www.wikidata.de-de.nina.az
Als sokratische Wende wird eine grundlegende Verschiebung des Hauptinteresses der antiken Philosophie bezeichnet eine Zasur die auf das Wirken des griechischen Philosophen Sokrates 469 399 v Chr zuruckgefuhrt wird Die Wende bestand in einer den Quellen zufolge von Sokrates initiierten allgemeinen Abwendung von der Naturphilosophie und Hinwendung zu den menschlichen Angelegenheiten Nach der gangigen Einteilung der Philosophiegeschichte ruckte mit Sokrates die Ethik ins Zentrum des Interesses wahrend sich die vorsokratischen Philosophen vor allem mit Themen der Naturlehre und der Ontologie beschaftigt hatten Inhaltsverzeichnis 1 Quellenbefund 2 Interpretation 3 Literatur 4 AnmerkungenQuellenbefund BearbeitenDirekte zeitgenossische Aussagen daruber dass Sokrates eine allgemeine Abwendung von der Naturphilosophie herbeigefuhrt habe sind nicht uberliefert doch lasst sich der Sachverhalt aus der Geschichte der Sokratik der philosophischen Richtungen die sich auf Sokrates beriefen und aus Mitteilungen spaterer Quellen erschliessen Eine ablehnende Haltung gegenuber dem naturforschenden Fachmann der unnutzes Spezialwissen anhaufe statt sich auf das Gelingen der eigenen Lebensgestaltung zu konzentrieren ist in der gesamten Sokratik festzustellen 1 Nach Angaben Platons des bedeutendsten Schulers des Sokrates fand dieser die damals vorliegenden Ergebnisse der Naturforschung unbefriedigend und sah sich dadurch veranlasst stattdessen seine Erkenntnisbemuhungen auf Fragen der optimalen Lebensgestaltung zu richten Ein Hinweis findet sich in der Apologie des Sokrates der von Platon literarisch gestalteten Fassung der Verteidigungsrede die Sokrates vor dem athenischen Volksgericht hielt als er im Jahr 399 v Chr wegen Asebie Gottlosigkeit und Verfuhrung der Jugend angeklagt war Dort stellt Platons Sokrates fest es werde behauptet dass er Unterirdisches und Himmlisches untersuche Es treffe aber nicht zu dass er solche Naturforschung betreibe Die Haltlosigkeit der Geruchte konnten die vielen Burger bezeugen die bei seinen Diskussionen zugehort hatten Zwar habe er gegen Bestrebungen nutzbares naturkundliches Wissen zu erlangen grundsatzlich nichts einzuwenden doch er selbst sei daran nicht beteiligt Ironische Skepsis gegenuber dem Ziel der Naturbeherrschung ist deutlich erkennbar 2 Ausfuhrlicher ist ein autobiographischer Bericht den Sokrates nach der Schilderung in Platons Dialog Phaidon kurz vor seinem Tod gab Nach dieser Darstellung interessierte sich Sokrates in seiner Jugend stark fur Naturforschung denn er wollte verstehen warum etwas entsteht warum es vergeht und warum es existiert Insbesondere versuchte er ein physiologisches Verstandnis von Wachstum Sinneswahrnehmungen und mentalen Prozessen zu gewinnen Bei diesen Untersuchungen erkannte er aber schliesslich nur das Ausmass der herrschenden Unwissenheit auf diesem Gebiet 3 Viel versprach er sich von der Kosmologie des Anaxagoras denn dieser Denker behauptete der Kosmos sei gemass der Vernunft geordnet und dies wurde bedeuten dass sich die Positionen und Bewegungen der Gestirne teleologisch erklaren liessen Es stellte sich jedoch heraus dass Anaxagoras keineswegs in der Lage war eine schlussige Welterklarung solcher Art zu liefern Wenn es einen Lehrer gabe der die Ursachen und Zusammenhange in der Natur befriedigend darlegen konnte ware er Sokrates sehr gern sein Schuler geworden doch nach seinen Worten hat er niemanden gefunden der daruber Bescheid weiss Daher hat er die Naturspekulation aufgegeben und stattdessen eine zweite Fahrt unternommen das heisst einen nicht naturphilosophischen Ansatz gewahlt 4 Einen weiteren Hinweis gibt Platon in seinem Dialog Phaidros in dem Sokrates ebenfalls als Hauptfigur auftritt Dieses Gesprach spielt sich ausnahmsweise ausserhalb von Sokrates Heimatstadt Athen in der Landschaft ab und dort fuhlt sich der Philosoph als Stadtmensch fremd Um seine Abneigung die Stadt zu verlassen dem Gesprachspartner Phaidros zu erklaren bemerkt Sokrates Ich bin namlich lernbegierig und die Landschaft und die Baume wollen mich nichts lehren wohl aber in der Stadt die Menschen 5 Auch mit Hypothesen zur Historizitat mythischer Erzahlungen will er sich nicht befassen da man dafur viel freie Zeit benotige Ich aber habe fur solche Dinge uberhaupt keine Zeit und der Grund mein Lieber ist folgender Noch kann ich nicht mich selbst erkennen da scheint es mir lacherlich wenn ich hier noch ahnungslos bin mich um Dinge zu kummern die mich nichts angehen 6 In diese Richtung weisen auch Mitteilungen in den Erinnerungen die Xenophon ein anderer Schuler des Sokrates verfasste An einer der einschlagigen Stellen geht es um die Frage in welchem Ausmass man sich als Gebildeter mit fachwissenschaftlichen Spezialkenntnissen vertraut machen soll Nach Xenophons Darstellung war Sokrates der Ansicht man solle sich mit Wissenschaften wie Mathematik und Astronomie nur unter dem Gesichtspunkt ihres Nutzens fur praktische Zwecke befassen die Befriedigung einer daruber hinausreichenden Neugier als Selbstzweck hielt er fur Zeitverschwendung 7 An einer anderen Stelle wird die sokratische Ablehnung der Naturphilosophie scharf ausgedruckt Sokrates forschte so Xenophon nicht wie die meisten anderen danach wie der Kosmos seiner Natur nach beschaffen sei und welchen notwendigen Gesetzen alle Himmelsvorgange unterworfen seien sondern er erklarte die welche sich uber solche Dinge Gedanken machten fur toricht Es sei namlich abwegig sich um solche Fragen zu kummern wenn man noch nicht das notige Verstandnis der weit wichtigeren menschlichen Angelegenheiten erlangt habe Ausserdem seien die spekulativen Behauptungen der Naturphilosophen haltlos Diese Denker bildeten sich zwar viel auf ihr angebliches Wissen ein seien aber untereinander uber die mutmasslichen Sachverhalte uneinig 8 Aristoteles teilte in seiner Metaphysik mit dass sich Sokrates nur mit den ethischen Gegenstanden beschaftigte und gar nicht mit der gesamten Natur 9 Der Feststellung dieses Sachverhalts gab Aristoteles in seiner Schrift Uber die Teile der Lebewesen eine zugespitzte Form indem er konstatierte dass mit Sokrates eine neue Epoche in der Philosophiegeschichte das Zeitalter der Ethik begonnen habe Nach seinen Worten verbesserte sich zwar zur Zeit des Sokrates die Methode der naturwissenschaftlichen Forschung aber die Untersuchung der Naturgegenstande horte auf und die Philosophierenden wandten sich von ihr ab und der fur die Praxis nutzlichen Tugend und der Politik zu 10 Damit wurde erstmals der von der spateren Philosophiegeschichtsschreibung ubernommene Befund formuliert dass Sokrates nicht nur fur sich selbst die Beschaftigung mit Naturforschung ablehnte sondern damit zugleich eine Weichenstellung fur die weitere Entwicklung der Philosophie vornahm 11 Der romische Politiker und Philosoph Marcus Tullius Cicero knupfte an die griechische doxographische Uberlieferung an als er feststellte Sokrates habe als Erster die Philosophie vom Himmel heruntergerufen und in den Stadten angesiedelt und auch in die Hauser hineingefuhrt und sie gezwungen nach dem Leben den Sitten und dem Guten und Schlechten zu forschen 12 In dem Dialog Uber das Gemeinwesen schrieb Cicero Sokrates habe die Beschaftigung mit der Natur verworfen und dies damit begrundet dass der Gegenstand der Naturforschung entweder die menschliche Vernunft ubersteige oder das Leben der Menschen nichts angehe 13 Schliesslich fasste in der romischen Kaiserzeit der Philosophiegeschichtsschreiber Diogenes Laertios die uberlieferte Sichtweise zusammen Mit Sokrates sei die Wendung zur Ethik eingetreten nachdem zuvor die Ausrichtung auf das physische Gebiet geherrscht habe 14 Ausserdem berichtete er Archelaos ein Schuler des Anaxagoras und nach Diogenes Angaben Lehrer des Sokrates sei der letzte Naturphilosoph gewesen und habe zugleich schon die neue Ausrichtung auf die Ethik eingeleitet 15 Interpretation BearbeitenModerne Beurteiler bewerten die sokratische Wende sehr unterschiedlich Oft wird sie wie etwa bei Karl Jaspers als epochale Grosstat gewurdigt in einigen Stellungnahmen erscheint sie jedoch als problematisch oder destruktiv Hegel und Jose Ortega y Gasset beschreiben sie als ambivalente Entwicklung mit fragwurdigen Aspekten Fur Nietzsche bedeutet sie eine verhangnisvolle Fehlorientierung Weitgehende Einigkeit besteht aber in der Einschatzung dass es sich um einen Vorgang von grosster geistesgeschichtlicher Bedeutung handelt 16 Mit der Wende traten Themen in den Vordergrund auf die sich die sokratische Reflexion schwerpunktmassig konzentrierte Dazu zahlte neben Selbsterforschung Selbstdisziplin und Autonomie der Vernunft auch das soziale Verhalten insbesondere das Verhaltnis des Staatsburgers zum Gemeinwesen der Polis Die Betrachtung der politischen Angelegenheiten altgriechisch Politika Politika davon deutsch Politik wurde dank dem sokratischen Impuls ein zentrales Anliegen der antiken Philosophie Diese Entwicklung beleuchtete der Philosoph Heinrich Meier in seiner im Februar 2000 gehaltenen Munchener Antrittsvorlesung Nach Meiers Ausfuhrungen ist zwischen dem relativ jungen vorsokratischen und dem spaten reifen Sokrates zu unterscheiden Der fruhe Sokrates philosophiert noch ohne politische Reflexion und Verantwortung seinem Wissensdurst folgend denkt er uber Natur Sprache und Logik nach Als Aussenseiter missachtet er Autoritat Tradition und die vitalen Bedurfnisse der Gesellschaft und nimmt keine Rucksicht auf die Interessen des Gemeinwesens an dessen Rand er sich eingerichtet hat obwohl er und seine Freunde doch vom Gemeinwesen abhangen Diese sozialen Defizite werden von dem Komodiendichter Aristophanes in der 423 v Chr aufgefuhrten Komodie Die Wolken aufs Korn genommen Nach einem Reifungsprozess vollzieht Sokrates aber spater in fortgeschrittenem Alter die welthistorische Wendung zur politischen Philosophie Darunter versteht Meier eine Philosophie die in der Sphare des Politischen nach dem Richtigen fragt und deren Gegenstand die menschlichen Dinge im umfassenden Sinne sind Solches Philosophieren ist immer auch politisches Handeln von Philosophen und die politische Philosophie ist der Ort der Selbsterkenntnis des Philosophen Der Urheber dieser Wende zur Politik ist der Sokrates den Platon und Xenophon verewigt haben Ob es sich dabei tatsachlich um den historischen Sokrates handelt oder eher um eine von dessen Schulern idealisierte Figur lasst Meier offen 17 Literatur BearbeitenHeinrich Meier Warum Politische Philosophie Metzler Stuttgart Weimar 2000 ISBN 3 476 01802 4 Anmerkungen Bearbeiten Siehe dazu Wolfgang Kullmann Aristoteles und die moderne Wissenschaft Stuttgart 1998 S 43 Platon Apologie 19b d Vgl C David C Reeve Socrates in the Apology Indianapolis 1989 S 14 21 Ernst Heitsch Platon Apologie des Sokrates Ubersetzung und Kommentar Gottingen 2002 S 63 66 Platon Phaidon 96a 97b Platon Phaidon 97b 99d Vgl zur Darstellung in diesem Dialog Theodor Ebert Platon Phaidon Ubersetzung und Kommentar Gottingen 2004 S 339 349 Platon Phaidros 230d Platon Phaidros 229b 230a Xenophon Erinnerungen an Sokrates 4 7 Xenophon Erinnerungen an Sokrates 1 11 16 Aristoteles Metaphysik 987b Aristoteles Uber die Teile der Lebewesen 642a Klaus Doring Sokrates In Hellmut Flashar Hrsg Grundriss der Geschichte der Philosophie Die Philosophie der Antike Band 2 1 Basel 1998 S 141 178 hier 167 Cicero Tusculanae disputationes 5 10 Cicero De re publica 1 15 Diogenes Laertios Leben und Meinungen beruhmter Philosophen 1 18 Diogenes Laertios Leben und Meinungen beruhmter Philosophen 2 16 Eine umfangreiche Zusammenstellung zahlreicher neuzeitlicher Einschatzungen bietet Herbert Spiegelberg Hrsg The Socratic Enigma Indianapolis 1964 S 67 310 Heinrich Meier Warum Politische Philosophie Stuttgart Weimar 2000 S 9 19 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Sokratische Wende amp oldid 236133236