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Habituation von lateinisch habituari etwas an sich haben bzw habitus Aussehen Haltung Adjektiv habituell zur Gewohnheit geworden auch Habituierung oder Gewohnung genannt bezeichnet die allmahlich abnehmende Antwortbereitschaft eines Individuums auf wiederholt dargebotene Reize die sich als bedeutungslos erwiesen haben und kann als eine der einfachsten Formen des Lernens aufgefasst werden 1 Die Reaktion auf einen solchen Reiz kann schliesslich vollig unterbleiben Halt man nach Eintritt dieser auch beim Menschen in der Regel nicht bewusst erlernten Verhaltensunterdruckung den Reiz hinreichend lange fern nimmt die Reaktionsstarke des Individuums wieder zu 2 Die Extinktion unterscheidet sich von der Habituation dadurch dass sie im Zusammenhang mit vorher erlernten Reaktionen auftritt wahrend bei der Habituation typischerweise angeborene Reaktionen ablaufen die nicht durch einen Konditionierungsprozess entstanden sind 3 Die zentralnervos bedingten Veranderungen der Reaktionsbereitschaft durch Habituation sind ferner zu unterscheiden von der peripher verursachten Anpassungsfahigkeit wie zum Beispiel der Anpassung der Horempfindlichkeit an ein Dauersignal oder der Anpassung der Pupille an Helligkeitsunterschiede sowie von der Ermudung Der gegenteilige Prozess eine Zunahme der Reaktionsstarke wird als Sensitivierung bezeichnet Inhaltsverzeichnis 1 Historisches 2 Beispiele 2 1 Habituation bei Tieren 2 2 Habituation beim Menschen 2 3 Habituation als Einflussfaktor bei Verhaltenstests 3 Eigenschaften von Habituation 3 1 Reizspezifitat 3 2 Reaktionsspezifitat 3 3 Zeitliche Dauer 3 3 1 Lang Zeit Habituation 3 3 2 Kurz Zeit Habituation 4 Siehe auch 5 Literatur 6 Weblinks 7 BelegeHistorisches BearbeitenDie Bezeichnung Habituation fuhrte William Thorpe 1944 in einem Fachaufsatz 4 in die verhaltensbiologische Terminologie ein und definierte ihn als eine Aktivitat des Zentralnervensystems die dazu fuhrt dass angeborene Antworten auf schwache Stor und Warnreize abnehmen wenn der Reiz uber langere Zeitspannen andauert jedoch keine unvorteilhaften Auswirkungen hat an activity of the central nervous system whereby innate responses to mild shock and warning stimuli wane as the stimuli continue for a long period without unfavourable results Beispiele BearbeitenHabituation bei Tieren Bearbeiten Habituation bewirkt dass ein Tier lernt auf bestimmte Reize nicht zu reagieren so dass standig vorhandene Reizmuster aus der Wahrnehmung ausgeblendet und dem Individuum unnutze Reaktionen erspart bleiben Ein genau untersuchtes Beispiel ist der Kiemen Ruckziehreflex der Meeresschnecke Aplysia californica die der Nobelpreistrager Eric Kandel als Modelltier fur seine neurobiologischen Studien nutzte Wenn die dunnen und verletzbaren Fadenkiemen dieses Tieres von einem fremden Objekt beruhrt werden setzt ein Schutzreflex ein und die Kiemen werden zuruckgezogen Sofern diese Beruhrungen allerdings haufiger in kurzem Zeitabstand durchgefuhrt werden reduziert sich dieser Reflex und setzt schliesslich ganz aus Nach einer Wartezeit normalisiert sich die Reflexreaktion wieder und die Schnecke reagiert auf das Beruhren ihrer Kiemen mit dem Einziehen dieser 5 6 7 Ein weiteres Beispiel ist der Krallenfrosch Wenn man an die Scheibe seines Terrariums klopft zuckt er zusammen Wiederholt man das ein paar Mal hintereinander zeigt er keine Reaktion mehr 8 Puten zeigen vor Raubvogeln eine ausgepragte Fluchtreaktion die man auch mit einfachen uber ihnen bewegten Pappattrappen auslosen kann Werden sie in raumlicher Nahe von wild lebenden Gansen gehalten fliehen sie zunachst auch vor Gansen wenn diese uber ihnen fliegen Allerdings gewohnen sie sich allmahlich an diese haufig uber ihnen erscheinenden Vogel und fliehen nur noch vor selteneren und meist einzeln kreisenden Vogeln 9 Die Orientierungsreaktion einer Erdkrote hin zu einer potenziellen Beute nimmt mehr und mehr ab wenn ihr wiederholt ein nicht essbares beuteahnliches Objekt angeboten wird 3 Obstbauern wissen aus Erfahrung dass zur Abschreckung von Vogeln aufgestellte Vogelscheuchen nur fur eine relativ kurze Zeit wirksam sind da sich die Vogel rasch an sie gewohnen Auch bei Versuchen Vogel durch Warnrufe die uber Lautsprecher verbreitet wurden von Flugplatzen fernzuhalten traten ahnliche Habituationsprobleme auf 3 Habituation beim Menschen Bearbeiten nbsp Albrecht PeiperEine fruhe Studie zum Nachweis von Habituation beim Menschen publizierte 1925 der Berliner Kinderarzt Albrecht Peiper nachdem er festgestellt hatte dass Neugeborene bereits wenige Minuten nach der Geburt auf akustische Signale Tone einer Spielzeugtrompete mit veranderten Korperbewegungen reagieren 10 Er testete daraufhin ob auch Ungeborene bereits durch verandertes Strampeln auf solche Laute reagieren Seine Beobachtungen zeigten dass die Reaktionen der Ungeborenen auf eine Autohupe umso schwacher ausfielen je ofter sie den Lauten ausgesetzt worden waren Spater konnten andere Forscher nachweisen dass Neugeborene auch auf wiederholt dargebotene olfaktorische und visuelle Reize mit Habituation reagieren wenn sie folgenlos bleiben also nicht verstarkt werden Ein weiteres Beispiel fur Habituation beim Menschen ist die Gewohnung an Kleidung wie sie jedem FKK Liebhaber bekannt ist Wer im Urlaub mehrere Wochen lang weder Hose noch Hemd getragen hat wird bei seiner Ruckkehr in die Textilkultur durch das bestandige Drucken des Stoffs gegen Haut und Korperhaare anfangs erheblich irritiert sein sich aber nach kurzer Zeit wieder an diesen Dauerreiz gewohnt haben Auch eine neue Brille kann zunachst zu derartigen Irritationen an Ohren und Nase fuhren die spater durch Habituation wieder verloren gehen Dass es sich beim Phanomen der Habituation um keine blosse Erschopfung der an der Wahrnehmung des Reizes beteiligten Sinneszellen handelt kann man leicht an folgendem Beispiel nachvollziehen Der Mensch gewohnt sich vermeintlich nach kurzer Zeit an das nachtliche gleichmassige Summen der Fahrzeuge auf einer entfernten Autobahn bis er dieses Hintergrundgerausch schliesslich nicht mehr als storend wahrnimmt Sobald das Gerausch aber aussetzt weil man an einem absolut ruhigen Ort ubernachtet bemerkt man dass etwas nicht stimmt Larm zwingt das menschliche Hirn zu einer permanenten aufwandigen Filterleistung die viel Energie braucht Wer trotz Larm konzentriert arbeiten oder durchschlafen will muss lernen welche Schallereignisse von Bedeutung sind z B das leise Piepsen des Weckers und welche nicht z B der vorbeidonnernde Lastwagen Dieses Abwagen und Aussortieren fuhrt dazu dass dem Unterbewusstsein kaum eine Verschnaufpause gewahrt wird 11 Habituation als Einflussfaktor bei Verhaltenstests Bearbeiten So nutzlich der Mechanismus der Habituation fur Tier und Mensch ist so problematisch ist er fur Verhaltensforscher In ihren Experimenten sind sie darauf angewiesen ihre Testtiere wiederholt bestimmten Reizmustern auszusetzen um glaubwurdige Aussagen uber die Wirkung eines bestimmten Reizes auf deren Verhalten formulieren zu konnen Bei der Planung der Experimente muss laut Walter Heiligenberg daher stets darauf geachtet werden dass durch genugend lange Zeitabstande zwischen den Wiederholungen der Experimente eine das Ergebnis der Tests verfalschende Habituation der Testtiere mit hinreichend grosser Sicherheit ausgeschlossen werden kann 12 Eigenschaften von Habituation BearbeitenEin wesentliches Problem beim Nachweis von Habituation ist deren Abgrenzung von der Ermudung des Organismus und von sensorischer Adaption was bedeutet dass die empfundene Starke eines andauernden Reizes mit der Zeit abnimmt Angenommen wir betrachten die Reaktion einer Ratte auf ein sehr helles Licht Anfangs zeigt die Ratte eine sehr starke Schreck Reaktion sie springt kurz in die Luft Mit wiederholter Reizdarbietung nimmt diese Reaktion in ihrer Starke allmahlich ab Ist diese Abnahme der Reaktion nun ein Beweis fur Habituation Die Abnahme konnte ebenso auf Ermudung der Ratte zuruckzufuhren sein das heisst sie ware im Falle der Ermudung ihrer Muskeln nicht in der Lage standig eine starke Schreck Reaktion auszufuhren Ebenso konnte die Reaktionsabnahme durch sensorische Adaptation verursacht worden sein Die Ratte wurde in diesem Fall die Darbietungen des anfangs storenden Reizes nicht mehr als storend wahrnehmen Eine Reihe von Eigenschaften die nur bei Habituation auftreten helfen diese von anderen Prozessen zu unterscheiden Reizspezifitat Bearbeiten Habituation ist reizspezifisch Die Reaktion verandert sich nur in Bezug auf einen bestimmten Reiz Dies unterscheidet die Habituation von der Ermudung Wird ein anderer Reiz dargeboten ist die Reaktion auf ihn unvermindert stark Angenommen eine Ratte hat sich an die wiederholte Darbietung eines sehr hellen Lichtreizes gewohnt und reagiert nicht mehr auf ihn Nun wird sie einem lauten durchdringenden Gerausch ausgesetzt Zeigt das Tier eine starke Schreck Reaktion ware dies ein Beleg dafur dass die ausbleibende Reaktion auf den Lichtreiz eine Folge von Habituation ist Wurde die Ratte jedoch auch auf das laute Gerausch keine oder eine bloss schwache Reaktion zeigen ware dies ein Hinweis auf eine generelle Ermudung Reaktionsspezifitat Bearbeiten Habituation ist reaktionsspezifisch Wenn eine bestimmte Reaktion auf einen Reiz zu keiner Reaktion mehr fuhrt kann eine andere Reaktion auf denselben Reiz durchaus noch erfolgen Hierdurch lasst sich Habituation von sensorischer Adaptation abgrenzen Angenommen das Smartphone hat unbemerkt eine neue Audiodatei als Klingelton zugewiesen bekommen Dann kann das unerwartete Signal eine Schreck Reaktion hervorrufen die nach wiederholtem Horen des Signals ausbleibt Dennoch wird das sich ankundigende Gesprach in jedem einzelnen Fall angenommen Eine sensorische Adaption lage vor wenn trotz wiederholt horbarem Signal aufgrund eines Defektes niemals ein Gesprach zustande kommt und deshalb das Smartphone trotz Signalgebung unbeachtet bliebe Zeitliche Dauer Bearbeiten Man unterscheidet hinsichtlich der zeitlichen Dauer des Habituationseffektes zwei Arten der Habituation Lang Zeit Habituation Bearbeiten Dieser Effekt halt zeitlich vergleichsweise lang an Nehmen wir zum Beispiel ein abstraktes Gemalde Sehen wir dieses zum ersten Mal werden wir ihm sehr viel Aufmerksamkeit widmen und die ungewohnliche Darstellung erstaunt eine Weile betrachten Sehen wir das Bild spater erneut so blicken wir nur kurz hin und sind nicht mehr uberrascht da wir es bereits kennen Unsere Reaktion hat also habituiert Diese Habituation ist zeitlich lang andauernd auch wenn wir dem Bild nach funf Wochen oder noch langer wieder begegnen wird unsere Reaktion im Vergleich zum ersten Anblick stark vermindert sein Kurz Zeit Habituation Bearbeiten Diese Form der Habituierung ist zeitlich relativ kurz andauernd Wenn wir beispielsweise eine Disko besuchen wird uns die laute Musik anfangs vielleicht storen Mit der Zeit wird diese Reaktion jedoch habituieren und wir werden die ubermassige Lautstarke kaum noch bewusst wahrnehmen Verlassen wir dann die Disko fur ein paar Stunden und betreten sie dann erneut wird diese Habituation nicht mehr bestehen und die Lautstarke uns erneut storen Der Habituationseffekt ist also von relativ kurzer Dauer Kurz Zeit Habituation beobachtet man z B auch bei Habituierungen von Versuchstieren auf aversive Reize z B Elektroschocks Eine wesentliche Charakteristik der Kurz Zeit Habituation in Abgrenzung zur Lang Zeit Habituation ist der Spontanerholungseffekt Dieser besteht in einer Erholung der Reaktion von der Habituierung also in einer zugenommenen Starke der Reaktion nach einem time out Time out bedeutet dass man dem Organismus nach abgeschlossener Habituierung auf einen Reiz diesen Reiz fur eine gewisse Zeitspanne nicht mehr darbietet z B die Ratte fur 24 Stunden in ihren Heimatkafig entlasst Bietet man nach dieser Auszeit den Reiz erneut dar dann tritt die vorher habituierte Reaktion in starkerer Form als bei Abschluss der Habituationsphase auf Diesen Effekt bezeichnet man als Spontanerholung Siehe auch BearbeitenHandlungsbereitschaft Gegenkonditionierung Psychische SattigungLiteratur BearbeitenRobert Hinde Behavioral Habituation Cambridge Univ Press New York 1970 H V S Peek und M J Hertz Hrsg Habituation 2 Bande Academic Press New York 1973 Weblinks BearbeitenEintrag Habituation auf hogrefe com zuletzt abgerufen am 16 April 2022 Belege Bearbeiten Eintrag Habituation in Klaus Immelmann Grzimeks Tierleben Sonderband Verhaltensforschung Kindler Verlag Zurich 1974 S 627 Walter Heiligenberg Der Einfluss spezifischer Reizmuster auf das Verhalten der Tiere In Klaus Immelmann Grzimeks Tierleben Sonderband Verhaltensforschung S 246 a b c David McFarland Biologie des Verhaltens Evolution Physiologie Psychobiologie 2 uberarb Auflage Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg 1999 S 285 ISBN 978 3 8274 0925 6 William Thorpe Some Problems of Animal Learning In Proceedings of the Linnaean Society of London Band 156 Nr 2 1944 S 70 83 doi 10 1111 j 1095 8312 1944 tb00374 x Harold Pinsker Irving Kupfermann Vincent Castellucci und Eric Kandel Habituation and Dishabituation of the GM Withdrawal Reflex in Aplysia In Science Band 167 Nr 3926 1970 S 1740 1742 doi 10 1126 science 167 3926 1740 Thomas J Carew Vincent F Castellucci und Eric R Kandel An Analysis of Dishabituation and Sensitization of The Gill Withdrawal Reflex in Aplysia In International Journal of Neuroscience Band 2 Nr 2 1971 S 79 98 doi 10 3109 00207457109146995 Thomas J Carew Harold M Pinsker und Eric R Kandel Long Term Habituation of a Defensive Withdrawal Reflex in Aplysia In Science Band 175 Nr 4020 1972 S 451 454 doi 10 1126 science 175 4020 451 Irenaus Eibl Eibesfeldt Grundriss der vergleichenden Verhaltensforschung 7 Auflage Piper Munchen und Zurich 1987 S 419 ISBN 3 492 03074 2 Irenaus Eibl Eibesfeldt Grundriss der vergleichenden Verhaltensforschung S 166 167 Albrecht Peiper Sinnesempfindungen des Kindes vor seiner Geburt In Monatsschrift fur Kinderheilkunde Band 29 1925 S 237 241 An Strassenlarm gewohnt man sich irgendwann Faktenblatt Irrtum 4 Auf laerm ch zuletzt abgerufen am 16 April 2022 Walter Heiligenberg Der Einfluss spezifischer Reizmuster auf das Verhalten der Tiere S 249 Normdaten Sachbegriff GND 4157298 1 lobid OGND AKS Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Habituation amp oldid 222118375