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Als Leben und leben lassen wird das spontane Zustandekommen von nicht aggressivem Verhalten zwischen Truppenteilen bezeichnet die sich wahrend des Ersten Weltkriegs an der Front als Feinde gegenuberstanden Nach dem ersten Zustandekommen konnte dieses Verhalten zu einem System der instabilen Kooperation ausgebaut werden Dies geschah durch Gewaltvermeidung oder ritualisierte Gewaltanwendung ohne Verletzungsabsicht wie auch durch Deeskalation aber auch mittels vorhersehbarer und massvoller Vergeltung bei Ubertretungen der impliziten Abmachungen Die Verstandigung mit dem Gegner geschah dabei im Gegensatz zum offenen Fraternisieren meist durch Nicht Handeln anstelle von Sprache Das Verhaltensmuster trat insbesondere wahrend langerer Phasen der Stagnation im Stellungskrieg an der Westfront auf Als bekanntestes wenn auch untypisches Beispiel gilt der Weihnachtsfrieden von 1914 Am weitesten verbreitet war das System an ruhigen Frontabschnitten zwischen November 1914 und Ende 1916 bevor es durch offensive Patrouillen und Stosstrupps auf Befehl hoherer Stabe unterminiert wurde um schliesslich mit der deutschen Fruhjahrsoffensive von 1918 und dem folgenden Bewegungskrieg ganz zusammenzubrechen Die Strategie Leben und leben lassen ist ein Untersuchungsgegenstand der Spieltheorie Britische Offiziere kochen an der Front Der Rauch von Kochfeuern konnte leicht Artilleriefeuer auf sich ziehen aber wahrend der Essenszeiten galt oft Leben und leben lassen Inhaltsverzeichnis 1 Prinzip 1 1 Auftreten 1 2 Zustandekommen und Aufrechterhaltung 1 3 Haltung der militarischen Fuhrung 1 4 Gegenmassnahmen 2 Zeitzeugenberichte 3 Darstellungen durch Historiker 4 Spieltheorie 5 Literatur 6 EinzelnachweisePrinzip BearbeitenAuftreten Bearbeiten Das Prinzip Leben und leben lassen manifestierte sich im bewussten Absehen von Gewaltausubung wahrend des Krieges Typische Verhaltensformen im Sinne des Prinzips waren Wahrend der Zeit in der das Essen an die Front gebracht und verzehrt wird herrscht praktisch Waffenruhe 1 Feldartillerie die jeden Tag zur selben Zeit auf dieselbe Stelle im Niemandsland oder hinter den feindlichen Graben feuert sodass das Artilleriefeuer vorhersehbar und leicht vermeidbar wird 2 Arbeitskommandos die nachts exponiert im Niemandsland die Feldbefestigungen ausbessern sowie Stacheldraht Verhaue reparieren und sich dabei gegenseitig ignorieren 3 Scharfschutzen die gezielt daneben schiessen in einzelnen Fallen so lange auf denselben Punkt an einem Haus im Hinterland des Gegners bis dort ein Loch in der Wand entstand 4 Dieses Verhalten trat auf der Ebene kleinerer Einheiten auf typischerweise bis hin zu Bataillonsgrosse Das ergibt sich aus der sozialen Kohasion dieser Einheiten in denen abweichendes zu aggressives Verhalten einzelner Soldaten informell bestraft worden ware Auch wurden Bataillone zusammen abgelost und rotierten mit anderen Bataillonen im Frontdienst Bei der Ubergabe an den folgenden Truppenteil wurden die lokalen Gepflogenheiten von Leben und leben lassen dann haufig mundlich weitergegeben 5 Nicht alle Einheiten beteiligten sich regelmassig an Leben und leben lassen wenn sie Gelegenheit dazu hatten Auf beiden Seiten der Front gab es Einheiten die einen ruhigen Abschnitt rasch in ein Hornissen Nest 6 verwandelten Ashworth 1980 nennt diese Bataillone Elite Einheiten und fuhrt auf britischer Seite beispielhaft das II Bataillon der Royal Welch Fusiliers und das I Bataillon der Royal West Kents auf Die Nennung der Bataillons Nummern ist bei britischen Regimentern relevant da die Bataillone mit hoheren Nummern zwar den Traditions Regimentern Regular Army zugeordnet waren aber der New Army oder Territorial Army entstammten 6 Auf deutscher Seite galten die Garderegimenter und bestimmte Regimenter der preussischen Linieninfanterie als wenig geneigt das Prinzip Leben und leben lassen anzuwenden Hingegen hatten die sachsischen Regimenter den Ruf gern dem Prinzip zu folgen 7 Zustandekommen und Aufrechterhaltung Bearbeiten Das Prinzip Leben und leben lassen wurde nur selten in offenen lokalen Waffenstillstanden vereinbart so wie dies beim Weihnachtsfrieden 1914 der Fall war Haufiger kam es durch demonstratives Verhalten zustande entweder durch Nichtgebrauch der Waffen wo dies leicht moglich gewesen ware oder durch den Gebrauch in rein ritueller oder vorhersehbarer Form Letzteres signalisierte die nicht todliche Absicht und wahrte den Anschein aggressiven Verhaltens vor Vorgesetzten Anlass konnten auch aussere Bedingungen sein die das Kampfen sehr erschwerten wie zum Beispiel starker Regen und damit einhergehend Schlamm und uberflutete Schutzengraben 8 nbsp Britische Artillerie offiziere im Front bereich vor dem Eingang zu ihrem Unterstand der besser gesichert und komfortabler als ein Schutzen graben warNeben der praktischen Uberlegung dass ein Einhalten des Prinzips das eigene Uberleben sichern wurde gab es bei vielen Soldaten Widerwillen gegen das Toten ihrer direkt sichtbaren Gegenuber ohne dass diesem ein Kampf vorangegangen ware Solche Hemmungen hatte die Artillerie nicht die nur auf Koordinaten schoss Zudem war die Artillerie weniger Vergeltungsmassnahmen ausgesetzt Daher versuchten die Grabenbesatzungen die ihnen zugeteilten Beobachtungsoffiziere der Artillerie welche das Feuer lenkten zu einem Einhalten des Prinzips zu bringen Dies geschah zum Beispiel durch bevorzugte Versorgung mit Verpflegung und einem sicheren Unterstand fur den Beobachter es sind auch direkte Absprachen zwischen Infanterieoffizieren und Artilleriebeobachtern uberliefert Haufig waren Feldartillerie Batterien uber langere Zeit einem bestimmten Bataillon zugeteilt so dass sich soziale Bindungen bilden konnten Problematischer war die Abstimmung mit der schweren Artillerie die zudem zentral gelenkt wurde Falls der Feuereinsatz der eigenen schweren Artillerie in vorderster Linie bekannt war wurden manchmal die gegnerischen Grabenbesatzungen durch Signale gewarnt 9 Nachdem das Prinzip einmal mittels stillschweigender Ubereinkunft zwischen den Fronttruppen eingeubt war perpetuierte es sich dann Schlafende Hunde soll man nicht wecken Wenn eine Seite doch Gewalt einsetzte wurde dies lokal durch genau abgezahlte Gegengewalt beantwortet haufig nach dem Prinzip Drei zu eins Auf einen gezielten Schuss der Gegenseite der nicht dem Prinzip Leben und leben lassen entsprach antwortete man mit drei gezielten Schussen und stellte dann wieder das Feuer ein Die mogliche Vergeltung von Verstossen gegen das Prinzip war fur die Aufrechterhaltung wichtig Paradoxerweise waren daher Frontabschnitte an denen sich die Schutzengraben auf Ruf und Wurfentfernung gegenuberlagen am sichersten An bergigen Abschnitten wie in den Vogesen trennten teilweise nur wenige Meter die Graben Schon ein Einsatz von Handgranaten ohne Warnung ware verheerend gewesen und wurde genau deshalb vermieden 10 Stattdessen wurden dort die Graben aufwendig pioniertechnisch ausgebaut was ohne gegenseitiges Ignorieren der Baukommandos unmoglich gewesen ware Haltung der militarischen Fuhrung Bearbeiten Generale Kommandeure ab Regimentsebene und hohere Stabsoffiziere die selbst nicht der direkten Einwirkung des gegnerischen Feuers ausgesetzt waren waren kein Teil der Abmachungen und Verhaltensweisen des Leben und leben lassen Dennoch bestand auf hoheren Ebenen durchaus ein Bewusstsein fur das Vorhandensein des Systems 11 Das Verhaltnis dazu war jedoch nicht immer eindeutig Die Existenz ruhiger Frontabschnitte wurde zur Erholung von abgekampften Einheiten genutzt Andererseits barg die indirekte Kooperation der Fronttruppen mit dem Gegner die Gefahr der Abnutzung des Kampfgeistes bis hin zur Fraternisierung Schlimmstenfalls befurchtete die Fuhrung eine daraus resultierende Befehlsverweigerung und Meuterei sollte es wieder zu direkten Angriffsbefehlen kommen Aus strategischer Sicht waren der englische und franzosische Generalstab durchaus an einem Abnutzungskrieg interessiert da die Ressourcen der Mittelmachte diesem auf langere Sicht nicht gewachsen schienen 12 Pragmatische Uberlegungen zur Erholung von Truppenteilen und der Senkung von Verlustraten in statischen Situationen fuhrten zumindest in bestimmten Frontabschnitten oder Zeitraumen zu einem stillschweigenden Tolerieren des Systems Leben und leben lassen durch die militarische Fuhrung Dennoch stand das System auf beiden Seiten der Front in fundamentalem Gegensatz zur geltenden Militardoktrin und den Idealen einer aggressiven Mannlichkeit Auf britischer Seite wurde die gewunschte Haltung als offensive spirit Angriffsgeist bezeichnet In einer Dienstvorschrift zum Grabenkrieg von 1916 warnte das GHQ vor Passivitat und Lethargie und empfahl neben konstanter Beschaftigung mit dem Ausbau der Befestigungen den Storangriff auf den Gegner als beste Therapie fur die eigenen Truppen 13 T he state of comparative inactivity which is the normal condition of life in the trenches is very unfavorable to the development of these qualities dash and gallantry of a very high order in officers and men There is an insidious tendency to lapse into a passive and lethargic attitude against which officers of all ranks have to be on their guard and the fostering of the offensive spirit under such unfavorable conditions calls for incessant attention Constant activity in harassing the enemy may lead to reprisals at first and for this reason is sometimes neglected but if persevered in it always results in an ultimate mastery Das Leben im Schutzengraben ist durch anhaltende Inaktivitat gekennzeichnet Dieser Zustand wirkt sich sehr ungunstig auf die Entwicklung von gewunschten Qualitaten wie Schneid und Tapferkeit bei Offizieren und Soldaten aus Schleichend entsteht die Tendenz in eine passive und lethargische Haltung zu verfallen Dagegen mussen Offiziere aller Dienstgrade auf der Hut sein die Forderung des Offensivgeistes unter solch ungunstigen Bedingungen erfordert unaufhorliche Aufmerksamkeit Standiges Storfeuer und Aggression gegen den Feind kann zunachst zu Gegenschlagen fuhren und wird aus diesem Grund manchmal vermieden Wird das Storfeuer jedoch aufrechterhalten fuhrt dies letztlich zur Uberlegenheit General Headquarters Notes for Infantry Officers on Trench Warfare 1916 14 Auf franzosischer Seite war der Widerspruch zwischen Leben und leben lassen und dem Ideal der offensive a outrance Angriff bis zum Aussersten noch grosser Auch wenn sich die franzosische Fuhrung vom reinen Ideal des infanteristischen Frontalangriffs nach horrenden Verlusten in den ersten Kriegsmonaten verabschiedet hatte blieb der Angriff mit allen Mitteln weiter Ziel Erst 1917 wandte sich der franzosische Oberbefehlshaber Petain unter dem Eindruck der grossflachigen Meutereien in seiner Armee davon ab Gegenmassnahmen Bearbeiten Zur Analyse des Angriffsgeistes der eigenen Truppe dienten den hoheren Ebenen Statistiken uber eigene Verluste Munitionsverbrauch und Meldungen uber Angriffe Da der Munitionsverbrauch durch vorhersagbares und absichtlich ungezieltes Feuer nicht aussagekraftig genug war wurden Patrouillen und Stosstrupps angeordnet Dabei mussten zum Beweis des gewalttatigen Vorgehens feindliche Gefangene eingebracht werden zumindest jedoch ein Stuck des gegnerischen Stacheldrahts oder ein Ausrustungsteil gegnerischer Soldaten 15 Am 4 Dezember 1917 erging in der franzosischen Armee eine Weisung zum Verbot der offenen Fraternisierung die von deren Oberbefehlshaber Petain unterzeichnet wurde Eine weitere solche Weisung folgte am 29 Januar 1918 Wer sich in den Schutzengraben mit feindlichen Soldaten unterhalt ist wegen geheimer Verbindungen zum Feind einem Kriegsgericht zu uberantworten 16 Das System von Leben und leben lassen war zu jedem Zeitpunkt zerbrechlich und konnte durch todliche Gewalt zerstort werden Dies geschah letztlich durch zentral angeordnete Stosstrupp und Kommandounternehmen haufig ausgefuhrt durch neu an den Frontabschnitt versetzte Truppenteile oder Freiwillige Dadurch konnte das Gleichgewicht von Leben und leben lassen nicht gehalten werden denn die freiwillige Vermeidung von Gewalt durch einen Fronttruppenteil konnte den befohlenen Einsatz von Stosstrupps auf der Gegenseite nicht verhindern So ging die Praxis im Laufe des Jahres 1917 bis auf wenige ruhige Frontabschnitte wie die Vogesen zuruck Im Marz 1918 kehrte mit der Deutschen Fruhjahrsoffensive der Bewegungskrieg an die Westfront zuruck damit war das Prinzip von Leben und leben lassen endgultig obsolet Zeitzeugenberichte BearbeitenDie erste weit verbreitete Darstellung des Systems Leben und leben lassen veroffentlichte John Hay Beith 1915 unter dem Namen Ian Hay Beith war als Offizier bei den Argyll and Sutherland Highlanders ab April 1915 im Fronteinsatz in Frankreich als einer der ersten 100 000 der New Army Sein Buch The First Hundred Thousand war eine Kompilation von Artikeln die er fur Blackwood s Magazine geschrieben hatte Das Buch wurde in mehrere Sprachen ubersetzt und sowohl an der Front als auch in der Heimat gelesen und besprochen Uber nachtliche Arbeiten im Niemandsland und den Umgang mit Nachschub in den fruhen Morgenstunden heisst es darin We perform our nocturnal tasks in front of and behind the firing trench amid a perfect hail of star shells and magnesium lights topped up at times by a searchlight The curious and uncanny part of it all is that there is no firing During these brief hours there exists an informal truce founded on the principle of live and let live It would be child s play to shell the road behind the enemy s trenches crowded as it must be with ration waggons and water carts into a blood stained wilderness But so long as each side confines itself to purely defensive and recuperative work there is little or no interference After all if you prevent your enemy from drawing his rations his remedy is simple he will prevent you from drawing yours Then both parties will have to fight on empty stomachs and neither of them tactically will be a penny the better So unless some elaborate scheme of attack is brewing the early hours of the night are comparatively peaceful Wir fuhren unsere nachtlichen Arbeiten durch vor und hinter dem Schutzengraben beleuchtet durch einen wahren Hagel von Leuchtkugeln und Leuchtraketen von Zeit zu Zeit noch verstarkt durch einen Suchscheinwerfer Das Kuriose und Unheimliche dabei ist dass nicht geschossen wird Wahrend dieser kurzen Stunden gibt es einen informellen Waffenstillstand der auf dem Prinzip Leben und leben lassen beruht Es ware ein Kinderspiel die Strasse hinter den Schutzengraben des Gegners mit Artilleriefeuer zu belegen Jene Strasse jetzt mit Wagen voller Nachschub und Wasser vollgestopft ware dann nur noch ein blutbeschmiertes Nichts Aber solange sich jede Seite auf rein defensive Arbeit oder die Erholung beschrankt gibt es wenig oder keine Einmischung Denn wer den Feind davon abhalt seine Verpflegung zu erhalten bekommt dessen Gegenmittel zu spuren er wird nun verhindern dass die eigene Verpflegung eintrifft Dann mussen beide Seiten mit leerem Magen kampfen und niemand zieht daraus irgendeinen Nutzen Wenn also nicht gerade ein grosser Angriff bevorsteht sind die fruhen Stunden der Nacht vergleichsweise friedlich Ian Hay The First Hundred Thousand 1915 17 Der englische Poet Edmund Blunden beschrieb in seinen 1928 veroffentlichten Kriegsmemoiren wie seine Einheit die Royal Welch Fusiliers im Dorf Boezinge an der Ypern Front abloste Die Stellung und ihr Ausbaugrad waren prekar so dass das Uberleben von Blundens Kameraden vom Leben und leben lassen abhing Our future in short depended on the observance of the ʻLive and Let Live Principle one of the soundest elements in trench war Unfortunately it was not invariably observed Unsere Zukunft hing kurz gesagt von der Einhaltung des Prinzips Leben und leben lassen ab einem der sinnvollsten Bestandteile des Grabenkriegs Leider wurde das Prinzip nicht immer befolgt Edmund Blunden Undertones of War 1928 18 nbsp Frontverlauf am Hartmannswillerkopf an der Vogesen Front im Vordergrund rechts der franzosische Schutzengraben im vollen Schussfeld der deutschen Feste Dora linksDer franzosische Journalist Gabriel Chevallier verarbeitete seine eigenen Kriegserlebnisse in seinen 1930 erschienenen Kriegsmemoiren Darin beschreibt er die Schanzarbeiten an einem Abschnitt der Vogesen Front an dem durch Artilleriefeuer die Schutzengraben beider Seiten stark beschadigt waren Das Niemandsland war hier an manchen Orten im bergigen Gelande nur wenige Dutzend Meter breit Der Schutzengraben der schon fast eingeebnet ist wird von einer Reihe schanzender Soldaten gesaumt die ihre Gewehre neben sich abgestellt haben In zwanzig Metern Entfernung hort man ebenfalls Spaten klappern die gebeugten Soldaten sind gut zu erkennen Dort arbeiten die Deutschen dieser Frontabschnitt ist eine einzige Baustelle Gabriel Chevallier La Peur 1930 19 Ernst Junger berichtete in der Ur Version seiner Kriegstagebucher wiederholt davon wie er das System Leben und leben lassen kennen und auch schatzen lernte 20 In den sieben spateren Editionen seines aus den Tagebuchern entstandenen Werks In Stahlgewittern entfernte Junger solche Texte mit Beschreibungen von Ruhe ja Gemutlichkeit einerseits und unbefangener Abenteuerlust andererseits und entschied sich damit fur die einseitige Darstellung eines Kriegserlebnisses von eschatologisch uberhohten Kriegereliten 20 Darstellungen durch Historiker BearbeitenDie wichtigste Untersuchung des Phanomens stammt von dem englischen Historiker Anthony E Tony Ashworth der das Thema anhand von Tagebuchern Briefen und Zeugnissen von Kriegsveteranen der britischen Armee untersuchte und daruber erstmals 1968 veroffentlichte 21 und bezog alle 57 britischen Divisionen in seine Untersuchung ein die fur mindestens drei Monate im Kampf gestanden hatten Weiter fuhrte er eine Anzahl von Hintergrund Interviews mit Kriegsveteranen beschrankte sich aber in seiner Auswertung auf zeitgenossische Schriftzeugnisse Offizielle Unterlagen und Dienstvorschriften verwendete er nur insofern als daraus Gegenmassnahmen gegen das Prinzip Leben und leben lassen ablesbar waren Dieses Vorgehen erklart sich daraus dass man aus der Nichterwahnung von Fakten die einen Offizier oder Stab im hierarchischen System der Armee in negatives Licht rucken wurden nicht auf die Abwesenheit der Fakten schliessen kann Absence of proof is not proof of absence nur beschrankt sich in diesem Fall der Beweis auf privates Schriftgut Ashworth stellte bei 56 der 57 untersuchten Divisionen das zumindest zeitweise Vorhandensein von informellen Waffenstillstanden und oder die Aufrechterhaltung von Leben und leben lassen fest 22 In seinem Buch Trench warfare 1914 1918 fasst Ashworth 1980 zusammen dass Leben und leben lassen zur Kriegszeit unter britischen Soldaten und Offizieren mit Fronterfahrung allgemein bekannt war Am haufigsten trat das System auf wenn eine Einheit aus dem Kampf zuruckgezogen wurde und an einem ruhigen Frontabschnitt eingesetzt war Insgesamt und uber die Kriegszeit gemittelt machten ruhige Frontabschnitte cushy sectors ungefahr ein Drittel der von britischen Truppen gehaltenen Frontlange aus 23 Der amerikanische Historiker Leonard V Smith veroffentlichte 1994 seine Dissertation in der er die Geschichte der franzosischen 5 Infanterie Division im Ersten Weltkrieg darstellte 24 Besonderer Fokus der Arbeit waren die Beziehungen zwischen Mannschaften und Frontoffizieren sowie die Meutereien von 1917 Dabei argumentiert Smith in direktem Bezug auf die Thesen von Ashworth dass Leben und leben lassen keineswegs ein zeitweiser unausgesprochener Waffenstillstand gewesen sei Stattdessen sei der Grad der vorherrschenden Gewalt im Grabenkrieg bei Ausklammern von grossen Angriffen immer ein Punkt in einem Kontinuum Dieses Kontinuum reicht von effektiver Waffenruhe mit ein paar bewusst ungezielten Schussen pro Tag bis hin zu praktisch konstantem Beschuss durch Artillerie Granatwerfer und Scharfschutzen verbunden mit Patrouillen Stosstrupp Unternehmen und Uberfallen Weder Mannschaften noch Offiziere oder Generalstab erwarteten die Entscheidung des Krieges im Grabenkampf der auf strategischer Ebene ein Patt darstellte Daher ging es stets um die Wahl eines zum jeweiligen Zeitpunkt sinnvollen Punktes im Gewalt Kontinuum und nicht um eine Entweder oder Entscheidung In der Praxis wurde diese Wahl zwischen Mannschaften und Offizieren ausgehandelt meist nicht explizit sondern durch Befolgen oder Nicht beziehungsweise Scheinbar Befolgen von Befehlen 25 2005 erschien das von Marc Ferro herausgegebene Buch Freres de tranchees Bruder des Schutzengrabens an dem franzosische britische und deutsche Historiker beteiligt waren 26 Neben einer erneuten Untersuchung des Weihnachtsfriedens von 1914 enthalt das Werk Aussagen uber Fraternisierung und Gewaltvermeidung zwischen britischen und deutschen Truppen an der Westfront sowie uber den Nicht Kampfgeist der osterreichisch ungarischen Armee beides anhand von Akten der militarischen Briefzensur Bei den russischen Truppen an der Ostfront fuhrte Nicht Schiessen zu Verbruderung und letztlich zur Revolution Nach dem Erfolg des Films Merry Christmas uber den Weihnachtsfrieden erschien das Werk auch in englischer Ubersetzung 27 Spieltheorie BearbeitenDer amerikanische Politikwissenschaftler Robert Axelrod charakterisierte 1984 in seinem vielbeachteten Buch The Evolution of Cooperation die Situation zwischen den gegnerischen Grabenbesatzungen im Ersten Weltkrieg als eine Form des Gefangenendilemmas In diesem Dilemma aus der Spieltheorie werden zwei hypothetische Gefangene als Mittater eines Verbrechens beschuldigt Beim Verhor konnen sie nicht miteinander kommunizieren Leugnen beide erhalt jeder eine niedrige Strafe Der Spielzug des Leugnens wird als kooperieren C displaystyle C nbsp von cooperate bezeichnet Gesteht nur ein Gefangener geht dieser straffrei aus wahrend der die Tat leugnende Gefangene die Hochststrafe bekommt Gestehen beide wird jeder gleich streng bestraft Der Spielzug des Gestehens wird als abtrunnig werden D displaystyle D nbsp von defect bezeichnet Das Dilemma besteht darin dass sich jeder Gefangene besser stellt wenn er gesteht das ist die dominante Strategie Kollektiv gesehen ist das jedoch nicht optimal Beim iterativen Gefangenendilemma andert sich die Situation wie Axelrod in mehreren Computersimulationen zeigen konnte Dabei setzt sich die Strategie Tit for Tat durch Diese Strategie beginnt immer mit einem kooperativen Zug Jeder folgende Zug spiegelt dann das Verhalten des Gegners Auf Kooperation folgt also Kooperation abtrunniges Verhalten wird mit abtrunnigem Verhalten beantwortet 28 Axelrod stutzte sich mit seinen spieltheoretischen Thesen zum Grabenkrieg einzig auf die Untersuchungen von Ashworth unternahm also keine eigene historische Forschung zum Ersten Weltkrieg Jede der beiden Seiten im Grabenkrieg sah Axelrod als einen der Gefangenen im Dilemma Die Nicht Ausubung von Gewalt gegen die andere Seite sei ein kooperativer Spielzug C displaystyle C nbsp hingegen sei die Ausubung von Gewalt ein abtrunniger Spielzug D displaystyle D nbsp Da sich dieselben Gegner uber Tage und Wochen gegenuberstehen kann kooperatives Verhalten belohnt und abtrunniges Verhalten bestraft werden Dadurch kann sich die Strategie Tit for Tat durchsetzen und es entsteht Kooperation 28 Axelrods Interpretation von Leben und leben lassen als Gefangenendilemma wurde von der Politologin Joanne Gowa in ihrer Besprechung von Axelrods Werk 1986 abgelehnt Nach ihrer Ansicht sollte das Dilemma der Frontsoldaten eher als assurance game interpretiert werden 29 Der Philosoph Rudolf Schussler schloss sich 1990 in seiner Dissertation dieser Kritik an So sei nicht ersichtlich welchen unmittelbaren Nutzen der einzelne Soldat aus aggressivem Verhalten D displaystyle D nbsp ziehen wurde Im Gegenteil wurde ein gezielter Schuss mit hoher Sicherheit gezieltes Gegenfeuer auf ihn ziehen Hingegen wurde eine Schwachung des Gegners wahrscheinlich nicht ihm personlich zugutekommen da ein etwaig geplanter Angriff der Gegenseite erst in Wochen oder Monaten zu erwarten sei zu diesem Zeitpunkt wurde die Einheit des Soldaten vermutlich an anderer Stelle stehen 30 Der Statistiker Andrew Gelman Columbia University kritisierte Axelrod 2008 mit dem gleichen Argument wie Gowa und Schussler allerdings ohne diese zu zitieren und kam zum Schluss dass es sich bei Leben und leben lassen nicht um ein Gefangenendilemma handele Fur den einzelnen Soldaten sei es weniger riskant nicht zu schiessen C displaystyle C nbsp daher ist aus spieltheoretischer Sicht der Nutzen englisch Utility U displaystyle U nbsp aus der Kooperation grosser als der Nutzen aus der Nicht Kooperation U D lt U C displaystyle U D lt U C nbsp Wie S L A Marshall in Men against Fire ausgefuhrt habe vermied die Mehrzahl der amerikanischen Infanteristen im Zweiten Weltkrieg den direkten Schuss auf den Gegner und dies in weniger statischen Situationen als sie dem System Leben und leben lassen zugrunde liegen Trotz dieser eklatanten Mangel sei die Theorie von Axelrod gemass Gelman attraktiv weil sie trotz der unmenschlichen Situation des Grabenkriegs einen Hoffnungsschimmer aufzeigt Kooperation sei selbst zwischen Todfeinden moglich diese These war gerade 1984 aktuell einer Zeit des wiedererstarkenden Kalten Krieges 31 Literatur BearbeitenAnthony E Ashworth The sociology of trench warfare 1914 18 In The British Journal of Sociology Jg 19 Nr 4 Dezember 1968 S 407 423 doi 10 2307 588181 Tony Ashworth Trench warfare 1914 1918 the live and let live system Macmillan London 1980 Auszuge Aktuelle Taschenbuch Ausgabe Pan Macmillan London 2000 ISBN 0 330 48068 5 Tony Ashworth The Live and Let Live System In Michael S Neiberg Hrsg The World War I Reader NYU Press New York 2007 ISBN 978 0 8147 5832 8 S 208 226 Robert Axelrod The Evolution of Cooperation Basic Books New York 1984 ISBN 0 465 02122 0 Kapitel 4 The Live and Let Live System in Trench Warfare in World War I S 73 87 Einzelnachweise Bearbeiten Tony Ashworth The Live and Let Live System In Michael S Neiberg Hrsg The World War I Reader New York 2007 S 208 209 Tony Ashworth Trench warfare 1914 1918 the live and let live system Macmillan London 1980 S 119 f Tony Ashworth Trench warfare 1914 1918 the live and let live system Macmillan London 1980 S 114 Tony Ashworth Trench warfare 1914 1918 the live and let live system Macmillan London 1980 S 109 110 Tony Ashworth The Live and Let Live System In Michael S Neiberg Hrsg The World War I Reader New York 2007 S 214 a b Tony Ashworth Trench warfare 1914 1918 the live and let live system Macmillan London 1980 S 45 Tony Ashworth Trench warfare 1914 1918 the live and let live system Macmillan London 1980 S 150 Tony Ashworth The Live and Let Live System In Michael S Neiberg Hrsg The World War I Reader New York 2007 S 216 Tony Ashworth Trench warfare 1914 1918 the live and let live system Macmillan London 1980 S 119 123 Tony Ashworth The Live and Let Live System In Michael S Neiberg Hrsg The World War I Reader New York 2007 S 215 Tony Ashworth Trench warfare 1914 1918 the live and let live system Macmillan London 1980 S 44 45 Tony Ashworth The Live and Let Live System In Michael S Neiberg Hrsg The World War I Reader New York 2007 S 221 f Tony Ashworth Trench warfare 1914 1918 the live and let live system Macmillan London 1980 S 41 47 General Staff War Office Hrsg Notes for infantry officers on trench warfare HMSO London 1916 S 10 11 Amerikanischer Nachdruck von 1917 Tony Ashworth The Live and Let Live System In Michael S Neiberg Hrsg The World War I Reader New York 2007 S 221 Andre Bach Die Stimmungslage der an der franzosischen Front 1917 bis 1918 eingesetzten Soldaten nach den Unterlagen der Briefzensur In Jorg Duppler und Gerhard P Gross Kriegsende 1918 Ereignis Wirkung Nachwirkung Oldenbourg Munchen 1999 ISBN 3 486 56443 9 S 205 206 Ian Hay The First Hundred Thousand K 1 1915 Online Edmund Blunden Undertones of War London 1928 zitiert nach Ashworth Trench Warfare 1914 1918 Die aktuelle Blunden Ausgabe Oxford University Press Oxford 2015 ISBN 978 0 19 871661 7 S 18 f enthalt dieses Zitat nicht mehr Zitiert nach Jorn Leonhard Die Buchse der Pandora Geschichte des Ersten Weltkrieges C H Beck Munchen 2014 ISBN 978 3 406 66192 1 S 335 a b Harro Segeberg Von Kanon zu Kanon Ernst Junger als Jahrhundertautor In Matthias von Beilein Claudia Stockinger Simone Winko Hrsg Kanon Wertung und Vermittlung Literatur in der Wissensgesellschaft Nr 129 Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur de Gruyter Berlin 2012 ISBN 978 3 11 025996 4 S 111 A E Ashworth The sociology of trench warfare 1914 18 In The British Journal of Sociology Jg 19 Nr 4 Dezember 1968 S 407 423 Thomas Heinzen Wind Goodfriend Case Studies in Social Psychology Critical Thinking and Application SAGE 2018 ISBN 978 1 5443 0890 6 Kapitel 10 2 The Bacon Truce Zig Zags and the Development of Co operation Tony Ashworth Trench warfare 1914 1918 the live and let live system Macmillan London 1980 Leonard V Smith Between mutiny and obedience the case of the French Fifth Infantry Division during World War I Princeton University Press Princeton NJ 1994 ISBN 0 691 03304 8 Leonard V Smith Between mutiny and obedience Princeton 1994 S 89 91 Marc Ferro Olaf Muller Malcolm Brown Remy Cazals Freres de tranchees Perrin Paris 2005 ISBN 2 262 02159 7 Marc Ferro Malcolm Brown Remy Cazals Olaf Mueller Meetings in No Man s Land Christmas 1914 and Fraternisation in the Great War aus dem Franzosischen von Helen McPhail Constable London 2007 ISBN 978 1 4721 1280 4 Auszuge a b Robert Axelrod The Evolution of Cooperation New York 1984 S 73 87 Joanne Gowa Anarchy Egoism and Third Images The Evolution of Cooperation and International Relations In International Organization Vol 40 No 1 Winter 1986 S 167 186 JSTOR 2706746 Rudolf Schussler Kooperation unter Egoisten 4 Dilemmata Oldenbourg Munchen 1990 ISBN 978 3 486 55836 4 S 25 32 Andrew Gelman Methodology as ideology Some comments on Robert Axelrod s The Evolution of Cooperation In Rivista dell Associazione Rossi Doria ISSN 1971 4017 Jahrgang 2008 Nr 2 S 167 176 nbsp Dieser Artikel wurde am 23 November 2018 in dieser Version in die Liste der lesenswerten Artikel aufgenommen Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Leben und leben lassen Erster Weltkrieg amp oldid 238281369