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Der Rechtsschutz bei uberlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ist Gegenstand des 2011 eingefuhrten 17 Titels im deutschen Gerichtsverfassungsgesetz GVG der den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens und eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens fur den Fall der unangemessen langen Verfahrensdauer unter anderem das Recht auf finanzielle Entschadigung einraumt Die Regelungen die Folge mehrerer Entscheidungen des Europaischen Gerichtshofs fur Menschenrechte EGMR sind gelten fur alle Prozessordnungen Zentrale Voraussetzung ist dass die Dauer eines Gerichtsverfahrens oder ein strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens unangemessen lang ist Wann das der Fall ist ist gesetzlich nicht definiert sondern ist nach den Umstanden des Einzelfalls zu beurteilen Die Bestimmungen gewahren den Prozessbeteiligten eines uberlangen Verfahrens eine finanzielle Entschadigung die in einem gesonderten Gerichtsverfahren einzuklagen ist BasisdatenTitel Gesetz uber den Rechts schutz bei uber langen Gerichts verfahren und straf recht lichen Ermitt lungs verfahrenAbkurzung UberlVfRSchG nicht amtl Art Bundesgesetz Deutschland Geltungsbereich Bundesrepublik DeutschlandErlassen aufgrund von Art 74 Abs 1 Nr 1 GGRechtsmaterie Prozessrecht Deutschland Erlassen am 24 November 2011 BGBl I S 2302 Inkrafttreten am 3 Dezember 2011GESTA C052Weblink Text des GesetzesBitte den Hinweis zur geltenden Gesetzesfassung beachten Im Wege der Sollicitatur konnte das Reichskammergericht um Verfahrensbeschleunigung ersucht werden Inhaltsverzeichnis 1 Hintergrund 1 1 Ausgangslage 1 2 Verfassungsrechtliche Lage 1 3 Rechtslage in Deutschland bis 2011 2 Schaffung einer gesetzlichen Regelung 2 1 Zielkonflikte bei einer Neuregelung 2 2 Gesetzgebungsverfahren 3 Struktur 4 Regelungsinhalt 5 Anwendungsbereich 5 1 Gegenstandlicher Anwendungsbereich 5 2 Zeitlicher Anwendungsbereich 5 3 Sonderregelungen 5 3 1 Sonderregelung fur Strafverfahren 5 3 2 Sonderregelung fur Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 6 Unangemessene Verfahrensdauer 7 Entschadigungsanspruch 7 1 Voraussetzungen 7 2 Rechtsfolge Entschadigung 7 2 1 Immaterieller Schaden 7 2 2 Materieller Schaden 8 Entschadigungsklage 9 Evaluation des Bundestages 10 Bewertung und Kritik 11 Literatur 12 Weblinks 13 EinzelnachweiseHintergrund BearbeitenAusgangslage Bearbeiten Der Rechtsschutz bei uberlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren betrifft Falle in denen eine Partei ein Gerichtsverfahren anhangig gemacht hat z B eine Forderung einklagt das angerufene Gericht sich aber nicht in angemessener Zeit mit der Sache befasst bzw keine Entscheidung in der Sache herbeifuhrt Hier kann das Bedurfnis entstehen das Gericht zur Forderung des Verfahrens und zur Herbeifuhrung einer Entscheidung zu bewegen Denkbar ist auch dass einer Partei oder beiden als Folge der Verzogerung der Entscheidung ein wirtschaftlicher oder immaterieller Schaden entsteht In diesem Fall entsteht das Bedurfnis nach Entschadigung Eine vergleichbare Konstellation kann sich bei einem uberlangen strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ergeben Verfassungsrechtliche Lage Bearbeiten Art 19 Abs 4 GG enthalt in Satz 1 eine Rechtsschutzgarantie Danach muss gegen jede auf die offentliche Gewalt zuruckzufuhrende Rechtsverletzung der Rechtsweg offenstehen Zum Grundsatz der Effektivitat des Rechtsschutzes gehort nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auch dass rechtzeitig innerhalb angemessener Zeit eine abschliessende gerichtliche Entscheidung vorliegen muss 1 Art 19 Abs 4 GG enthalt auch einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber Er muss diesen Grundsatz bei der Ausgestaltung der Gerichtsorganisation und des Prozessrechts berucksichtigen Einen vergleichbaren Ansatz enthalt Art 6 Abs 1 EMRK der in Deutschland den Rang eines einfachen Gesetzes hat Danach hat jede Person das Recht dass uber Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Anspruche und Verpflichtungen oder uber eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhangigen und unparteiischen auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren offentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird Rechtslage in Deutschland bis 2011 Bearbeiten Bis 2011 gab es im deutschen Rechtssystem keine ausdruckliche Regelung mit der Beteiligte eines Gerichts oder Ermittlungsverfahrens eine Beschleunigung erwirken oder eine Entschadigung erreichen konnten Moglich waren lediglich indirekte oder nachrangige Schritte Hierzu gehorten die gesetzlich nicht geregelte durch Richterrecht entwickelte Untatigkeitsbeschwerde die Gegenvorstellung die Anregung und die Dienstaufsichtsbeschwerde die Verfassungsbeschwerde mit der eine Verletzung von Art 19 GG geltend gemacht werden kann und die Geltendmachung von Amtshaftungsanspruchen die in diesem konkreten Aspekt gemass 839 Abs 2 Satz 2 BGB nicht vom Richterprivileg ausgeschlossen werden Diese Moglichkeiten hatten und haben nur begrenzte Folgen Die Untatigkeits und die Verfassungsbeschwerde sind jeweils auf die blosse gerichtliche Feststellung der Untatigkeit gerichtet losen aber keine unmittelbaren Folgen fur das Prozessgericht aus das den Rechtsstreit verzogernd behandelt Die Dienstaufsichtsbeschwerde ist zudem eine blosse Massnahme der Personalaufsicht Amtshaftungsanspruche sind nachrangig sie folgen ublicherweise erst nach dem Abschluss des verzogerten Ausgangsprozesses Der EGMR hat in den vergangenen Jahren in mehreren Entscheidungen die uberlange Dauer von Gerichtsverfahren in Deutschland gerugt und zugleich bemangelt dass die bestehenden Moglichkeiten sich gegen ein uberlanges Verfahren zu wehren ineffektiv sind 2 3 Schaffung einer gesetzlichen Regelung BearbeitenAnknupfend an diese Rechtsprechung entstand der Auftrag an den gemass Art 74 Abs 1 Nr 1 GG zustandigen Bundesgesetzgeber eine Regelung zu schaffen die Prozessbeteiligten die Moglichkeit gibt eine Beschleunigung und ggf auch eine Entschadigung zu erwirken Zielkonflikte bei einer Neuregelung Bearbeiten Bei der Konzeption einer Regelung musste der Gesetzgeber das Spannungsfeld zwischen der Garantie eines effektiven Rechtsschutzes einerseits und der ebenfalls verfassungsrechtlich verankerten richterlichen Unabhangigkeit Art 97 Abs 1 GG anderseits beachten Die richterliche Unabhangigkeit bezieht sich neben der Entscheidung uber die Sache selbst auch auf alle die Entscheidung vorbereitenden Massnahmen einschliesslich der Terminierung und der Reihenfolge in der anhangige Klagen behandelt werden 4 Daraus ergibt sich dass eine Uberprufbarkeit der Verfahrensgestaltung grundsatzlich gewahrleistet sein muss andererseits aber eine Regelung fester Erledigungsfristen unzulassig ist Gesetzgebungsverfahren Bearbeiten Im Fruhjahr 2010 stellte die damalige Bundesjustizministerin Leutheusser Schnarrenberger einen Gesetzentwurf 5 vor der den Rechtsschutz bei uberlangen Gerichtsverfahren verbessern sollte 6 Die Bundesregierung leitete am 3 September 2010 den Entwurf eines Gesetzes uber den Rechtsschutz bei uberlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gemass Art 76 Abs 2 S 1 GG dem Bundesrat zu 7 Rechtsausschuss Finanzausschuss und Ausschuss fur Innere Angelegenheiten begrussten den Gesetzentwurf in Stellungnahmen grundsatzlich und schlugen zudem verschiedene Anderungen des Entwurfes vor 8 Der Bundesrat nahm in seiner Sitzung am 15 Oktober 2010 gemass Art 76 Abs 2 S 2 GG zum Entwurf Stellung Anschliessend brachte die Bundesregierung den Gesetzesentwurf in den Bundestag ein 9 der ihn am 20 Januar 2011 an den Rechts und den Innenausschuss uberwies 10 Der Rechtsausschuss fuhrte am 23 Marz 2011 eine offentliche Anhorung durch 11 Beide Ausschusse behandelten den Gesetzentwurf am 25 Mai 2011 sowie am 28 September 2011 im Rechtsausschuss lagen zudem mehrere Anderungsantrage 17 6 80 17 6 100 vor Der Rechtsausschuss empfahl mit den Stimmen von CDU CSU FDP und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Stimmenthaltung der Fraktion Bundnis 90 Die Grunen den Gesetzesentwurf mit Anderungen anzunehmen 12 13 Der Bundestag hat den Gesetzentwurf am 29 September 2011 in zweiter und dritter Lesung abschliessend behandelt und sowohl den Gesetzentwurf mit den vom Rechtsausschuss empfohlenen Anderungen 14 als auch die vom Rechtsausschuss empfohlene Entschliessung 15 angenommen Der Bundesrat stimmte in seiner 888 Sitzung am 14 Oktober 2011 dem zustimmungsbedurftigen Gesetz zu 16 Einer Empfehlung des Rechtsausschusses 17 den Vermittlungsausschuss anzurufen ist der Bundesrat somit nicht gefolgt Der Rechtsausschuss hatte bemangelt dass der Gesetzentwurf wesentliche Forderungen des Bundesrates nicht berucksichtigt habe So sei die Beweislastumkehr des 198 Abs 2 S 1 GVG zu streichen Eine Entschadigungsklage solle zudem erst nach Abschluss des laufenden Verfahrens und nicht bereits sechs Monate nach Erhebung der Verzogerungsruge erhoben werden konnen um weitere Verzogerungen des laufenden Verfahrens zu vermeiden Vorschau des Bundesrates vom 11 Oktober 2011 auf seine 888 Sitzung Memento vom 14 Oktober 2011 im Internet Archive Das Gesetz wurde am 24 November 2011 ausgefertigt und am 2 Dezember 2011 im Bundesgesetzblatt verkundet Struktur BearbeitenDer Rechtsschutz bei uberlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ist gerichtsbarkeitsubergreifend in den 198 ff GVG geregelt Er gilt teilweise uber Verweisungsnormen 173 VwGO 9 ArbGG 202 SGG in allen Verfahrensordnungen Regelungsinhalt BearbeitenDas Gesetz sieht eine Kombination aus vorbeugendem Rechtsschutz Verzogerungsruge und kompensatorischem Rechtsschutz Entschadigungsanspruch vor Letzterer baut auf ersterem auf Von zentraler Bedeutung ist der in 198 Abs 1 Satz 1 GVG geregelte Entschadigungsanspruch Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet wird angemessen entschadigt Eine Klage allein auf Feststellung der unangemessenen Dauer ist dagegen unzulassig 18 Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umstanden des Einzelfalles insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter Anwendungsbereich BearbeitenGegenstandlicher Anwendungsbereich Bearbeiten Nach der Legaldefinition des 198 Abs 6 Nr 1 GVG gelten die Rechtsschutzbestimmungen fur jedes gerichtliche Verfahren von der Einleitung bis zum rechtskraftigen Abschluss einschliesslich eines Verfahrens auf Gewahrung vorlaufigen Rechtsschutzes und zur Bewilligung von Prozess oder Verfahrenskostenhilfe Die Bestimmungen gelten demnach fur Hauptsacheverfahren Antrage auf Prozesskostenhilfe Kostengrundentscheidungen Kostenfestsetzungsverfahren Antrage auf Beiladung Ablehnungsgesuche Entschadigungs oder Vergutungsantrage von Sachverstandigen Zeugen usw Antrage auf Aussetzen Ruhen Trennung oder Verbindung selbstandiges Beweissicherungsverfahren 19 Antrage auf Urteils oder Tatbestandsberichtigung und Erinnerungsverfahren 20 Ausgenommen ist allerdings das Insolvenzverfahren nach seiner Eroffnung Zeitlicher Anwendungsbereich Bearbeiten Erfasst sind alle Verfahrensstadien von der Erhebung bis zum Eintritt von Rechtskraft Auch die verzogerte Eintragung der Klage kann mit der Verzogerungsruge befordert werden Erfasst ist auch der Zeitraum zwischen Verkundung der Entscheidung und dem Absetzen in schriftlicher Form bzw der Zustellung der Entscheidung 21 Sonderregelungen Bearbeiten Sonderregelung fur Strafverfahren Bearbeiten Fur Strafverfahren bestanden bereits bisher differenzierte Moglichkeiten eine rechtsstaatswidrige uberlange Dauer sowohl des Ermittlungs als auch des Hauptverfahrens auszugleichen Ein solcher Ausgleich kann etwa durch Berucksichtigung der Verzogerung im Rahmen der Strafzumessung oder sogar durch Einstellung des Verfahrens erfolgen Die derartige Berucksichtigung einer uberlangen Verfahrensdauer soll als ausreichende Wiedergutmachung auf andere Weise im Sinne des 198 Abs 2 Satz 2 GVG 199 Abs 3 GVG gelten Sonderregelung fur Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht Bearbeiten Art 2 des Gesetzes uber den Rechtsschutz bei uberlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren enthalt mehrere Anderungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes Fur Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht wird mit der Verzogerungsbeschwerde 97a ff BVerfGG eine neue Verfahrensart eingefuhrt Uber Entschadigung und Wiedergutmachung wegen unangemessen langer Verfahrensdauer wird auf Grund dieser Verzogerungsbeschwerde entschieden 97b Abs 1 S 1 BVerfGG Die Erhebung einer Verzogerungsbeschwerde setzt ebenfalls eine Verzogerungsruge voraus 97b Abs 1 S 2 BVerfGG Zur Entscheidung uber die Verzogerungsbeschwerde ist eine mit vier Verfassungsrichtern besetzte Beschwerdekammer zustandig 97c Abs 1 BVerfGG 22 In der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts gab es bisher nur eine erfolgreiche Verzogerungsbeschwerde im dortigen Fall konnte das Bundesverfassungsgericht funf Jahre lang nicht klaren ob der Erste oder der Zweite Senat fur die Verfassungsbeschwerde zustandig ist sodass der Beschwerdefuhrerin eine Entschadigung von 3000 Euro zugesprochen wurde 23 Eine daruber hinaus gehende Amtshaftungsklage vor dem Landgericht Karlsruhe endete in einem Vergleich in dem sich das Gericht verpflichtete der Beschwerdefuhrerin weitere 2500 Euro zu zahlen 24 Unangemessene Verfahrensdauer BearbeitenDer Begriff der unangemessenen Dauer ist von zentraler Bedeutung fur den Entschadigungsanspruch Die unangemessene Dauer ist nicht nur eine grundsatzliche Voraussetzung fur den Entschadigungsanspruch sondern auch Grundlage fur die konkrete Hohe des Entschadigungsanspruchs Das Gesetz enthalt zur unangemessenen Dauer keine Legaldefinition und keine konkrete zeitliche Vorgaben es bietet in 198 Abs 1 Satz 2 GVG nur einzelne Kriterien wie die tatsachliche oder rechtliche Schwierigkeit der Sache die Bedeutung des Verfahrens das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Verhalten Dritter In der Rechtsprechung ist anerkannt dass es keine festen Zeit Grenzen gibt sondern jedes Verfahren einzeln betrachtet werden muss einzelne Entscheidungen gehen aber von einer unangemessenen Dauer aus wenn das Gericht 12 Monate lang untatig gewesen ist 25 Bei der Beurteilung im Konkreten spielt auch die Frage eine Rolle ob ein Sachverstandigengutachten eingeholt oder sonst umfanglich Beweis erhoben werden muss Auch ein zusatzlicher Zeitaufwand fur die richterliche Bemuhung das Ausgangsverfahren im Vergleichswege zu beenden Ob dabei auch die Sinnhaftigkeit richterlicher Entscheidungen im Ausgangsverfahren uberpruft werden darf ist umstritten Insgesamt ist die Rechtsprechung zu dieser Frage auch drei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes noch uneinheitlich Entschadigungsanspruch BearbeitenDauert ein gerichtliches Verfahren oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren unangemessen lange so wird der Beteiligte angemessen entschadigt Voraussetzungen Bearbeiten In verfahrensrechtlicher Hinsicht setzt das voraus dass der Betroffene im Ausgangsverfahren eine Verzogerungsruge erhoben hat Sie ist kein Rechtsbehelf 26 sondern lediglich eine Anregung das Verfahren zu beschleunigen Die Verzogerungsruge ist an das Gericht zu richten das das Ausgangsverfahren verzogernd bearbeitet nicht dagegen an das Gericht das spater uber eine Entschadigung zu befinden hat Rechtsfolge Entschadigung Bearbeiten Eine unangemessene Verfahrensdauer fuhrt zu einem Anspruch auf angemessene Entschadigung Hierbei sind immaterielle und materielle Schaden zu ersetzen Immaterieller Schaden Bearbeiten 198 Abs 2 Satz 1 GVG vermutet unwiderleglich dass eine unangemessen lange Verfahrensdauer zu einem immateriellen Schaden fuhrt Das gilt nach dem Willen des Gesetzgebers unabhangig davon ob derjenige der sich auf die Verzogerung beruft im Ausgangsverfahren gewonnen hat oder nicht Auch der der verliert hat ein Recht darauf in angemessener Zeit zu wissen woran er ist Nach 198 Abs 2 Satz 3 GVG wird der immaterielle Schaden mit 1200 Euro fur jedes Jahr der Verzogerung entschadigt Ist der Betrag gemass Satz 3 nach den Umstanden des Einzelfalles unbillig kann das Gericht einen hoheren oder niedrigeren Betrag festsetzen Fur Zeitraume unter einem Jahr kann monats wochen oder tageweise abgerechnet werden 27 Eine Begrenzung des Ersatzanspruchs auf Gegenstandswert des Ausgangsverfahrens erfolgt nicht d h die Hohe der Entschadigung hangt nicht von dem Streitwert des Ausgangsverfahrens ab 28 Die Entschadigung wegen immaterieller Schaden darf nach einem Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts bei Sozialleistungen nicht als Einkommen berucksichtigt werden sie steht insoweit einer Schmerzensgeldzahlung gleich 29 Materieller Schaden Bearbeiten Soweit daruber hinaus ein konkret nachweisbarer materieller Schaden entstanden ist kann auch er ersetzt werden Das gilt beispielsweise fur Fahrtkosten 30 Entschadigungsklage BearbeitenDer Entschadigungsanspruch ist nicht im Ausgangsverfahren sondern mit einer eigenstandigen Entschadigungsklage geltend zu machen 201 GVG Zustandig dafur ist das jeweilige Obergericht unabhangig davon ob das verzogerte Ausgangsverfahren ein erst oder zweitinstanzliches Verfahren war Die Entschadigungsklage kann fruhestens sechs Monate nach Erhebung der Verzogerungsruge und spatestens sechs Monate nach der Erledigung des Ausgangsverfahrens erhoben werden 198 Abs 5 Satz 2 GVG Richtiger Klagegegner ist gemass 200 GVG die Bundesrepublik Deutschland fur Verzogerungen bei den Bundesgerichten in allen anderen Fallen ist es das jeweilige Bundesland Besonderheiten gelten fur Verfahrensverzogerungen an gemeinsamen Gerichten Massgeblich ist hier grundsatzlich das Land gegen dessen Verwaltungshandeln sich der spatere Entschadigungsklager im Ausgangsverfahren gewehrt hatte 31 Ob die Hohe der verlangten Entschadigung im Klageantrag zur Entschadigungsklage zu beziffern ist ist in der Rechtsprechung umstritten 32 Evaluation des Bundestages BearbeitenDie Bundesregierung hat einer Empfehlung des Bundestages folgend zwei Jahre nach dem Inkrafttreten des Gesetzes eine Evaluation vorgenommen Der Evaluationsbericht 33 umfasst die Zeit vom Inkrafttreten des Gesetzes bis zum 31 Dezember 2013 Die fur den Evaluationszeitraum erhobenen Daten zeigen dass uberlange Verfahren in erster Linie ein Problem der Sozialgerichtsbarkeit sind Hier sind 50 Prozent mehr Verzogerungsrugen erhoben und dreimal mehr Entschadigungsklagen anhangig gemacht worden als in allen anderen Gerichtsbarkeiten zusammen 34 Allerdings waren die Erfolgsquoten der Entschadigungsklagen gering gleiches gilt fur die gezahlten Entschadigungen Fur den Zeitraum vom Dezember 2011 bis zum Dezember 2013 ergeben sich danach folgende Werte Gerichtsbarkeit Entschadigungsklagen Erfolgsquote Entschadigungssumme Summe ggf gerundet Zivilgerichtsbarkeit 30 68 54 400 Strafgerichtsbarkeit 44 44 7 400 Verwaltungsgerichtsbarkeit 58 06 20 243 Finanzgerichtsbarkeit 15 38 4 300 Sozialgerichtsbarkeit 13 23 96 260 In der Arbeitsgerichtsbarkeit wurde lediglich uber eine Entschadigungsklage entschieden sie war erfolgreich Bewertung und Kritik BearbeitenDer EGMR sieht das Verfahren nach 198 ff GVG als wirksame Beschwerde i S d Art 13 EMRK an 35 und lasst seit dem Inkrafttreten der Bestimmungen nur noch in Ausnahmefallen s bspw Nr 62198 11 Individualbeschwerden wegen uberlanger Verfahrensdauer zu In der rechtswissenschaftlichen Literatur werden die Regeln der 198 ff GVG teilweise als unzureichend kritisiert Anknupfungspunkt der Kritik ist in erster Linie die Unbestimmtheit des Begriffs der unangemessenen Dauer 36 Die Bundesrechtsanwaltskammer kritisiert in einer Stellungnahme aus Marz 2014 Unklarheiten bei der Rechtsfolge insbesondere im Verhaltnis von Entschadigung zur Wiedergutmachung auf sonstige Weise 37 Die Verteilung der Zustandigkeiten auf alle Gerichtsbarkeiten wird kritisiert Sie fuhre dazu dass sich hochstrichterliche Rechtsprechung zu den 198 ff GVG nur schwerfallig und nicht vollstandig homogen entwickle 35 Der Bund deutscher Sozialrichter kritisiert den Rechtsschutz bei uberlangen Gerichtsverfahren in vielfaltiger Weise 38 Die Entschadigungsverfahren fuhren zu einer zusatzlichen Belastung fur die Gerichte Allein im Jahr 2013 gingen 166 Entschadigungsklagen beim Landessozialgericht Nordrhein Westfalen ein Verfahren werden dadurch nicht schneller sondern eher noch langsamer bearbeitet weil Richterstellen fur die Bearbeitung der Entschadigungsklagen eingesetzt werden mussen die dann an anderer Stelle fehlen Dadurch dass nicht nur das Hauptsacheverfahren sondern auch Nebenforderungen wie z B Richterablehnungen oder Anhorungsrugen Gegenstand einer Entschadigungsklage sein konnen konnen auf ein Hauptsacheverfahren viele Entschadigungsverfahren fallen Auch das Entschadigungsverfahren selbst kann Gegenstand einer Entschadigungsklage sein es droht so eine endlose nie aufhorende Kette an Entschadigungsverfahren Zwar hat der Gesetzgeber entschieden dass das Entschadigungsverfahren grundsatzlich in allen Gerichtsbarkeiten kostenpflichtig ist und von der Zahlung eines Kostenvorschusses abhangig ist allerdings ist die konkrete Umsetzung dieser Regelung in den einzelnen Gerichtsbarkeiten teilweise unklar Insbesondere stellt sich die Frage wie vorgegangen werden muss wenn in einem Verfahren das kein zivilgerichtliches Verfahren ist der Kostenvorschuss nicht gezahlt wird da entsprechende Regelungen fehlen Gefordert wird u a die Einfuhrung des Anwaltszwangs fur Entschadigungsverfahren auch in der Sozialgerichtsbarkeit Literatur BearbeitenGesamtdarstellungenPeter Link Tomas van Dorp Rechtsschutz bei uberlangen Gerichtsverfahren Beck Munchen 2012 ISBN 978 3 406 63633 2 Martin Marx Werner Roderfeld Rechtsschutz bei uberlangen Gerichts und Ermittlungsverfahren Nomos Baden Baden 2013 ISBN 978 3 8329 7805 1GesetzgebungsverfahrenStephan Beukelmann Gesetz uber den Rechtsschutz bei uberlangen Verfahren In NJW Spezial 2010 Heft 20 S 632 633 Franz Josef Duwell Gesetzentwurf zum Rechtsschutz bei uberlangen Gerichtsverfahren In Fachanwalt Arbeitsrecht FA 2010 S 202 205 Thomas Hildebrandt Natalie Klara Kaestner Richter und Schiedsrichterhaftung wegen uberlanger Verfahrensdauer In Baurecht BauR ISSN 0340 7489 2010 S 2017 2024 Annemarie Matusche Beckmann Patrizia Kumpf Rechtsschutz bei uberlangen Gerichtsverfahren nach langem Weg ins Ziel In Zeitschrift fur Zivilprozess ZZP ISSN 0342 3468 124 2011 S 173 189 Christine Steinbeiss Winkelmann Rechtsschutz bei uberlangen Gerichtsverfahren Zum neuen Gesetzentwurf der Bundesregierung In Zeitschrift fur Rechtspolitik ZRP ISSN 0514 6496 2010 Heft 7 S 205 209 VerzogerungsrugeChristoph Althammer Daniel Schauble Effektiver Rechtsschutz bei uberlanger Verfahrensdauer Das neue Gesetz aus zivilrechtlicher Perspektive In Neue Juristische Wochenschrift NJW 2012 Heft 1 2 S 1 7 Thomas Bocker Neuer Rechtsschutz gegen die uberlange Dauer finanzgerichtlicher Verfahren In Deutsches Steuerrecht DStR 2011 Heft 46 S 2173 2178 Detlef Burhoff Verfahrensverzogerung uberlange Gerichtsverfahren und Verzogerungsruge die Neuregelungen im GVG Strafrechtsreport StRR 2012 4 online Christian Gercke Julius Heinisch Auswirkungen der Verzogerungsruge auf das Strafverfahren in Neue Zeitschrift fur Strafrecht NStZ 2012 Heft 6 S 300 305 Robert Magnus Das neue Gesetz uber den Rechtsschutz bei uberlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren In Zeitschrift fur Zivilprozess 2012 Heft 1 S 75 91 Wolf Rudiger Schenke Rechtsschutz bei uberlanger Dauer verwaltungsgerichtlicher Verfahren In Neue Zeitschrift fur Verwaltungsrecht NVwZ 2012 Heft 5 S 257 265 Bernhard Joachim Scholz Rechtsschutz gegen uberlange Verfahrensdauer In Die Sozialgerichtsbarkeit SGb 2012 S 19 24 Ulrich Sommer Die Verzogerungsruge Auf der Suche nach der verlorenen Zeit In Der Strafverteidiger StV 2012 Heft 2 S 107 112 Rudiger Zuck Rechtsschutz bei uberlangen Gerichtsverfahren vor dem BVerfG In Neue Zeitschrift fur Verwaltungsrecht NVwZ 2012 Heft 5 S 265 270 Entschadigungsanspruch und klageAnnette Guckelberger Der neue staatshaftungsrechtliche Entschadigungsanspruch bei uberlangen Gerichtsverfahren In Die Offentliche Verwaltung DOV 2012 Heft 8 S 289 298 Manfred Heine Uberlange Gerichtsverfahren Die Entschadigungsklage nach 198 GVG In Monatsschrift fur Deutsches Recht MDR 2012 Heft 6 S 327 332 Weblinks BearbeitenMaterialien der Bibliothek des Bundesgerichtshofs zum Gesetzesentwurf Gesetzentwurf der Bundesregierung Bundestags Drucksache 17 3802 vom 17 November 2010 PDF 570 kB Gesetzesentwurf in der vom Bundestag beschlossenen Form Bundestags Drucksache 17 7217 vom 28 September 2011 PDF 489 kB Text und Anderungen durch das GesetzEinzelnachweise Bearbeiten BVerfG Beschluss vom 27 Marz 1980 Az 2 BvR 316 80 und Urteil vom 16 Mai 1995 Az 1 BvR 1087 91 Vgl insbesondere das Piloturteil der Funften Sektion des Europaischen Gerichtshofs fur Menschenrechte vom 6 Juli 2010 in der Rechtssache R gegen Deutschland 46344 06 nichtamtliche deutsche Ubersetzung englische Fassung sowie die zugehorige Pressemitteilung des Kanzlers vom 2 September 2010 Erstes Piloturteil in einem Verfahren gegen Deutschland die uberlange Verfahrensdauer vor deutschen Gerichten stellt ein strukturelles Problem dar abgerufen am 6 Oktober 2011 Verurteilungen wegen uberlanger Gerichtsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland vor dem Europaischen Gerichtshof fur Menschenrechte Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages BVerwG Urteil vom 8 Februar 1973 Az I WB 228 72 Referentenentwurf Gesetz uber den Rechtsschutz bei uberlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren Pressemitteilung Mehr Rechtsschutz bei uberlangen Prozessen Nicht mehr online verfugbar Bundesministerium fur Justiz 8 April 2010 archiviert vom Original am 20 Juli 2012 abgerufen am 22 Februar 2016 BR Drucksache 540 10 BR Drucksache 540 1 10 vom 5 Oktober 2010 BT Drucksache 17 3802 vom 17 November 2010 PDF 570 kB BT Plenarprotokoll 17 84 vom 20 Januar 2011 9494 C Rechtsausschuss Mittwoch 23 Marz 2011 15 00 Uhr uberlange Gerichtsverfahren Materialien und Stellungnahmen zur offentlichen Anhorung vom 23 Marz 2011 Nicht mehr online verfugbar Archiviert vom Original am 27 Juli 2013 abgerufen am 22 Februar 2016 Bundestags Drucksache 17 7217 vom 28 September 2011 PDF 489 kB vgl auch Pressemitteilung der Fraktion CDU CSU vom 28 September 2011 Wir schaffen Rechtsschutz gegen uberlange Verfahrensdauern bei Gerichten abgerufen am 28 September 2011 Bundestags Drucksache 17 7217 vom 28 September 2011 PDF 489 kB Beschlussempfehlung Nr 1 Bundestags Drucksache 17 7217 vom 28 September 2011 PDF 489 kB Beschlussempfehlung Nr 2 die unter anderem vorsieht die Anwendung des Gesetzes zwei Jahre nach seinem Inkrafttreten zu evaluieren Beschluss des Bundesrates PDF 9 4 kB Drucksache 587 11 14 Oktober 2011 abgerufen am 22 Februar 2016 Empfehlungen der Ausschusse zu Punkt 8 der 888 Sitzung des Bundesrates am 14 Oktober 2011 PDF 44 2 kB BR Drucks 587 1 11 Abgerufen am 22 Februar 2016 BGH Urteil vom 23 Januar 2014 Az III ZR 37 13 BGH Urteil vom 5 Dezember 2013 Az III ZR 73 13 Dies war zunachst in Rechtsprechung und Literatur umstritten einige Gerichte hatten eine Einbeziehung von Erinnerungen in den Anwendungsbereich des 198 GVG abgelehnt zuletzt LSG Nordrhein Westfalen vom 16 Oktober 2014 Az L 11 SF 671 14 EK Die Einbeziehung ist obergerichtlich geklart seit BSG vom 10 Juli 2014 B 10 UG 8 13 R BSG Urteil vom 21 Februar 2013 Az B 10 UG 1 12 KL Zur aktuellen Besetzung der Beschwerdekammer siehe den Plenarbeschluss vom 24 November 2015 PDF 6 4 kB Bundesverfassungsgericht abgerufen am 14 Februar 2016 BVerfG Beschluss vom 20 August 2015 AZ Vz 11 14 Bundesverfassungsgericht Schweigen im Namen des Volkes Oberste deutsche Richter auf der Anklagebank Frankfurter Rundschau Z B LSG Hamburg 30 Oktober 2014 Az L 1 SF 16 13 ESV Bundestags Drucksache 17 3802 vom 17 November 2010 PDF 570 kB A I 5 S 16 r Sp Entwurf eines Gesetzes uber den Rechtsschutz bei uberlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren PDF 583 5 kB Gesetzesbegrundung Drucksache 17 3802 Deutscher Bundestag 17 November 2010 S 20 abgerufen am 28 August 2022 Bundessozialgericht Urteil vom 12 Februar 2015 Az B 10 UG 11 13 R Bundessozialgericht Urteil vom 11 November 2021 Az B 14 AS 15 20 R BVerwG Urteil vom 12 Juli 2013 Az 5 C 23 12 D 5 C 27 12 D Pressemitteilung Nr 49 2013 BFH Urteil vom 17 April 2013 X K 3 12 Fur Bezifferungspflicht LSG Sachsen Anhalt Urteil vom 18 Dezember 2014 Az L 10 SF 11 14 EK Thuringer OVG Urteil vom 8 Januar 2014 Az 2 SO 182 12 OLG Hamm Urteil vom 7 Mai 2014 Az I 11 EK 22 13 gegen Bezifferungspflicht LSG Berlin Brandenburg Urteil vom 25 Juni 2014 Az L 38 SF 304 13 EK AS LSG Baden Wurttemberg Urteil vom 27 Mai 2014 Az L 2 SF 3228 13 EK BT Drucksache 18 2950 vom 17 Oktober 2014 PDF 589 kB Steffen Roller Rechtsschutz bei uberlangen Verfahren eine Zwischenbilanz DRiZ 2015 S 67 a b Steffen Roller Rechtsschutz bei uberlangen Verfahren eine Zwischenbilanz DRiZ 2015 S 68 Christofer Lenz Roland Hansel Bundesverfassungsgerichtsgesetz Kommentar 1 Aufl Munchen 2013 ISBN 978 3 8329 5369 0 97a Rnr 18 Bundesrechtsanwaltskammer Stellungnahme 2014 11 S 13 f 17 Stellungnahme des BDS zur Evaluierung des Gesetzes zum Rechtsschutz bei uberlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungen in der Arbeits und Sozialgerichtsbarkeit Memento vom 22 Dezember 2017 im Internet Archive siehe auch Stellungnahme des Vorsitzenden des 11 Senats des Landessozialgerichts Nordrhein Westfalen vom 18 02 2014 zur Evaluierung des Gesetzes zum Rechtsschutz bei uberlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren UGG Memento vom 22 Dezember 2017 im Internet Archive Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Rechtsschutz bei uberlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren amp oldid 233441192