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Der Begriff Ideen von 1914 beschreibt die publizistische Reaktion national gesinnter Intellektueller in Deutschland auf den Ausbruch des Ersten Weltkrieges und das sogenannte Augusterlebnis Wahrend des Krieges entwickelten sich daraus nationalpolitische Sinndeutungen und Zukunftsentwurfe Sie umfassten u a Vorstellungen uber die politische Neugestaltung Deutschlands die auf eine Aufhebung der Ideale der Franzosischen Revolution der Ideen von 1789 Freiheit Gleichheit Bruderlichkeit gerichtet waren Dabei wurden antiliberale antidemokratische und korporatistische Konzeptionen von Staat und Volk befurwortet oft ohne diese Stimmungslagen zu konkretisieren Inhaltsverzeichnis 1 Entstehung 2 Inhalt 3 Literatur 4 EinzelnachweiseEntstehung BearbeitenDas Schlagwort Ideen von 1914 wurde schon wahrend der ersten Kriegstage gepragt Steffen Bruendel benennt als Erfinder den Nationalokonomen und Soziologen Johann Plenge Der Begriff wurde schnell von Historikern Philosophen Kulturschaffenden usw aufgegriffen die auf eine ideologische Sinnstiftung des Krieges abzielten Dabei wurden einerseits Elemente der Demokratiekritik des 19 Jahrhunderts aufgegriffen andererseits auch aktuelle Diskussionen 1 Durch ihre fehlende Eindeutigkeit boten sie sowohl Anschlussmoglichkeiten nach rechts wie links Eine der ersten bedeutenden Manifestationen war das durch den Goethe Bund initiierte Manifest der 93 vom 4 Oktober 1914 Inhalt BearbeitenDie Ideen von 1914 wurzelten in dem im 19 und fruhen 20 Jahrhundert gepflegten nationalistisch romantischen Selbstverstandnis dass Deutschland eine Sonderkultur darstelle In der ideologischen Fundierung der deutschen Kriegsanstrengungen durch eine intellektuelle teilweise aber auch die jugendbewegte Elite fand diese Theorie einen Hohepunkt Die Ideen richteten sich propagandistisch gegen englische Kramerseelen gallische Oberflachlichkeit und slawischen Despotismus und knupften an Phobien der Vorkriegszeit an Englandhass und Antisemitismus Germanisierungsdunkel und romantisierende Deutschtumelei Dahinter steckte aber auch ein expliziter Angriff gegen den englischen Liberalismus und die franzosische Demokratie Stattdessen wurde die Schutzengrabengemeinschaft zur Losung fur Probleme der deutschen Klassengesellschaft erhoben 2 Kernpunkt der Ideologie war die Vorstellung von den Eigenheiten des deutschen Wesens in Kultur Gesellschaft und Politik Thomas Mann etwa stellte in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen Gegensatzpaare wie Kultur und Zivilisation sowie Gemeinschaft und Gesellschaft auf Er argumentierte nur Deutschland stehe fur eine echte Kultur schopferisch und tiefsinnig zugleich bieder und tatkraftig Dagegen wurden die anderen europaischen Staaten nur Zivilisationen verkorpern Zivilisation aber sei etwas Welsches Romanisches steril und oberflachlich zugleich tuckisch und zungenfertig Dem gleichheitsbetonenden Ideal einer Gesellschaft wie es die Franzosische Revolution propagiert hatte stellten die Vertreter der Ideen von 1914 ein organisches Konzept der Gemeinschaft entgegen Dahinter stand auch die Bemuhung im Rahmen der innenpolitischen Burgfriedenspolitik alle Bevolkerungsteile in eine nationale Einheitsfront zu integrieren und den durch den Krieg geschaffenen Zusammenhalt Kriegssozialismus fur eine dauerhafte Solidarisierung innerhalb der Volksgemeinschaft zu nutzen Der deutsche Schriftsteller Richard Dehmel ein Wegbereiter des Expressionismus interpretierte 1916 den Krieg wie folgt Um unser hochstes Seelengut geht der Krieg unsern Geist will man niederkampfen unsre eigentumliche Kraft die jene korperlichen Besitztumer in so kurzer Zeit emporwachsen liess dass den andern Volkern um ihre Zukunft bangt um den Machtbereich ihres eigenen Geists Diese unsre Schaffenskraft will man knebeln 3 Die Auslegung des Ersten Weltkrieges als einen Vernichtungskampf gegen das uberlegene deutsche Sonderwesen war eine ideologische Novitat und folgenschwer Der nach dieser Interpretation von den Staaten der Entente aus Hass Neid und Verzweiflung entfesselte Krieg richte sich nicht gegen Militar Okonomie etc sondern gegen das alle materiellen Leistungen uberhaupt erst ermoglichende Deutschtum Der Krieg wurde in dieser Interpretation damit aus allen militarischen okonomischen und politischen Zusammenhangen herausgelost und erhielt eine geradezu heilsgeschichtliche Qualitat Im August 1914 meinte man eine Wiedergeburt des deutschen Wesens erkennen zu konnen der Krieg wische die bedrohliche Dekadenz weg Im Ruckblick fallt sehr bald ein eklatanter Widerspruch auf zwischen der Idee einer zur geistigen Fuhrung der Welt berufenen deutschen Sonderart und den vielfachen Klagen uber eine abgrundtiefe Dekadenz der Jahre vor dem Krieg Fur die Zeitgenossen loste sich dieser Widerspruch durch die Auffassung einer unter dem Druck des neuen Krieges eingetretenen Wiedergeburt Gerhart Hauptmann des wahren des alten deutschen Wesens Rudolf Borchardt Die allgemeine Uberzeugung einer einzigartigen Revolution der deutschen Seele Otto Ernst im Moment der Mobilmachung bildet den wohl entscheidenden Schlussel zum spateren Verstehen der Kriegsbegeisterung vom Herbst 1914 Die Wiedergeburt des deutschen Wesens manifestierte sich in einer schlagartigen Ruckbesinnung der Deutschen auf ihre eigentlichen Tugenden und Denkhaltungen Fur Robert Musil gehorten dazu an erster Stelle Treue Mut Unterordnung und Pflichterfullung Ganz ahnlich bestimmte Hermann Bahr Entsagung Pflicht und Ehrfurcht als konstitutive Merkmale der deutschen Personlichkeit 4 Der kriegsfreiwillige Schriftsteller Walter Flex schrieb im Fruhjahr 1917 als Nachwort zu Der Wanderer zwischen beiden Welten das eines der sechs meistverkauften deutschen Bucher des 20 Jahrhunderts wurde Ich bin heute innerlich so kriegsfreiwillig wie am ersten Tage Ich bin s und war es nicht wie viele meinen aus nationalem sondern aus sittlichem Fanatismus Nicht nationale sondern sittliche Forderungen sind s die ich aufstelle und vertrete Was ich von der Ewigkeit des deutschen Volkes und von der welterlosenden Sendung des Deutschtums geschrieben habe hat nichts mit nationalem Egoismus zu tun sondern ist ein sittlicher Glaube der sich selbst in der Niederlage oder im Heldentode eines Volkes verwirklichen kann Mein Glaube ist dass der deutsche Geist im August 1914 und daruber hinaus eine Hohe erreicht hat wie sie kein Volk vordem gesehen hat Glucklich jeder der auf diesem Gipfel gestanden hat und nicht wieder herabzusteigen braucht Die Nachgeborenen des eigenen und fremder Volker werden diese Flutmarke Gottes uber sich sehen an den Ufern an denen sie vorwartsschreiten Das ist mein Glaube und mein Stolz und mein Gluck das mich allen personlichen Sorgen entreisst 5 Die Realitat und das Scheitern der so sicher erwarteten Ubernahme der geistigen Weltherrschaft durch die sendungsvolle Thomas Mann deutsche Wesensart musste die Anhanger einer weltgeschichtlichen Missionsaufgabe des deutschen Wesens zutiefst verstoren Die Schuld dafur wurde immer mehr bei einem inneren Feind gesucht der die grossartige geistig moralische Erhebung des deutschen Volkes vom August 1914 untergraben und zerstort hatte Mit dem Kriegsende 1918 kam dann zu der Auffassung eines geistigen Verrats noch die Behauptung des Dolchstosses also die Schuldzuweisung fur den militarischen Ausgang des Krieges an die vermeintlich von Juden und Bolschewisten beherrschte Sozialdemokratie Damit war eine wichtige Basis gelegt fur den spateren Erfolg volkisch nationaler Ideologie Eine neue Generation gehartet in den Stahlgewittern des Ersten Weltkrieges galt nun als auserwahlt zur Revision der Weltgeschichte 6 Diese Vorstellungen lassen sich in eine Kontinuitat mit der Argumentation der antidemokratischen Rechten in der Weimarer Republik Konservative Revolution und mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus stellen Bruendel jedoch kritisiert dass die Ideen von 1914 deshalb bisher vor allem in moralisierender Weise als irrationale prafaschistische Verirrungen abqualifiziert worden seien ohne dass der Versuch gemacht worden sei deren begrifflich rekonstruierbaren rationalen Kern werturteilsfrei herauszuarbeiten Literatur BearbeitenBeispielhafte Schriften Adolf von Harnack Was wir schon gewonnen haben und was wir noch gewinnen mussen Rede am 29 September 1914 Verlag Carl Heymann Berlin 1914 auch in Adolf von Harnack als Zeitgenosse Walter de Gruyter Berlin New York 1996 Rudolf Kjellen Die Ideen von 1914 Eine weltgeschichtliche Perspektive Leipzig 1915 Thomas Mann Gedanken zum Kriege 1914 und Betrachtungen eines Unpolitischen 1918 Paul Natorp Uber den gegenwartigen Krieg 17 September 1914 In Kolnische Zeitung S 15 f Der Tag der Deutschen Vier Kriegsaufsatze Hagen 1915 und Krieg und Friede Drei Reden Munchen 1915 Friedrich Naumann Mitteleuropa Reimer Berlin 1915 Johann Plenge 1789 und 1914 Die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Geistes Springer Berlin 1916 Gustav Radbruch Zur Philosophie dieses Krieges Eine methodologische Abhandlung In Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozialpolitik Jg 44 1917 S 139 160 Max Scheler Der Genius des Kriegs und der Deutsche Krieg 1915 und Krieg und Aufbau 1916 Georg Simmel Der Krieg und die geistigen Entscheidungen Leipzig 1917 Werner Sombart Handler und Helden 1915 Ernst Troeltsch Die Ideen von 1914 Rede gehalten vor der Deutschen Gesellschaft in Die neue Rundschau 27 1916 S 605 624 auch separat Berlin 1916 Wiederabdr in Deutscher Geist und Westeuropa S 31 58 Forschungsliteratur Barbara Besslich Wege in den Kulturkrieg Zivilisationskritik in Deutschland 1890 1914 Phil Diss 2000 exemplarisch uber Th Mann Eucken Bahr und Plenge Steffen Bruendel Volksgemeinschaft oder Volksstaat Die Ideen von 1914 und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg Akademie Verlag Berlin 2003 Kurt Flasch Die geistige Mobilmachung Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg Berlin 2000 Domenico Losurdo Die Gemeinschaft der Tod das Abendland Heidegger und die Kriegsideologie Metzler Stuttgart 1995 Hans Maier Ideen von 1914 Ideen von 1939 Zweierlei Kriegsanfange In VfZ 38 4 1990 S 525 542 PDF Wolfgang J Mommsen Hg Kultur und Krieg Die Rolle der Intellektuellen Kunstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien 34 Munchen 1996 PDF Wolfgang J Mommsen Der Geist von 1914 Das Programm eines politischen Sonderweges der Deutschen In Ders Der autoritare Nationalstaat Verfassung Gesellschaft und Kultur des deutschen Kaiserreiches Frankfurt am Main 1992 S 407 421 Klaus Schwabe Wissenschaft und Kriegsmoral Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges Gottingen 1969 Jurgen und Wolfgang von Ungern Sternberg Der Aufruf An die Kulturwelt Das Manifest der 93 und die Anfange der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg Stuttgart 1996 Ralph Rotte Die Ideen von 1914 Weltanschauliche Probleme des europaischen Friedens wahrend der ersten Globalisierung Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit Bd 22 Hamburg 2001 Personenbezogene Forschungsliteratur Nils Bruhn Vom Kulturkritiker zum Kulturkrieger Paul Natorps Weg in den Krieg der Geister Konigshausen amp Neumann 2007 Michael Busch Der Gesellschaftsingenieur Johann Plenge 1874 1963 Veroffentlichungen des Universitatsarchivs Munster 13 Munster Aschendorff 2019 Peter Hoeres Der Krieg der Philosophen Die deutsche und britische Philosophie im Ersten Weltkrieg 2004 Raimund Neuss Anmerkungen zu Walter Flex Die Ideen von 1914 in der deutschen Literatur Ein Fallbeispiel SH Verlag Schernfeld 1992 Andreas Peschel Friedrich Naumanns und Max Webers Mitteleuropa Eine Betrachtung ihrer Konzeptionen im Kontext mit den Ideen von 1914 und dem Alldeutschen Verband Dresden 2005 ISBN 3 938863 00 5 Weblinks Wolfgang Kruse Kriegsideologie und moderne Massenkultur im Dossier Erster Weltkrieg der Bundeszentrale fur politische BildungEinzelnachweise Bearbeiten Maier Ideen von 1914 S 526 f Hans Ulrich Wehler Das Deutsche Kaiserreich 1871 1918 Deutsche Geschichte Band 9 3 Auflage Vandenhoeck amp Ruprecht Gottingen 1977 S 211 Zitat nach Helmut Fries Deutsche Schriftsteller im Ersten Weltkrieg In Wolfgang Michalka Hrsg Der Erste Weltkrieg Weyarn 1997 S 833 Helmut Fries Deutsche Schriftsteller im Ersten Weltkrieg In Wolfgang Michalka Hrsg Der Erste Weltkrieg Weyarn 1997 S 834 f Walter Flex Der Wanderer zwischen beiden Welten Munchen o J Aufl 315 bis 321 Tausend ca 1930 zuletzt neu aufgelegt 1998 S 101 Helmut Fries Deutsche Schriftsteller im Ersten Weltkrieg In Wolfgang Michalka Hrsg Der Erste Weltkrieg Weyarn 1997 S 844 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Ideen von 1914 amp oldid 230198472