungnahme In seiner Geschichte der deutschen Kaiserzeit 1855 1888 hatte Giesebrecht geschrieben Uberdies ist die Kaiserzeit die Periode in der unser Volk durch Einheit stark zu seiner hochsten Machtentfaltung gedieh wo es nicht allein frei uber sein eigenes Schicksal verfugte sondern auch anderen Volkern gebot wo der deutsche Mann am meisten in der Welt galt und der deutsche Name den vollsten Klang hatte 2 Sybel entgegnete dass in der mit Otto I beginnenden Kaiserzeit durchweg nationale Interessen an Italien verraten worden seien und die Italienpolitik nur nutzlose Opfer gekostet habe Unter dem Vater Ottos Heinrich I sei das anders gewesen Die Krafte der Nation die sich mit richtigem Instinkte in die grossen Kolonisationen des Ostens ergossen wurden seitdem fur einen stets lockenden und stets tauschenden Machtschimmer im Suden der Alpen vergeudet 3 Bei Sybel wird uber den nationalen Ansatz hinaus imperialistisches Denken deutlich das im neuen Schlagwort vom deutschen Drang nach Osten seinen Ausdruck fand und dessen wichtigste Auspragung in der vom Heiligen Romischen Reich ausgehenden Ostsiedlung gesehen wurde Auf diese bezog sich Sybel Sie hatte aber nicht mit Heinrich I sondern erst im 12 Jahrhundert ohne politische Zielvorgaben grossflachig eingesetzt und zunachst uber die Elbe dann uber die Oder hinausgefuhrt so dass Preussen Sachsen und Schlesien ihr Entstehen dieser Siedlungsbewegung in slawischem Gebiet verdanken Bei der Grundung des Alldeutschen Verbandes 1891 hiess es dann Der alte Drang nach dem Osten soll wiederbelebt werden 4 Friedrich Ratzel gab 1898 mit seinem Lebensraum Konzept dieser geopolitischen Forderung Ruckhalt indem er kontinentale Grenzkolonisation als Alternative zur transatlantischen Kolonisation und zur Umleitung der nach Amerika gehenden Auswandererstrome nach Osteuropa vorschlug Nach dem Ersten Weltkrieg erfuhr mit der Grundung der osteuropaischen Nationalstaaten das Problem der dort lebenden Volksdeutschen zunehmend Aufmerksamkeit und beschaftigte Historiker Geographen und Volkskundler Mit dem Anschluss Osterreichs ans deutsche Reich und der Einverleibung des Sudetenlandes vollzog Adolf Hitler dann mit breitester Zustimmung die ersten ostexpansiven Schritte indem er zunachst die Eigenstaatlichkeit Osterreichs und der Tschechoslowakei aufloste bevor er weiter nach Osten ausgriff Friedrich Schneider dokumentierte und kommentierte aus grossdeutscher Perspektive in 6 Auflagen von 1934 bis 1943 den Streit um die Kaiser und Ostpolitik und separat die Sybel Ficker Kontroverse 1941 In einer Zeit ungeheuerer geschichtlicher Ereignisse sah er wie er 1940 schrieb die Position Sybels in einer gesamtdeutschen Geschichtsbetrachtung als aufgehoben und uberholt an Osterreich ist in das Reich heimgekehrt Grossdeutschland ist entstanden 5 Auch von Albert Brackmann 1871 1952 heisst es dass seine Herausarbeitung der Abhangigkeit von Ost und Italienpolitik den Streit um die Kaiserpolitik des Mittelalters uberwunden habe 6 Julius von Ficker war in dieser Auseinandersetzung in der es um machtpolitische Positionierung in der Gegenwart ging chancenlos geblieben Er hatte in seiner Entgegnung auf Sybel 1861 erlautert dass mit Kategorien wie national oder deutsch die Wirklichkeit des 10 Jahrhunderts nicht beschrieben werden konne Nation sei deshalb ein unangemessener Begriff weil die damaligen Reichsbewohner sich nicht als Deutsche sondern als Angehorige der einzelnen Stamme Sachsen Franken Bayern usw verstanden hatten Gegen Sybel aber auch gegen Giesebrecht setzte er folgende Feststellung Das Reich aber bei dessen Grundung Nationalbewusstsein den Ausschlag gegeben haben soll wurde auch jetzt noch nicht als deutsches bezeichnet 7 Das bestatigt die moderne Auffassung dass fur diese Zeit des mittelalterlichen Reichs der Begriff gilt unter dem es selbst in Erscheinung trat Heiliges Romisches Reich Sybels Standpunkt in Preussen Deutschosterreich und in Hitlers Mein Kampf Bearbeiten Nach Sybels Einschatzung von 1859 ist die erst 1871 vollendete deutsche Nationalstaatsbildung nicht in Anlehnung an das 1806 aufgeloste Kaisertum zu bewerkstelligen So lasst er seine Rede in einer rhetorischen Frage ausklingen Oder liegt sie d i die nationale Sache nicht vielmehr auf gerade der entgegengesetzten Seite wo Heinrich I und Heinrich der Lowe ihre grosse Laufbahn begannen wo die Germanisierung unserer ostlichen Lande den vereinten Kraften aller deutschen Stamme gelang wo Jahrhunderte hindurch in nationalem Glanze die Banner Bayerns die Banner Wittelsbachs voranflogen Wie sehr die Auseinandersetzung um die Kaiserpolitik die Gemuter bewegte zeigte sich vor allen Dingen in Preussen Aber Sybel hat eben doch entscheidend dazu beigetragen dass um mit Ottokar Lorenz 8 zu reden 1902 von dem Augenblick wo in der Literatur selbst in der popularen das deutsche Kaisertum von den preussisch gerichteten Politikern als etwas Abgetanes Fremdes Antinationales in vielem Betracht Schadliches erkannt worden sei es kaum einen Schuler oder Schulmeister gegeben habe der nicht mundlich oder schriftlich versicherte dass es schwerlich Ungluckseligeres und Widerwartigeres in unserer deutschen Vergangenheit gegeben habe als das Kaisertum 9 Aber die Position Sybels fand auch erhebliches Gehor in Deutschosterreich wobei allerdings Otto I als Grunder der Ostmark das spatere Osterreich ausgenommen wurde und pragte z B das Geschichtsbild von Richard Suchenwirth in seiner seit 1934 in jahrlichen Neuauflagen verbreiteten Deutschen Geschichte 10 folgenreicher aber das von Adolf Hitler Wenn wir die politischen Erlebnisse unseres Volkes seit uber tausend Jahren uberprufen und das heute vor uns liegende Endresultat untersuchen so werden wir gestehen mussen dass aus diesem Blutmeer eigentlich nur drei Erscheinungen hervorgegangen sind die wir als bleibende Fruchte klar bestimmter aussenpolitischer und uberhaupt politischer Vorgange ansprechen durfen die hauptsachlich von Bajuwaren betatigte Kolonisation der Ostmark die Erwerbung und Durchdringung des Gebietes ostlich der Elbe und die von den Hohenzollern betatigte Organisation des brandenburgisch preussischen Staates als Vorbild und Kristallisationskern eines neuen Reiches Jene beiden ersten grossen Erfolge unserer Aussenpolitik sind die dauerhaftesten geblieben Und es muss als wahrhaft verhangnisvoll angesehen werden dass unsere deutsche Geschichtsschreibung diese beiden weitaus gewaltigsten und fur die Nachwelt bedeutungsvollsten Leistungen nie richtig zu wurdigen verstand Wir schwarmen auch heute noch von einem Heroismus der unserem Volke Millionen seiner edelsten Bluttrager raubte im Endergebnis jedoch vollkommen unfruchtbar blieb Wir setzen dort an wo man vor sechs Jahrhunderten endete Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Suden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Osten 11 Literatur BearbeitenFriedrich Schneider Die neueren Anschauungen der deutschen Historiker uber die deutsche Kaiserpolitik des Mittelalters und die mit ihr verbundene Ostpolitik Weimar 1940 Friedrich Schneider Hrsg Universalstaat oder Nationalstaat Macht und Ende des Ersten deutschen Reiches Die Streitschriften von Heinrich von Sybel und Julius Ficker zur deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters Innsbruck 1941 Wolfgang Wippermann Der Deutsche Drang nach Osten Ideologie und Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1981 ISBN 3 05 003841 1 Thomas Brechenmacher Wie viel Gegenwart vertragt historisches Urteilen Die Kontroverse zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker uber die Bewertung der Kaiserpolitik des Mittelalters 1859 1862 In Ulrich Muhlack Hrsg Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19 Jahrhundert Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel Bd 5 Akademie Verlag Berlin 2003 ISBN 3 05 003841 1 S 87 112 Rienow A Der Streit zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker In Sascha Foerster et al Hrsg Blumen fur Clio Einfuhrung in Methoden und Theorien der Geschichtswissenschaft aus studentischer Perspektive Tectum Verlag Marburg 2011 ISBN 978 3 8288 2572 7 S 237 269 Weblinks BearbeitenHistorikerstreit im 19 Jahrhundert Die Sybel Ficker Kontroverse Memento vom 9 Juni 2010 im Internet Archive zeitreisen blog de Thomas Brechenmacher Wieviel Gegenwart vertragt historisches Urteilen google books Belege Bearbeiten Friedrich Schneider 1940 S 22 Wilhelm Giesebrecht Geschichte der deutschen Kaiserzeit Band 1 Grundung des Kaisertums Braunschweig 1863 zuerst 1855 S VI Schneider 1941 S 15 Wippermann 1981 S 87 Schneider 1940 S V Bosl Franz Hofmann Biographisches Worterbuch zur deutschen Geschichte Studienausgabe Band 1 Augsburg 1995 S 338 Vgl J v Ficker Das Deutsche Kaiserreich in seinen universalen und nationalen Beziehungen 1861 in Schneider 1941 Ottokar Lorenz Wikisource So der Ficker Schuler Julius Jung vgl Schneider 1941 S XXIX Suchenwirths Wertung der Italienpolitik Ottos I sieht einschliesslich Ehrenrettung gegenuber Sybel so aus Allerdings sind die deutschen Stamme auf diesen Zugen nach dem Suden erst recht zu einer Einheit zusammengewachsen Aber das ware auch gegen die Slawen und Magyaren moglich gewesen und hatte hier dauernden Gewinn gebracht So aber haben wir im Mittelalter den winkenden Siegespreis verscherzt Otto selbst hat ja in beider Hinsicht seinen Mann gestanden und wenn auch die Zukunft nur einen Teil der Verheissungen von 955 erfullte so stehen doch die Ostmark Osterreich und im Grunde auch die spatere Mark Brandenburg auf den Schultern des von diesem Kaiser Errungenen So weist sein Werk uberall weit uber seine Zeit hinaus Richard Suchenwirth Deutsche Geschichte Von der germanischen Vorzeit bis zur Gegenwart Leipzig 1935 S 115 Adolf Hitler Mein Kampf Zweiter Band Die nationalsozialistische Bewegung Munchen 1933 S 733 742 Der letzte Satz ist im Original fett gedruckt und hervorgehoben Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Sybel Ficker Streit amp oldid 214540497