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Ein starker Staat ist ein Staatsmodell 1 das je nach politischem Ziel und Inhalt sehr unterschiedlich konzipiert sein kann Eine allgemeine Abgrenzung des Begriffs zum Modell des totalen Staates ist nicht moglich 2 Unter einem kritischen Vorzeichen wird der Begriff zum Teil auch synonym mit Obrigkeitsstaat verwendet 3 Ideengeschichtlich ist die Idee auf die theoretische Fundierung der Vertretung der besitzburgerlichen Interessen durch Jean Bodin 4 sowie die politische Philosophie von Thomas Hobbes und dessen pessimistische Anthropologie zuruckzufuhren 5 Der engere Bedeutungsgehalt des Begriffs erschliesst sich aus den jeweiligen beschreibenden analytischen und kritischen Charakterisierungen von einzelnen Autoren Bezogen auf Staatsoberhaupter Regierungen oder Bevolkerungen wurde ein Staat dann als stark charakterisiert wenn er souveran 6 autoritar 7 zentralistisch 8 oder auch einheitlich 9 organisiert ist In der Wirtschaft ist die Idee mit dem ordnungspolitischen Konzept des Ordoliberalismus auf das engste verknupft 10 In der Theorie der internationalen Beziehungen wurde das Modell im Neorealismus aufgenommen und in ein Kontrastverhaltnis zu dem des schwachen Staates gesetzt 11 Geschichte BearbeitenIn der zweiten Halfte des 19 Jahrhunderts pladierte der Philosoph Friedrich Nietzsche fur einen hierarchisch organisierten starken Staat in der Form der Aristokratie den er der Dekadenz sowie dem von ihm wahrgenommenen Nihilismus in der modernen Gesellschaft entgegensetzen wollte Konkret zielte sein Interesse dabei auf einheitliche physiognomische Strukturen der staatlichen Organisation um die Moglichkeit der Lenkung des Einzelnen sowie von Gruppen und Verbanden zu realisieren 12 Nietzsche entwarf sein Staatskonzept bewusst als ein Gegenmodell zur modernen Idee der Gleichheit seine Konzeption war mit dem Zuchtungsgedanken einer starkeren Rasse zum Hervorbringen seines Idealbildes des Ubermenschen verbunden 13 Diesen Zuchtungsgedanken entwickelte er aus seiner Idee an eine Erziehungsorganisation die nach dem Prinzip der elitaren Selektion auf das Werden kommender Menschen blickt Nietzsches Organisation der Erziehung war sowohl demokratisch als auch aristokratisch angelegt wie Karl Jaspers spater anmerkte Sie ist demokratisch insofern sie das ganze Volk meint aus allen Schichten auslesen mochte sie ist aristokratisch insofern es ihr auf die Besten ankommt 14 Anders als Hobbes Philosophie des starken Staates begrundete Nietzsche sein Modell indessen nicht auf den pessimistischen anthropologischen Ansatz nach dem von einem ursprunglich egoistisch tyrannischen Machttrieb ausgegangen werden musse Sein Machtkonzept verband er mit der Idee einer aufgeklarten Aufklarung die allerdings ein Vorrecht von wenigen aristokratisch herrschenden Menschen sei 15 In der Zeit der Weimarer Republik engagierten sich Walter Eucken und Alexander Rustow zwischen 1927 und 1932 dafur in der Wirtschaftswissenschaft ein theoretisches Gegengewicht zu der in jener Zeit dominierenden Historische Schule herauszubilden und der Nationalokonomie insgesamt mehr Geltung zu verschaffen Inmitten der Weltwirtschaftskrise hielt Rustow im September 1932 auf der Jahrestagung des Vereins fur Socialpolitik in Dresden einen Vortrag mit dem Titel Freie Wirtschaft starker Staat der neben Euckens Aufsatz Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus als die erste Manifestation des deutschen Neoliberalismus gilt 16 Diesen Liberalismus charakterisierte Rustow in seiner Rede so Der neue Liberalismus jedenfalls der heute vertretbar ist fordert einen starken Staat einen Staat oberhalb der Wirtschaft oberhalb der Interessenten da wo er hingehort 17 Und er erganzte dass sich dieser starke Staat aus der Verstrickung mit den Wirtschaftsinteressen wenn er in sie hineingeraten ist wieder herauslosen konnen musse Denn gerade dieses Sichbesinnen und Sichzuruckziehen des Staates auf sich selber diese Selbstbeschrankung als Grundlage der Selbstbekampfung ist Voraussetzung und Ausdruck seiner Unabhangigkeit und Starke 18 Gekoppelt war diese Idee des starken Staates mit der Vorstellung von staatlichen Eingriffen in Richtung der Marktgesetze 19 Ebenso wie Rustow ging es auch Eucken sowie Wilhelm Ropke um marktkonforme Interventionen und um die Abwehr der Privilegiensuche und Macht von wirtschaftlichen Interessengruppen 20 Der Soziologe Wolfgang Streeck stellt diesem starken Staat einen demokratischen Staat gegenuber Fur Streeck ist ein demokratischer Staat mit dem Neoliberalismus unvereinbar 21 Am 23 November 1932 hielt der Jurist Carl Schmitt der mit Rustow zu diesem Zeitpunkt in regem Kontakt stand einen Vortrag vor Wirtschaftsvertretern im so genannten Langnam Verein mit dem Titel Starker Staat und gesunde Wirtschaft 22 Hier forderte Schmitt in Anlehnung an Rustow der starke Staat solle auf einer freien Wirtschaft basieren und sich im Sinne einer aktiven Entpolitisierung aus nichtstaatlichen Spharen zuruckziehen Sind wir uns uber die grossen Grundlinien klar so erhebt sich die Frage Wie kann man das Ziel einer Unterscheidung von Staat und Wirtschaft heute verwirklichen Immer wieder zeigt sich dasselbe nur ein starker Staat kann entpolitisieren nur ein starker Staat kann offen und wirksam anordnen dass gewisse Angelegenheiten wie Verkehr oder Rundfunk sein Regal sind und von ihm als solche verwaltet werden dass andere Angelegenheiten der wirtschaftlichen Selbstverwaltung zugehoren und alles ubrige der freien Wirtschaft uberlassen wird 23 Literatur BearbeitenThomas Nipperdey 1800 1866 Burgerwelt und starker Staat Munchen 1994 ISBN 3 406 09354 X Einzelnachweise Bearbeiten Steffen Dagger Michael Kambeck Hrsg Politikberatung und Lobbying in Brussel Wiesbaden 2007 S 183 ISBN 3 531 15388 9 Gerold Ambrosius Staat und Wirtschaftsordnung Eine Einfuhrung in Theorie und Geschichte Stuttgart 2001 S 145 ISBN 3 515 06778 7 Daniela Kahn Die Steuerung der Wirtschaft durch Recht im nationalsozialistischen Deutschland Das Beispiel der Reichsgruppe Industrie Frankfurt a M 2006 S 98 f ISBN 3 465 04012 0 Gerhard Wolf Von der Chronik zum Weltbuch Sinn und Anspruch sudwestdeutscher Hauschroniken am Ausgang des Mittelalters Berlin New York 2002 S 114 ISBN 3 11 016805 7 Jurgen Kocka Handbuch der deutschen Geschichte Bd 13 19 Jahrhundert 1806 1918 Das lange 19 Jahrhundert Arbeit Nation und burgerliche Gesellschaft 10 vollig neu bearb Aufl Stuttgart 2001 S 144 ISBN 3 608 60013 2 Richard Saage Demokratietheorien Historischer Prozess theoretische Entwicklung soziotechnische Bedingungen Eine Einfuhrung Wiesbaden 2005 S 74 ISBN 3 531 14722 6 Richard Munch Soziologische Theorie Bd 2 Handlungstheorie Frankfurt a M New York 2004 S 140 ISBN 3 593 37590 7 Heinz Hermann Kruger Cathleen Grunert Hrsg Handbuch Kindheits und Jugendforschung Opladen 2002 S 87 ISBN 3 8100 3292 1 Jan Rohls Geschichte der Ethik 2 umgearb und erg Aufl Tubingen 1999 S 614 ISBN 3 16 146706 X Georg Kohler Urs Marti Konturen der neuen Welt un ordnung Beitrage zu einer Theorie der normativen Prinzipien internationaler Politik Berlin New York 2003 S 181 ISBN 3 11 017756 0 Gerhard Muller Hrsg Theologische Realenzyklopadie De Gruyter Studienbuch Studienausgabe Teil II Berlin New York 2000 S 16 ISBN 3 11 019098 2 Stichwort Politik und Christentum Margareta Mommsen Wer herrscht in Russland Der Kreml und die Schatten der Macht Munchen 2004 S 154 ISBN 3 406 51118 X Markus Kiel Die Zukunft beginnt jetzt Jugendliche in den 90er Jahren Ursachen politisch extremistischen Verhaltens Marburg 2000 S 20 ISBN 3 8288 8090 8 Thomas Heberer Claudia Derichs Hrsg Einfuhrung in die politischen Systeme Ostasiens VR China Hongkong Japan Nordkorea Sudkorea Taiwan 2 aktualisierte und erw Aufl Wiesbaden 2008 S 8 ISBN 3 531 15937 2 Stefan von Hoyningen Huene Religiositat bei rechtsextrem orientierten Jugendlichen Munster Hamburg London 2003 S 28 ISBN 3 8258 6327 1 Horst Dreier Walter Pauly Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus Berlin New York 2001 S 80 ISBN 3 11 017192 9 Ralf Ptak Vom Ordoliberalismus zur sozialen Marktwirtschaft Stationen des Neoliberalismus in Deutschland Opladen 2004 S 291 ISBN 3 8100 4111 4 Uwe Andersen Wichard Woyke Hrsg Handworterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland Opladen 2003 S 560 ISBN 3 8100 3865 2 Ralph Skuban Pflegesicherung in Europa Wiesbaden 2003 S 85 ISBN 3 531 14049 3 Gunther Auth Theorien der internationalen Beziehungen kompakt Munchen Oldenbourg 2008 S 58 ISBN 978 3 486 58821 7 Roger Haussling Nietzsche und die Soziologie Zum Konstrukt des Ubermenschen zu dessen antisoziologischen Implikationen und zur soziologischen Reaktion auf Nietzsches Denken Wurzburg 2000 S 219 f ISBN 3 8260 1928 8 Abschnitt Starker Staat versus nihilistische Gesellschaft Roger Haussling Nietzsche und die Soziologie Zum Konstrukt des Ubermenschen zu dessen antisoziologischen Implikationen und zur soziologischen Reaktion auf Nietzsches Denken Wurzburg 2000 S 226 f Karl Jaspers Nietzsche Einfuhrung in das Verstandnis seines Philosophierens 4 unveranderte Aufl Berlin New York 1981 S 282 ISBN 3 11 008658 1 Bernhard F Taureck Nietzsche und der Faschismus Ein Politikum Leipzig 2000 S 227 ff ISBN 3 379 01687 X Luder Gerken Walter Eucken und sein Werk Ruckblick auf den Vordenker der sozialen Marktwirtschaft Tubingen 2000 S 75 f ISBN 3 16 147503 8 Zitiert in Werner Abelshauser Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945 Munchen 2004 S 95 ISBN 3 406 51094 9 Zitiert in Otto Schlecht Grundlagen und Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft Tubingen 1990 S 8 ISBN 3 16 145684 X Dieter Haselbach Autoritarer Liberalismus und soziale Marktwirtschaft Gesellschaft und Politik im Ordoliberalismus Baden Baden 1991 S 44 ISBN 3 7890 2504 6 Zu Rustow Jan Hegner Ordnungspolitische Konzeption und Einfluss auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland Stuttgart 2000 S 20 ISBN 3 8282 0113 X Zu Eucken Hans Otto Lenel Helmut Groner u a Hrsg Ordo Jahrbuch fur die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft Bd 54 Lucius amp Lucius Stuttgart 2003 S 15 f ISBN 3 8282 0246 2 zu Ropke Karl Peter Sommermann Staatsziele und Staatszielbestimmungen Tubingen 1997 S 160 f ISBN 3 16 146816 3 Wolfgang Streeck Auf den Ruinen der Alten Welt Von der Demokratie zur Marktgesellschaft In Blatter fur deutsche und internationale Politik 12 2012 S 61 72 Abdruck des Aufsatzes in Carl Schmitt Staat Grossraum Nomos Arbeiten aus den Jahren 1916 1969 Hrsg von Gunter Maschke Berlin 1995 S 71 ISBN 3 428 07471 8 Carl Schmitt Staat Grossraum Nomos Arbeiten aus den Jahren 1916 1969 Hrsg von Gunter Maschke Berlin 1995 S 81 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Starker Staat amp oldid 237904065