Die Kernenergie in Deutschland erreichte zeitweise einen Anteil von bis zu 30 % am deutschen Strommix. Zwischen 1961 und 2023 wurden insgesamt 37 Kernreaktoren kommerziell betrieben, wobei überwiegend Druck- und Siedewasserreaktoren im Einsatz waren.
Anfängliche Euphorie über die neue Technik wich im Laufe der Jahre zunehmender Skepsis und Ablehnung, was schließlich zum Atomausstieg führte. Infolgedessen wurden die die letzten drei Kernkraftwerke in Deutschland am 15. April 2023 abgeschaltet.
Geschichte Bearbeiten
Allgemeines Bearbeiten
Im Juni 1961 speiste das Versuchsatomkraftwerk Kahl erstmals Strom in das westdeutsche Verbundnetz ein. In den darauf folgenden Jahren entstanden weitere Kernkraftwerke, darunter das erste wirtschaftlich genutzte Kernkraftwerk der DDR, das Kernkraftwerk Rheinsberg. Anfangs dominierte eine Euphorie bezüglich der Kernkraft als saubere und zuverlässige Energiequelle. In den 1990er Jahren betrug der Anteil der Kernenergie am deutschen Strommix rund 30 Prozent. Doch ab 2011 nahm die Stromproduktion aus Kernenergie kontinuierlich ab, als die deutsche Regierung beschloss, aus der Kernkraft auszusteigen. Im April 2023 wurden die letzten drei Kernkraftwerke, Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2, abgeschaltet. Während der gesamten Ära der Kernkraftnutzung betrieben die deutschen Kernkraftwerke insgesamt 37 Reaktoren und erzeugten fast 5.600 Terawattstunden (TWh) elektrischen Strom. Diese Menge entspricht in etwa dem Zehnfachen des jährlichen Gesamtverbrauchs in Deutschland (ca. 550 TWh im Jahr 2022).
Die deutschen Kernkraftwerke, insbesondere die auf Leichtwasserreaktoren basierenden Anlagen, genossen international einen guten Ruf in Bezug auf ihre (sicherheits-)technische Auslegung. Im internationalen Vergleich verzeichneten die deutschen Anlagen wenige sicherheitsrelevante Zwischenfälle. Die drei in Deutschland bis zuletzt betriebenen Konvoi-Anlagen erzielten Verfügbarkeiten von über 90 Prozent, während der internationale Durchschnitt bei 80 bis 85 Prozent lag. Einige Länder übernahmen deutsche Designs für ihre eigenen Kernkraftwerke. Dies umfasst Anlagen in Argentinien, Brasilien, der Schweiz, Spanien und den Niederlanden.
In der DDR wurden Kernkraftwerke in Rheinsberg und Greifswald betrieben, die auf sowjetischen Wasser-Wasser-Energie-Reaktoren (WWER) basierten. Das Kernkraftwerk Rheinsberg speiste ab 1966 mit einem WWER-70 rund 62 MW Leistung Strom ins Netz ein, später gefolgt von einem Druckwasserreaktor in Greifswald. In Greifswald wurden insgesamt vier WWER-440-Blöcke betrieben, während ein weiterer (Block 5) zur Zeit der Wiedervereinigung in Betrieb genommen wurde und drei weitere im Bau waren. Aufgrund von Sicherheitsbedenken wurden die Anlagen in Greifswald und Rheinsberg im Jahr 1990 stillgelegt.
Kontroversen und Atomausstieg Bearbeiten
Zwischen 1957 und 2004 wurden in Deutschland etwa 110 kerntechnische Anlagen in Betrieb genommen. Dabei waren der erfolgreiche Kampf und der auf einer breiten Basis in der Bevölkerung beruhende Widerstand gegen die Errichtung eines Kernkraftwerk Wyhl am Kaiserstuhl zwischen 1975 und 1982 ein grundlegender Impuls für die neuzeitliche Antiatomkraft-, Bürgerinitiativen- und Umweltbewegung in Deutschland, inklusive der Herausbildung und Gründung einer „grünen“ Partei.
Ein „Ausstieg aus der Kernenergie“ wurde hier erstmals im Jahr 2000 in einem „Atomkonsens“ genannten Vertrag der Bundesrepublik mit den verschiedenen Betreibergesellschaften geregelt. 2002 wurde das deutsche Atomgesetz auf Grundlage dieses Vertrags novelliert.
Am 28. Oktober 2010 beschloss der Bundestag mit schwarz-gelber Mehrheit unter dem Kabinett Merkel II mit einer weiteren Novelle des Atomgesetzes nun eine Laufzeitverlängerung, demnach sollten:
- die Betriebszeiten der vor 1980 in Betrieb gegangenen sieben Anlagen um je acht Jahre verlängert und
- die der zehn übrigen Kernkraftwerke um je 14 Jahre verlängert werden.
Dies wurde in der Öffentlichkeit als Ausstieg aus dem Ausstieg bezeichnet.
Diese Laufzeitverlängerung wurde 2011 – nach dem Beginn der Nuklearkatastrophe von Fukushima – revidiert. Dies wurde in der Öffentlichkeit als Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg bezeichnet.
Im Atomkonsens wurde ausgehend von einer Regellaufzeit von etwa 32 Jahren bestimmt, welche „Reststrommenge“ ein Kernkraftwerk vor seiner Stilllegung noch produzieren darf. Legte man die Stromproduktion der einzelnen Kraftwerke aus der Vergangenheit zu Grunde, ergäbe sich aus den damals zugeteilten Reststrommengen, dass etwa 2021 das letzte von 19 deutschen Kernkraftwerken stillgelegt werden würde. Da im Rahmen des Atomkonsenses Reststrommengen zwischen Kraftwerken übertragen werden konnten, wurden die Kernkraftwerke Stade (am 14. November 2003) und Obrigheim (am 11. Mai 2005) stillgelegt.
Ab 1979 wurde bei Gorleben ein Salzstock auf seine Eignung als Endlagerstätte für Brennelemente und hochradioaktive Abfälle aus Kernkraftwerken untersucht. Das Ziel war die Errichtung eines Endlagers für hochradioaktive Abfälle. Seit 2000 ist die Erkundung des Salzstockes auf politischen Druck hin unterbrochen. Das auf drei bis zehn Jahre angelegte Moratorium wurde auf der Grundlage der von der Bundesregierung mit den Energieversorgungsunternehmen getroffenen Vereinbarung in Kraft gesetzt (Stand 2010).
Die (2005 bis 2009 regierende) große Koalition (CDU/CSU und SPD) konnte sich nicht auf eine einheitliche Position zur Kernenergie einigen. Im Koalitionsvertrag von 2005 wurde das Fortbestehen der 2002 von der rot-grünen Regierung getroffenen Regelung vereinbart.
Nach der Bundestagswahl 2009 beschlossen CDU und FDP in ihrem Koalitionsvertrag die „Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke […] zu verlängern“. Dazu fanden am 21. Januar 2010 erstmals nach dem Regierungswechsel 2009 Gespräche zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgern statt.
Eine Vereinbarung über eine Laufzeitverlängerung der deutschen Kernkraftwerke wurde am 6. September 2010 öffentlich vorgestellt. Die Laufzeit von Kernkraftwerken, die vor 1980 gebaut wurden, wurde um acht Jahre verlängert. Neuere Reaktoren durften vierzehn Jahre länger laufen. Im Gegenzug verpflichten sich die Energiekonzerne zu einer jährlichen Zahlung von je 300 Millionen Euro in den Jahren 2011 und 2012 und von je 200 Millionen Euro bis 2016. Geplant war, mit diesen Mittel den Energie- und Klimafonds zu finanzieren. Zudem führte die Bundesregierung (wie am 6. September avisiert) für sechs Jahre – vom 1. Januar 2011 bis 31. Dezember 2016 – eine Brennelementesteuer in Höhe von jährlich 2,3 Milliarden Euro ein. Nach dem am 14. März 2011 bekanntgegebenen Laufzeit-Moratorium stellten die Betreiber ihre Zahlungen an den Energie- und Klimafonds ein.
Rechtliches Bearbeiten
Genehmigungsrecht Bearbeiten
Die Errichtung und der Betrieb eines Kernkraftwerkes sowie alle wesentlichen Änderungen bis hin zu Stilllegung und Abbau müssen in Deutschland nach Atomrecht genehmigt werden. Wesentlich ist hier § 7 „Genehmigung von Anlagen“ des Atomgesetzes.
Da derzeit in Deutschland keine neuen Kernkraftwerke errichtet werden dürfen (siehe Atomausstieg), bezieht sich daher § 7 Atomgesetz in der Praxis gegenwärtig nicht auf den Neubau von Anlagen.
Es besteht in atomrechtlichen Genehmigungsverfahren für Kernkraftwerke eine Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) als Teil des atomrechtlichen Genehmigungsverfahrens.
Zusätzlich gelten hier die Regelungen des Euratom-Vertrags. Art. 37 des Euratom-Vertrags verpflichtet jeden Mitgliedstaat, bestimmte Angaben zur Freisetzung radioaktiver Stoffe, auch beim Neubau oder Abbau von Kernkraftwerken, der EU-Kommission zu übermitteln. Erst nach Veröffentlichung einer Stellungnahme der EU-Kommission darf mit dem Vorhaben begonnen werden.
Die Eintrittswahrscheinlichkeit und die Schwere der Auswirkungen von Unfällen in Kernkraftwerken ist nicht unmittelbar einsichtig. Um der Regierung und Ministerien die für Entscheidungen nötigen sachlichen Informationen zur Verfügung zu stellen, wurde Mitte der 70er Jahre die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit gegründet. Ein Ergebnis dieses in staatlichem Eigentum befindlichen Forschungsinstituts ist die Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke, in der versucht wurde, das Risiko von Unfällen realistisch abzuschätzen. Sie gibt als Größenordnung der Eintrittswahrscheinlichkeit für das Kernkraftwerk Biblis B folgende Werte an: Kernschmelze einmal pro 10.000 bis 100.000 Jahre, bei Berücksichtigung anlageninterner Notfallmaßnahmen einmal pro 100.000 bis 1.000.000 Jahre, Kernschmelze mit bedeutender Belastung des Sicherheitsbehälters einmal pro 1.000.000 bis 100.000.000 Jahre. Dem gegenüber steht die 1992 vom Bundeswirtschaftsministerium in Auftrag gegebene Prognos-Studie „Abschätzung der Schäden durch einen sogenannten Super-Gau“, die die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Super-GAU bei 33.333 Betriebsjahren pro Reaktor bzw. bei 1.666 Betriebsjahren für 20 Reaktoren in Deutschland insgesamt sieht.
Angesichts der Schwere der möglichen Folgen von Unfällen ist die Genehmigung zum Betrieb von Kernkraftwerken generell an strenge technische und organisatorische Auflagen gebunden, die staatlich überwacht werden. In Deutschland verpflichtet das Atomgesetz die Betreiber eines Kernkraftwerks, die erforderliche Vorsorge vor Schäden stets auf dem „Stand von Wissenschaft und Technik“ zu halten. Für die Erteilung von Genehmigungen sind Ministerien zuständig. In Deutschland war das zunächst ein Landesministerium und übergeordnet auf Bundesebene das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU). In seinem Auftrag überwacht das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) den Betrieb kerntechnischer Anlagen. Im Zuge der Novellierung sind die meisten Zuständigkeiten ab 2006 auch in Genehmigungsfragen auf das Bundesministerium übergegangen.
Emissionsüberwachung Bearbeiten
Das Atomgesetz schreibt den Betreibern sowohl die Emissionsüberwachung wie auch die Mitteilung an die zuständigen Landesbehörden vor. Das Atomgesetz verpflichtet die Aufsichtsbehörden, neben Umgang und Verkehr mit radioaktiven Stoffen allgemein auch die Errichtung, den Betrieb und den Besitz von kerntechnischen Anlagen in einer Weise zu überwachen, dass sie von der Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften und ihrer auf diesen Vorschriften beruhenden Anordnungen und Verfügungen sowie der Bestimmungen des Bescheids über die Genehmigung und nachträglicher Auflagen durch die Betreiber dieser Anlagen überzeugt sein können. Die Länder haben zu diesem Zweck dazu teilweise Behörden befugt. Alle Messungen müssen öffentlich zugänglich sein.
Liste der Kernreaktoren in Deutschland Bearbeiten
Siehe auch Bearbeiten
Weblinks Bearbeiten
- Der Atomausstieg in Deutschland – Informationen vom Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung
Literatur Bearbeiten
- Frank Uekötter: Atomare Demokratie. Eine Geschichte der Kernenergie in Deutschland, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022, ISBN 978-3-515-13257-2.
- Bernhard Ludewig: Der nukleare Traum. Die Geschichte der deutschen Atomkraft. Berlin 2020, ISBN 978-3-86922-088-8.
Einzelnachweise Bearbeiten
- ↑ Zur Abschaltung der letzten KKW in Deutschland: ein kurzer (sicherheits-)technischer Rückblick. Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit, 6. April 2023, abgerufen am 15. Oktober 2023.
- (PDF) bmwi.de, archiviert vom am 15. September 2011; abgerufen am 28. Oktober 2016 (ca. 1,31 MB).
- (Memento vom 20. Oktober 2016 im Internet Archive) (PDF; 707 kB)
- bundestag.de Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken zugestimmt. Dort Links zu den beiden Änderungen des Atomgesetzes (17/3051, 17/3052), die Errichtung eines Energie- und Klimafonds (17/3053) sowie das Kernbrennstoffsteuergesetz (17/3054)
- deutschlandfunk.de: Ausstieg aus dem Ausstieg. Abgerufen am 15. April 2023.
- Atomkraft: Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg. In: Der Tagesspiegel Online. ISSN 1865-2263 (tagesspiegel.de [abgerufen am 15. April 2023]).
- Agenda 21, Atomkraftwerke in Deutschland; Reststrommenge, Restlaufzeit; Laufzeitverlängerung; Inbetriebnahme, Abschaltung; Moratorium 15.03.2011. Abgerufen am 15. April 2023.
- (Memento vom 22. November 2009 im Internet Archive) (PDF; 643 kB)
- Gestaffelte Laufzeiten: Einigung im deutschen AKW-Streit. 5. September 2010, abgerufen am 15. April 2023.
- AKW sollen zwölf Jahre länger laufen. In: Die Zeit. 6. September 2010, abgerufen am 15. April 2023.
- Förderfondsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Kernkraftwerksbetreibergesellschaften und deren Konzernobergesellschaften in Deutschland. 27. September 2010, abgerufen am 3. Januar 2020 (finaler Entwurf des Vertrags).
- (Nicht mehr online verfügbar.) 9. April 2011, archiviert vom 11. Juni 2020; abgerufen am 3. Januar 2020. am
- B. Heuel-Fabianek, R. Lennartz: Die Prüfung der Umweltverträglichkeit von Vorhaben im Atomrecht. In: StrahlenschutzPRAXIS. 3/2009.
- B. Heuel-Fabianek, E. Kümmerle, M. Möllmann-Coers, R. Lennartz: The relevance of Article 37 of the Euratom Treaty for the dismantling of nuclear reactors. In: (Memento vom 6. Februar 2009 im Internet Archive). Vollständiger Artikel in Englisch beim Forschungszentrum Jülich ( (Memento vom 22. Juli 2012 im Internet Archive))
- Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke, Phase B. Verlag TÜV Rheinland, 1990, ISBN 3-88585-809-6, S. 7.
- Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke, Phase B. Verlag TÜV Rheinland, 1990, ISBN 3-88585-809-6, S. 83–84.
- (Memento vom 24. April 2009 im Internet Archive)
- Atomgesetz § 7 Absatz 2 Nummer 3