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Extinktion lateinisch exstinguere ausloschen loschen oder Loschung wird als Fachbegriff in der Lernpsychologie bzw Lerntheorie sowie als Vorgehensweise in der Verhaltenstherapie verwendet In diesem Zusammenhang meint Extinktion die Abschwachung oder Aufhebung einer zuvor konditionierten d h erlernten Kopplung zwischen einer Ausgangssituation bzw deren Faktoren und einem Antwortverhalten 1 2 Die Extinktion ist zu unterscheiden von der Habituation und der Anpassungsfahigkeit die beide damit verbunden sind dass sich ein naturgemass vorhandener Ablauf aufgrund von Gewohnung oder Anpassung abschwacht 3 Der Terminus Antwortverhalten kann sich einerseits auf eine Verhaltensreaktion von Tieren oder von Menschen beziehen Andererseits mag damit auch ein aktivierter Vorgang innerhalb eines Organismus bezeichnet werden Inhaltsverzeichnis 1 Begriffsursprung 2 Abgrenzung Habituation Konditionierung Extinktion 3 Differenzierung 4 Anwendungsgebiete 5 Weblinks 6 EinzelnachweiseBegriffsursprung BearbeitenAbgeleitet wurde die Vorstellung der Extinktion aus der Arbeit des russischen Mediziners und Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlow zur Klassischen Konditionierung Der Begriff Loschung wurde von Pawlow selbst nie verwendet er schrieb stets von Hemmung und Abschwachung 3 In der englischen Ubersetzung wurde daraus extinction Da Pawlows Werke dann aus dem Englischen ins Deutsche ubersetzt wurden statt direkt aus dem Russischen etablierte sich der Ubersetzungsfehler auch im Deutschen als Fachausdruck Extinktion oder Loschung Abgrenzung Habituation Konditionierung Extinktion BearbeitenBei der Habituation ist davon auszugehen dass fur eine bestimmte Ausgangssituation eine angeborene Verankerung fur ein bestimmtes Antwortverhalten existiert 3 Die beteiligten Strukturen mussen vollstandig ausgebildet sein damit der Ablauf wie vorgesehen stattfinden kann Ist dies nicht der Fall kann es zu einem abgeschwachten Antwortverhalten kommen Sind die Strukturen ausgebildet und tritt die Ausgangssituation erstmals ein erfolgt zunachst das verankerte Antwortverhalten Wiederholt sich dieser Ablauf oder dauert er langer an wird sich das Antwortverhalten durch Gewohnung abschwachen Im Hinblick auf die Entstehung eines konditionierten Ablaufes kann fur eine Ausgangssituation ein angeborenes Antwortverhalten verankert sein muss aber nicht Relevant ist dass sich der gleiche Ablauf mehrfach mit besonderen Begleiterscheinungen oder Konsequenzen verbindet Es kommt durch diese Kopplung dazu dass das Antwortverhalten auf die Ausgangssituation bzw auf einzelne Faktoren derselben sich gegenuber vorher deutlich verandert Es handelt sich um ein durch Konditionierung entstandenes Antwortverhalten Fur die Extinktion wird nun eine so konditionierte Kopplung von Ausgangssituation und Antwortverhalten angenommen Diese neue Kopplung kann durch Einwirkungen auf die Ausgangssituation oder auf das neu entstandene Antwortverhalten ruckgangig gemacht abgeschwacht oder geloscht extingiert werden es erfolgt eine Abgewohnung Beispiel aus der Psychoonkologie Beim erstmaligen Betreten eines Behandlungsraumes fur Chemotherapie wurde bei jedem Menschen ein angeborener Informationsverarbeitungsprozess einsetzen Ohne vorherige Lernerfahrungen Konditionierungen wurde der Anblick des Raumes wohl eine mehr oder minder erhohte Aufmerksamkeit erzeugen und die neue Situation wurde auf bekannte und unbekannte Details abgescannt Diese erhohte Aufmerksamkeit wurde sich nach mehrmaligem Betreten oder langerem Aufenthalt durch Habituation abschwachen Ansonsten wurde der Raum kein spezifisches Antwortverhalten z B korperliche Beschwerden aktivieren Bei Krebspatienten kommt es haufiger in Zusammenhang mit einer Chemotherapie dazu dass der Behandlungsraum selbst mit den belastenden Nebenwirkungen der Chemotherapie z B Magenbeschwerden Ubelkeit verbunden wird 3 So kann es passieren dass ein Patient nach einigen Behandlungssitzungen bereits beim Betreten des Raumes oder sogar ausserhalb desselben durch bestimmte Assoziationen z B Geruche Gerausche die erwahnten Beschwerden erfahrt Eine neue Kopplung von Ausgangssituationen und Antwortverhalten ist durch Konditionierung entstanden Nun sei angenommen dass im Rahmen einer psychotherapeutischen Intervention das Phanomen bearbeitet wurde dass der Patient bereits beim Betreten des Chemotherapie Behandlungsraumes Ausgangssituation mit Magenbeschwerden und Ubelkeit konditioniertes Antwortverhalten zu kampfen hat Die Intervention ware erfolgreich der Patient konnte den Behandlungsraum wieder ohne Vorabbeschwerden betreten Das konditionierte Antwortverhalten auf den Raum ware extingiert d h geloscht bzw abgemildert worden Differenzierung BearbeitenMan kann sich den Prozess der Extinktion als einen Um Programmierungsvorgang des Nervensystems vorstellen in dessen Verlauf erlernte Kopplungen zwischen den Faktoren einer Ausgangssituation und einem Antwortverhalten abgeschwacht geloscht und ggf erganzt bzw uberschrieben werden Insofern als im Zuge der Extinktion neue Kopplungen entstehen konnen ist diese Form der Extinktion dann auch als eigenstandiger neuer Lernprozess zu verstehen Aus Sicht der Lernpsychologie oder der Verhaltenstherapie wird dabei auch von der Umkehr des Konditionierungsprozesses oder der Gegenkonditionierung gesprochen Es konnen auch vollig neue Kopplungen und damit Konditionierungen entstehen 3 4 Bildlich gesprochen bleiben gleichwohl Spuren der vorher konditionierten Kopplung auf der Festplatte des Nervensystems gespeichert Die Nachhaltigkeit der Abschwachung oder Aufhebung ist demnach variabel und von vielen Faktoren abhangig Solche Faktoren konnten beispielsweise die Starke der physiologisch reflexartigen oder genetischen Verankerung vgl auch preparedness der emotional motivationale Anteil der Kopplung oder die Frequenz zufallig eintretender oder gezielter Verstarker im Sinne der Extinktion sein vgl auch Extinktionswiderstand Extinktionsresistenz 1 3 Im Zusammenhang mit Lernprozessen aller Art ist davon auszugehen dass von der Nachhaltigkeit der Abschwachung oder Aufhebung alter evtl nicht mehr sinnvoller Lernzusammenhange in der Folge auch die Nachhaltigkeit der Etablierung neuer Lernzusammenhange abhangt Als wichtige Merkmale der Extinktion Loschung werden in diesem Zusammenhang die Spontanerholung spontaneous recovery zeitlicher Fokus die Erneuerung renewal effect zeitlich raumlicher Fokus und Wiederinkraftsetzung reinstatement betrachtet 5 4 Spontanerholung bedeutet dass eine erfolgte Extinktion ggf nur vorubergehend wirkt und nach einer gewissen Zeitspanne in derselben Ausgangssituation die ursprungliche Kopplung wiederhergestellt ist Die Extinktion ist also nur oberflachlich geschehen und das konditionierte Antwortverhalten setzt allenfalls verspatet ein Mit Erneuerung bezeichnet man die Beobachtung dass die Extinktion kontextabhangig ist also ggf nur in einer bestimmten spezifischen Umgebung der Ausgangssituation wirkt Wird die versuchte Extinktion ausserhalb dieser spezifischen Umgebung gepruft ist ggf eine geringere oder ganzlich fehlende Loschung festzustellen und die ursprungliche Kopplung scheint unverandert Die Extinktion ist nur auf eine bestimmte Umgebung begrenzt geschehen Wiederinkraftsetzung bezeichnet das Phanomen dass nachdem ggf eine Zeit lang der Zusammenhang der konditionierten Reaktion entkoppelt und damit auch die Extinktion erfolgreich war eine wiederholte Darbietung der Kopplung eben zur Wiederinkraftsetzung der ursprunglichen Programmierung fuhrt Die Entkopplung war nicht nachhaltig Anwendungsgebiete BearbeitenIn der Verhaltenstherapie beispielsweise im Zusammenhang mit der Behandlung von Angst oder Belastungsstorungen sowie Suchterkrankungen und in der experimentellen Forschung wird die Extinktion gezielt zur Verhaltenssteuerung im Sinne der klassischen oder der instrumentellen und operanten Konditionierung genutzt 6 7 Anfang der 1970er Jahre wurde das Rescorla Wagner Modell entwickelt und seitdem uberarbeitet u a um Extinktionsprozesse bzw deren Erfolgswahrscheinlichkeit vorhersagbar zu machen 3 In den verschiedenen Richtungen der Neurowissenschaften und auch in der Immunologie Konditionierung des Immunsystems spielt die Erforschung von Extinktionsprozessen eine bedeutende Rolle 8 3 Weblinks Bearbeitensfb1280 ruhr uni bochum deEinzelnachweise Bearbeiten a b Walter Edelmann Lernpsychologie 5 vollst uberarb Auflage Weinheim ISBN 978 3 621 27310 7 S 70 147 159 Jurgen Kriz Grundkonzepte der Psychotherapie 7 uberarb und erw Auflage Beltz Weinheim 2014 ISBN 3 621 28097 9 S 128 141 a b c d e f g h Christian Becker Carus Lernen In Allgemeine Psychologie 1 Auflage Heidelberg ISBN 978 3 8274 0570 8 S 313 267 pedocs de PDF abgerufen am 16 Oktober 2020 a b Jurgen Hoyer Stefan Uhmann Volker Kollner Lernpsychologische Grundlagen In Wolfgang Herzog Peter Joraschky Johannes Kruse Wolf Axel Langewitz Wolfgang Sollner Hrsg Psychosomatische Medizin 8 Auflage Munchen ISBN 978 3 437 21834 7 S 107 121 Jurgen Margraf Silvia Schneider Lehrbuch der Verhaltenstherapie Grundlagen Diagnostik Verfahren Rahmenbedingungen Band 1 Springer 2009 ISBN 978 3 540 79541 4 S 521 Lonsdorf Menz Andreatta Fullana Golkar Haaker Heitland Hermann Kuhn Kruse Meir Drexler Meulders Nees Pittig Richter Romer Shiban Schmitz Straube Vervliet Wendt Baas Merz Don t fear fear conditioning Methodological considerations for the design and analysis of studies on human fear acquisition extinction and return of fear PMID 28263758 Melanie Wegerer Jens Blechert Frank H Wilhelm Emotionales Lernen Ein naturalistisches experimentelles Paradigma zur Untersuchung von Angsterwerb und Extinktion mittels aversiver Filme In Zeitschrift fur Psychiatrie Psychologie und Psychotherapie Band 61 Nr 2 April 2013 ISSN 1661 4747 S 93 103 doi 10 1024 1661 4747 a000146 hogrefe com abgerufen am 16 Oktober 2020 Extinction Learning Abgerufen am 16 Oktober 2020 deutsch Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Extinktion Psychologie amp oldid 235087815