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Als Mordfall Jessica oder Fall Jessica wurde im Marz 2005 der Tod der siebenjahrigen Hamburgerin Jessica bundesweit bekannt Das Madchen war wegen Unterernahrung entkraftet an seinem Erbrochenen erstickt Die Eltern hatten es jahrelang in einem Zimmer ihrer Wohnung eingesperrt und vernachlassigt Nach dreimonatiger Gerichtsverhandlung wurden sie im November 2005 zu lebenslanger Freiheitsstrafe wegen Mordes durch Unterlassen verurteilt Das Wohnhaus in dem die Familie gelebt hatDie Schulbehorde und das Jugendamt gerieten in die Kritik weil sie die Vernachlassigung des Madchens nicht erkannt hatten Die offentliche Verwaltung reagierte mit der Einfuhrung neuer und dem Ausbau bestehender Kontrollmechanismen sowie einer Aufstockung des Personals Das Landesparlament die Hamburgische Burgerschaft erhohte die Finanzmittel fur die zustandigen Behorden Inhaltsverzeichnis 1 Lebenssituation und Familie 2 Todesumstande 3 Rolle der Behorden 4 Ermittlungen und Anklage 5 Gerichtsverfahren 5 1 Einlassungen der beiden Angeklagten 5 2 Gutachten 5 3 Pladoyers Urteil und Revision 6 Nachwirkung und gesellschaftliche Debatte 7 Literatur 8 Weblinks 9 EinzelnachweiseLebenssituation und Familie Bearbeiten nbsp Lage in HamburgJessica hatte bis zu ihrem Tod mit ihren Eltern in einer 71 Quadratmeter grossen Zweieinhalbzimmer Mietwohnung eines achtgeschossigen Mehrfamilienhauses im Hamburger Stadtteil Jenfeld gelebt 1 Jessicas Eltern waren die zur Tatzeit 35 jahrige Marlies S und der 49 jahrige Burkhard M 2 Nach Medienberichten war die elterliche Wohnung zum Tatzeitpunkt in einem stark verwahrlosten Zustand Nachbarn sagten aus sie hatten das Kind nie gesehen und nichts von ihm gewusst 2 Die Eltern hatten Jessica in ihrem Zimmer eingesperrt ihr Toilettengange verweigert Spielzeug vorenthalten 3 die Zimmerfenster zugeschraubt und die Scheiben mit lichtundurchlassiger Folie beklebt 1 Auch hatten sie das Licht abgeschaltet und den Thermostat der Heizung auf niedriger Stufe verriegelt 4 Die Zimmerdecke war mit Schimmel uberzogen von Jessicas Matratze waren nur die Sprungfedern ubrig gewesen 5 Jessica hat nur selten zu essen und zu wenig zu trinken erhalten 6 Nach kriminalpolizeilichen Ermittlungen hatte Burkhard M den Lichtschalter in Jessicas Zimmer mit einem unisolierten Kupferdraht zu einer Stromfalle umgebaut Er hatte auch den isolierenden Teppich und das Linoleum auf dem Zimmerboden unter dem Lichtschalter entfernt Er bestritt in den Vernehmungen eine Totungsabsicht und gab an Jessica habe die Schutzverkleidung des Lichtschalters selbst abgerissen Ein Gutachten bestatigte jedoch das Ermittlungsergebnis 7 Das Kind kam mit dem Draht nicht in Beruhrung Die Medien thematisierten auch die Vorgeschichte der Eltern Demnach lernte Marlies S ihren eigenen Vater nie kennen und ihre Mutter war haufig alkoholisiert Seit ihrem neunten Lebensjahr wurde Marlies S etwa zwei bis drei Jahre lang vom Lebensgefahrten ihrer Mutter sexuell belastigt ohne dass die Mutter eingriff Ab ihrem 13 Lebensjahr wohnte sie vier Jahre bei einer Tante Nach der Schule begann sie eine Ausbildung zur Friseurin die sie wegen einer Allergie jedoch nicht abschloss Spater zog sie in eine Jugendwohnung und bekam 1991 mit 21 Jahren ihren ersten Sohn Wenige Monate spater heiratete sie Acht Monate nach der Geburt des Sohnes der entgegen der normalen Entwicklung weder sitzen noch krabbeln konnte ubergaben ihn Marlies S und ihr damaliger Ehemann dauerhaft der Tante 8 Die Tante benachrichtigte das zustandige Jugendamt und das Kind wurde spater adoptiert 1992 bekam sie ihren zweiten Sohn 1994 ihre erste Tochter Das Ehepaar liess sich 1996 scheiden Das zustandige Jugendamt legte dem Familiengericht dar dass Marlies S mit der Erziehung der beiden Kinder uberfordert sei Der Ehemann erhielt das Sorgerecht fur die beiden gemeinsamen Kinder 1996 war Marlies S als Naherin in Hamburg beschaftigt nach unentschuldigtem Fernbleiben wurde ihr nach drei Monaten gekundigt Im selben Jahr lernte sie Burkhard M kennen Dieser hatte bevor er nach Hamburg kam in Berlin gewohnt und dort als Maler und Lackierer gearbeitet 3 Im August 1997 wurde die gemeinsame Tochter Jessica geboren die nicht gewollt war 9 Todesumstande BearbeitenAb Marz 2005 berichteten grosse deutsche Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine detailliert uber den Fall Nach ihren Angaben hatte Jessicas Mutter am 1 Marz kurz vor 7 Uhr morgens einen Notarzt gerufen und angegeben ihre Tochter habe sich nachts erbrochen und sei in ein Koma gefallen Der Notarzt fand das Madchen jedoch bereits tot mit begonnener Leichenstarre und auf 9 6 Kilogramm Korpergewicht abgemagert vor Nach Aussage des Vaters soll Jessica an einer Stoffwechselkrankheit gelitten haben die nicht arztlich behandelt worden sei Eine gerichtsmedizinische Obduktion ergab die Todesursache Jessica hatte infolge langfristiger Unterernahrung einen lebensgefahrlichen Darmverschluss erlitten Sie hatte sich bei einer Nahrungsaufnahme erbrochen und war am Erbrochenen erstickt weil sie zu schwach war die Atemwege wieder freizubekommen Vorerkrankungen wurden nicht festgestellt 10 Jessica wurde am 11 Marz 2005 auf einem Friedhof im Stadtteil Hamburg Rahlstedt beigesetzt 3 Rolle der Behorden Bearbeiten nbsp Schule Oppelner StrasseAb Marz 2005 gerieten mehrere Hamburger Behorden in die Kritik Die Vorwurfe richteten sich in erster Linie gegen die von Alexandra Dinges Dierig geleitete Behorde fur Bildung und Sport und das zur Bezirksverwaltung gehorende Jugendamt Ihnen wurde vorgeworfen die Vernachlassigung der siebenjahrigen Jessica nicht schon fruher erkannt zu haben Es war zwar ein Bussgeldverfahren gegen die Eltern eingeleitet worden weil sie ihre Tochter nicht zur Schule angemeldet hatten Nachdem aber das Kind zur Einschulung nicht erschienen war waren weitere Massnahmen unterblieben Der Senat raumte Fehler der Behorde ein 11 Jessica wurde am 1 August 2004 schulpflichtig Der Schulleiter der Schule Oppelner Strasse hatte Jessicas Eltern im Dezember 2003 angeschrieben und sie aufgefordert Jessica anzumelden Die Eltern reagierten nicht auch nicht auf einen zweiten und dritten Brief im Marz 2004 Daraufhin meldete der Schulleiter das Fernbleiben des Kindes im April 2004 der Regionalen Beratungs und Unterstutzungsstelle der Hamburger Schulbehorde Rebus Die Rebus bemuhte sich vergeblich Jessicas Eltern zu erreichen Dazu wurde sie dreimal an der Wohnung der Familie vorstellig ohne dass die Eltern offneten Die drei im Briefkasten der Familie hinterlegten Briefe beantworteten die Eltern nicht Nachbarn konnten auf Nachfrage des Rebus Mitarbeiters keine Auskunft uber Jessica geben weil sie sie nicht kannten Die Schulbehorde verhangte schliesslich ein Bussgeld in Hohe von 60 Euro wegen einer Schulpflichtverletzung Die Eltern reagierten auch auf die Bussgeldforderung und zwei folgende Mahnungen nicht danach stellte die Rebus alle weiteren Bemuhungen ein Die Rebus informierte auch das zustandige Jugendamt nicht da sie davon ausging dass die Familie fortgezogen war 2 8 Ruckblickend wiesen mehrere Beobachter auf die strukturellen Schwierigkeiten der Hamburger Sozialbehorden hin Wahrend das Sozialnetz der Hansestadt in den 1980er und 1990er deutschlandweit als gut entwickelt und sehr liberal galt setzte Ende der 1990er Jahre ein Umschwung in der Politik des rot grunen Senats ein Anlass waren gestiegene Kosten durch zahlreiche im Lauf der Jahre geschaffene Anspruche der Burger Ambulante Hilfen wie etwa Familienbesuche wurden dabei zugunsten der Offenen Kinder und Jugendarbeit OKJA zuruckgefahren die den Schwerpunkt auf flachendeckende niederschwellige Angebote legt Andererseits verscharfte sich der Kontroll und Sanktionsdiskurs in Hamburg zu dieser Zeit nachdem in dem als Dabelstein Mord bekannt gewordenen Kriminalfall aus dem Juni 1998 ein Mann von zwei Jugendlichen erstochen worden war die ungeachtet zahlreicher fruherer Straftaten weiterhin in einer offenen Einrichtung untergebracht waren Der erste von Ole von Beust geleitete Senat der von einer Burgerschaftsmehrheit aus CDU und Ronald Schills Partei Rechtsstaatlicher Offensive getragen wurde setzte ab Oktober 2001 diesen eingeschlagenen Kurs fort Zwar standen vor allem jugendliche Straftater im Mittelpunkt der Sozial und Sicherheitspolitik Dennoch zeichnete sich auch im Bereich der Familienbetreuung eine weitere Verschiebung von ambulanten und einzelfallbezogenen Einrichtungen hin zu stationaren flachendeckenden aber auch repressiveren Institutionen ab Dazu gehorte beispielsweise die Wiedereinfuhrung geschlossener Heime sowie die informationelle Verschaltung und koordinierte Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Polizei Als problematisch stellte sich im Ruckblick heraus dass es zwar moglich wurde Kinder ihren Eltern zu entziehen und sie in geschlossene Einrichtungen zu uberstellen das Hauptaugenmerk aber vornehmlich auf Jugendkriminalitat lag und Verwahrlosung von Kleinkindern als Thema weitgehend unbeachtet blieb Gleichzeitig waren vor allem die repressiven Massnahmen sehr kostenintensiv was zu Lasten der praventiven Bereiche in der Jugendarbeit darunter auch Hausbesuche ging 12 Ermittlungen und Anklage BearbeitenJessicas Eltern wurden noch am 1 Marz 2005 festgenommen am nachsten Tag ordnete ein Haftrichter Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr an 2 Der Gerichtsmediziner Michael Tsokos der die Leiche der Siebenjahrigen obduzierte meinte dass das Madchen nur noch vor sich hingedammert haben konne ohne richtig wach gewesen zu sein 13 In den kriminalpolizeilichen Vernehmungen sagten der Vater und die Mutter aus Marlies S schilderte hierbei ihre eigene Jugend in der Gewalt Verwahrlosung Missbrauch und Alkohol eine wesentliche Rolle gespielt hatten 3 Ansonsten hatten sie Jessica immer gepflegt und gefuttert Burkhard M gab an dass er sich seit Dezember 2004 nicht weiter um Jessica gekummert habe sie habe ihn abgelehnt Ende 2004 oder Anfang 2005 habe er seine Tochter letztmals lebend gesehen Sie habe auf ihrem Bett im Kinderzimmer gelegen 14 Der Verteidiger der angeklagten Mutter gab vor Prozessbeginn an Marlies S habe viel Schuld auf sich geladen Allerdings hatten auch die Behorden versagt Die Staatsanwaltschaft erhob am 28 Juni 2005 Anklage gegen die Eltern Sie lautete auf Misshandlung einer Schutzbefohlenen und Mord durch Unterlassung wobei Grausamkeit als besonderes Mordmerkmal genannt wurde 15 In der Anklageschrift wurde den Eltern vorgeworfen Jessica groblichst vernachlassigt zu haben sodass sie sich weder korperlich noch geistig auch nur ansatzweise altersgerecht hatte entwickeln konnen 7 Marlies S und Burkhard M hatten im gegenseitigen Einvernehmen beschlossen Jessica sterben zu lassen und somit einen grausamen Mord zur Verdeckung einer Straftat begangen Die Eltern hatten wahrend des Ermittlungsverfahrens keine Einsicht gezeigt 16 Gerichtsverfahren Bearbeiten nbsp Landgericht Hamburg im StrafjustizgebaudeDer Prozess gegen die Eltern vor dem Schwurgericht des Landgerichts Hamburg begann am 24 August 2005 verhandelt wurde im Strafjustizgebaude 3 Einlassungen der beiden Angeklagten Bearbeiten Am zweiten Verhandlungstag dem 30 August 2005 ausserte sich Jessicas Mutter Sie gab zu ihre Tochter vernachlassigt zu haben Seit Ende 2000 habe sie mit Jessica nicht mehr draussen gespielt Trotz massiver Probleme ihres Kindes habe sie weder einen Arzt noch eine Erziehungsberatungsstelle aufgesucht sie habe es nicht geschafft Seit 2001 habe sie Jessica immer wieder in ihrem Zimmer eingesperrt etwa wenn sie einkaufen oder zum Imbiss gegangen sei Das Madchen habe nicht allein essen konnen und immer gefuttert werden mussen Etwa ab Mitte Februar 2005 habe Jessica nicht mehr richtig gegessen und das Trinken vollig verweigert Sie habe Jessica nicht in der Schule angemeldet weil es mit ihrer Sprache immer schlimmer geworden sei 17 Nachdem Burkhard M 2003 an einer Leberzirrhose erkrankt sei sei Jessicas Beziehung zu ihrem Vater in eine Krise geraten Danach habe Jessica ihr Aussehen und ihr Verhalten geandert Sie habe sich vollig zuruckgezogen und habe wieder in die Hosen gemacht Richtig trocken sei sie ohnehin nie gewesen Der Vater des Kindes schwieg vor Gericht 14 Gutachten Bearbeiten Der Psychiater Norbert Leygraf fuhrte in seinem Gutachten uber den Vater aus dieser habe wohl weder im Tatzeitraum noch in seiner Lebensgeschichte je unter einer schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankung gelitten er sei aber gefuhlsarm wozu auch der jahrelange Alkoholmissbrauch beigetragen habe 10 Der Psychiater Hans Ludwig Krober hatte die Mutter untersucht Er habe bei der Angeklagten keine seelische Abartigkeit feststellen konnen sie sei voll schuldfahig Sie habe sich trotz ihrer miserablen Kindheit stabilisiert 18 Entscheidend fur die Tat seien Streitereien der Eltern gewesen Aufgrund der Gleichgultigkeit des angeklagten Vaters habe es die angeklagte Mutter letztlich nicht mehr eingesehen allein fur die Versorgung ihrer Tochter zustandig zu sein Jessicas Vernachlassigung habe sie als Verteidigungsmassnahme verstanden 19 Pladoyers Urteil und Revision Bearbeiten Die Staatsanwaltschaft forderte am 11 November 2005 eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes fur beide Elternteile Sie hatten ihre Tochter vorsatzlich misshandelt und getotet Die Verteidiger der angeklagten Eltern pladierten am 16 November 2005 fur eine Verurteilung wegen Korperverletzung mit Todesfolge und Misshandlung Schutzbefohlener fur Freiheitsstrafen von hochstens 15 Jahren Am 25 November 2005 verurteilte das Landgericht Hamburg die beiden Angeklagten wegen Mordes zu lebenslangen Freiheitsstrafen wobei das Gericht das Mordmerkmal der Grausamkeit als gegeben ansah Es stellte fest dass Jessicas Entwicklung zunachst normal verlief sie habe normal zu essen bekommen habe laufen und einige Worter sprechen konnen Der Bruch innerhalb der Familie sei wahrscheinlich geschehen als die Eltern mit der drei Jahre alten Jessica in den fur sie neuen Stadtteil Jenfeld umgezogen seien und dadurch ein halbwegs intaktes soziales Umfeld verloren hatten Ab diesem Zeitpunkt habe ein schleichender Prozess begonnen in dessen Verlauf Jessicas Leben zum Martyrium geworden sei Der Vorsitzende Richter konstatierte dass die Katze etwas zu fressen bekam Jessica hingegen musste hungern die Katze durfte sich in der Wohnung frei bewegen Jessica war in einem modrigen Zimmer eingesperrt Es sei neben den korperlichen Leiden fur Jessica eine seelische Qual gewesen in der Wichtigkeit hinter einem Haustier zu stehen was sie in vollem Bewusstsein mitbekommen habe Nach Uberzeugung des Gerichts seien sich beide Elternteile daruber im Klaren gewesen falsch zu handeln indem sie Jessica Nahrung und Zuwendung verweigerten Beide hatten genau gewusst dass Jessica sterben wurde wenn sie nichts anderten und hatten dies billigend in Kauf genommen Durch den Hunger hatten sie Jessica grausam zu Tode gebracht 20 Jessicas Mutter habe als Resultat ihrer eigenen Kindheit Kinder als Feinde wahrgenommen die abgewehrt werden mussten um eigene Freiraume zu schaffen Der verurteilte Vater sei ein gefuhlsmassig verarmter und fatalistischer Mann der sich nicht darauf berufen konne nicht gewusst zu haben was sich in der Familie abspielte Er habe gewusst wie es seiner Tochter tatsachlich ging habe dies aber hinter der Fassade eines intakten Familienlebens verschleiert Der Vater habe die Stromfalle in Jessicas Zimmer angebracht Die Eltern hatten damit gemeinschaftlich den Tod ihrer Tochter herbeifuhren wollen Beide hatten gehofft dass Jessica den Draht anfassen und an einem Stromschlag sterben wurde Nach Uberzeugung des Gerichts handelten die Eltern aus gefuhlloser mitleidloser und boswilliger Gesinnung Sie hatten ihr eigenes Leben in Kneipen bei Bekannten oder beim Dartspielen leben wollen 21 Der Verteidiger der Mutter gab an das Urteil werde ihr nicht gerecht 5 Er legte daraufhin Revision beim Bundesgerichtshof ein der die Revision jedoch am 10 Oktober 2006 verwarf weil die Nachprufung weder einen Verfahrensfehler noch einen Urteilsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben habe 22 Damit war auch das Urteil gegen die Mutter rechtskraftig geworden 6 Nachwirkung und gesellschaftliche Debatte BearbeitenDer Hamburger Fall Jessica sowie die vergleichbar in den Medien thematisierten Vorfalle Fall Kevin und Lea Sophie die in den darauf folgenden Jahren in Bremen bzw Schwerin gestorben waren losten in Deutschland eine intensive und emotional gefuhrte Debatte uber den Umgang mit potentiell von Vernachlassigung und Misshandlung bedrohten Kindern und die Rolle der Jugendamter aus Dabei spielte insbesondere die Frage eine Rolle ob die Rechte von Eltern zugunsten von mehr staatlicher Aufsicht beschnitten werden sollten und welche Stellung dem Staat insgesamt bei der Erziehung von Kindern zukommt Das verstarkte Aufgreifen dieser Falle in den Medien lasst in statistischer Hinsicht keine Ruckschlusse auf einen aktuellen Anstieg von Fallen schwerer und massiver Vernachlassigung und Misshandlung zu Dennoch bietet nach Auffassung von Fegert Ziegenhain und Fangerau die Aufmerksamkeit fur spektakulare Falle die Chance einer breiten offentlichen Diskussion Aus der Aufarbeitung von Fehlern und strukturellen Defiziten soll gelernt werden um fur die Zukunft Verantwortlichkeiten zu klaren und einen effektiveren Schutz des Kindeswohls zu ermoglichen 23 Die politischen Institutionen in Hamburg versuchten zunachst durch zugig eingeleitete Massnahmen zu reagieren Die Hamburgische Burgerschaft setzte im April 2005 den Sonderausschuss Vernachlassigte Kinder ein der von Mai 2005 bis Januar 2006 tagte Der Erste Burgermeister Ole von Beust machte die politische Aufarbeitung um den Fall Jessica zur Chefsache und verlangte eine minutiose Aufklarung bis ins Detail daruber an welchem Punkt Fehler entstanden seien um sie kunftig zu verhindern 13 Im Mai 2005 fuhrte Hamburg den sogenannten Schulzwang ein der Behordenvertreter berechtigt mit einem richterlichen Durchsuchungsbeschluss Wohnungen zu betreten um anwesende schulpflichtige Kinder dem taglichen Schulunterricht bei Lehrern zu ubergeben Am 27 September 2005 gab der Senat sein Programm Hamburg schutzt seine Kinder bekannt Es sah unter anderem ein Zentralregister aller schulpflichtigen Kinder und den Einsatz der Staatsanwaltschaft zur Klarung der Lebensumstande von Kindern vor Die Zahl der Arbeitsstellen beim Allgemeinen Sozialen Dienst wurde von 241 auf 273 angehoben Die Mittel fur Familienhilfe und forderung wurden von 563 Millionen Euro im Jahr 2001 auf 648 Millionen Euro im Jahr 2006 erhoht und die Fachkrafte der Sozialbehorde wurden zu Kinderschutzfachkraften fortgebildet 24 Zudem wurden unter anderem Vorsorgeuntersuchungen fur Kindergartenkinder sowie eine Kinderschutzhotline eingefuhrt und das ambulante Familienhebammenprogramm ausgeweitet Massnahmen zur Hilfe bei der Erziehung HzE Massnahmen wurden insgesamt hinter die sogenannte Sozialraumorientierte Angebotsentwicklung SAE zuruckgestellt und erhielten trotz einer Budgeterhohung im Verhaltnis weniger Mittel Der Senat begrunde diese Prioritatensetzung damit dass HzE Massnahmen insgesamt zu teuer und hochschwellig seien wohingegen sich mit der SAE eine breitere Schicht potentiell gefahrdeter Familien erreichen lasse 25 Damit wurden zwar fruher erfolgte Einschnitte und Sparbeschlusse im Sozialbereich zuruckgenommen oder zumindest teilweise revidiert gleichzeitig wurden aber auch Kontroll und Sanktionsmoglichkeiten des Staates gegenuber Familien ausgeweitet Beobachter sahen in den Beschlussen daher auch eine Fortsetzung der Kriminalititatspolitik der Regierung Beust Schill nur dass sich diese nun zumindest zeitweilig gegen Misshandlung durch Eltern statt gegen jugendliche Straftater wendete auch wenn letzteres Thema weiterhin eine wichtige Rolle spielte Die Reaktion der politischen Institutionen und die Forderungen aus der Gesellschaft die Kontrolle durch die Behorden zu verscharfen wurden als Jessica Effekt bezeichnet Viele Sozialarbeiter kritisierten die neuen Massnahmen Sie seien reine Symbolpolitik zumal die zustandige Sozialsenatorin Birgit Schnieber Jastram suggeriere dass sich Falle wie der von Jessica damit verhindern liessen Dies sei aber durch keine noch so restriktive Kontrolle moglich Teile der Sozialbehorden fuhlten sich durch die neu geschaffenen Kontrollpflichten uberlastet Eine Mitarbeiterin des Allgemeinen Sozialen Diensts ASD kundigte ihre Stelle nach eigener Aussage weil sie aufgrund des gestiegenen Arbeitspensums ihre Verantwortung gegenuber den betreuten Personen nicht mehr wahrnehmen konne 26 Damit verscharfte sich eine Situation der der Senat eigentlich entgegenwirken wollte da wahrend seiner Arbeit deutlich wurde dass der ASD zum Todeszeitpunkt von Jessica uberlastet war 27 Auf Bundesebene wurde 2008 das Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Massnahmen bei Gefahrdung des Kindeswohls erlassen mit welchem den Familiengerichten zusatzliche Massnahmen zum Schutz gefahrdeter Kinder und Jugendlicher ermoglicht werden Das Gesetz ist eine unmittelbare Antwort des Gesetzgebers auf den Mordfall Jessica und andere Falle von Kindesmisshandlung Literatur BearbeitenM Risse J Rummel M Tsokos R Dettmeyer A Buttner H Lehmann K Puschel Verhungern und Verdursten Extremformen von todlicher Vernachlassigung im Kindesalter In Rechtsmedizin 20 2010 doi 10 1007 s00194 010 0674 4 S 211 218 Michael Tsokos Der Fall Jessica in Dem Tod auf der Spur S 214 222 Ullstein Berlin 2009 ISBN 978 3 548 37262 4 Weblinks BearbeitenSabine Ruckert Die feindlichen Eltern In Die Zeit 21 April 2005 abgerufen am 11 Juni 2015 Einzelnachweise Bearbeiten a b Roman Heflik Das Madchen das nie existierte In Spiegel Online 2 Marz 2005 abgerufen am 11 Juni 2015 a b c d Insa Gall und Andre Zand Vakili Madchen verhungert in Jenfeld In Welt Online 2 Marz 2005 abgerufen am 11 Juni 2015 a b c d e Eltern der verhungerten Jessica vor Gericht In FAZ net 24 August 2005 abgerufen am 11 Juni 2015 Ralf Wiegand Jessica und die Skala der Vernachlassigung Nicht mehr online 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Jorg Fegert Ute Ziegenhain Heiner Fangerau Problematische Kinderschutzverlaufe Mediale Skandalisierung fachliche Fehleranalyse und Strategien zur Verbesserung des Kinderschutzes 2010 S 52 Senat Nach Jessicas Tod hat sich viel bewegt In Welt Online 6 Juni 2007 abgerufen am 11 Juni 2015 Tilman Lutz Soziale Arbeit im Kontrolldiskurs S 127 129 Tilman Lutz Soziale Arbeit im Kontrolldiskurs S 126 Sabine Henning Die Fratze hinter der Fassade 1 2 Vorlage Toter Link www sabinehenning de Seite nicht mehr abrufbar festgestellt im Marz 2018 Suche in Webarchiven PDF 838 kB In Publik Forum vom Februar 2006 Abgerufen am 26 November 2011 nbsp Dieser Artikel wurde am 7 Dezember 2011 in dieser Version in die Liste der lesenswerten Artikel aufgenommen Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Mordfall Jessica amp oldid 226189720