www.wikidata.de-de.nina.az
Als Neuronentheorie oder Neuronenlehre in strengem Sinne wird eine gewissermassen atomistische Sichtweise in der Neuroanatomie und Neurophysiologie angesehen Nach heute allgemein geteilter Auffassung sind Neurone bzw Nervenzellen die kleinsten spezifischen Einheiten des Nervensystems und werden daher auch als seine Bausteine bezeichnet 1 2 a Dies sollte dennoch nicht zu einer Verabsolutierung gegensatzlicher Standpunkte und Sichtweisen reduktionistisch atomistisch versus holistisch bzw zur Anwendung eines Maschinenparadigmas fuhren 3 a Inhaltsverzeichnis 1 Sechs Hauptsatze 2 Historische Gegensatze 3 Nachrichtentechnische Vergleiche 4 Erkenntnislehre 5 Schlussfolgerungen 6 Literatur 7 Weblinks 8 EinzelnachweiseSechs Hauptsatze BearbeitenSantiago Ramon y Cajal 1852 1934 stellte in seiner zuletzt 1935 erschienenen klassischen Formulierung sechs Hauptsatze auf die als Grundlage der Neuronentheorie gelten 4 Jedes Neuron ist eine anatomische Einheit Es besteht aus einem Nervenzellkorper mit allen seinen Fortsatzen Dendriten und Neuriten Die Neurone stehen untereinander durch Kontaktstellen Synapsen in Verbindung An diesen Beruhrungsstellen findet kein substantieller Ubergang der Neurone statt sondern es ist eine Membran mit einer Art von Kittsubstanz vorhanden Jedes Neuron ist auch eine genetische Einheit Es leitet sich unmittelbar von einer einzelnen embryonalen Zelle einem Neuroblasten ab Jedes Neuron stellt eine funktionelle Einheit des Nervensystems dar Ausserhalb der Neurone gibt es keine Substanz die der Leistungen der nervosen Substanz Erregungsleitung etc fahig ware Jedes Neuron ist eine trophische Einheit Dies ergibt sich etwa nach Durchschneidung des Neuriten in der Degeneration des abgeschnittenen Anteiles in der Chromatolyse in dem dazugehorigen Zellkorper und in der Regeneration durch Auswachsen des zentralen Stumpfes an der Durchtrennungsstelle Die Schwann schen Zellen sind nur bei der Ernahrung der Achsensprosslinge beteiligt Eine autogene Regeneration gibt es nicht Eine einmal abgestorbene Zelle kann nicht mehr regenerieren Das Neuron reagiert als nosologische Einheit indem es auch bei anderen pathologischen Prozessen vgl Zf 4 selbstandig d h unabhangig von den ubrigen Neuronen zumindest in der ersten Phase solcher Prozesse auf schadigende Einflusse anspricht Das Neuron stellt eine elektrophysiologische Einheit dar Die nervose Erregung ist polarisiert d h sie pflanzt sich von den Dendriten gegen den Achsenzylinder fort Historische Gegensatze BearbeitenUnterschiedliche Sichtweisen ergaben sich in der Beurteilung der Leistungsprinzipien Wahrend Forscher wie Camillo Golgi 1843 1926 und andere den Verband von Leitungsbahnen als Produkt eines Syncytiums ansahen forderten Vertreter der Neuronentheorie die funktionelle Eigenstandigkeit der Neuronen Diese letztere Auffassung von Cajal hat sich als anatomisch begrundbar und damit als zutreffend durchgesetzt Die Synapsen der Neuronenketten lassen in der Tat einen interzellularen durch Membranen abgegrenzten Zwischenraum erkennen Es besteht somit kein syncytialer Verband 2 b 3 b Die Vertreter der Neuronentheorie neben Cajal sind Heinrich Wilhelm Waldeyer 1836 1921 der 1891 5 eine Neuronentheorie formulierte Wilhelm His 1831 1904 Albert von Kolliker 1817 1905 und Gustaf Retzius 1842 1919 Waldeyer gab 1891 der Nervenzelle den pragnanten Namen Neuron Die Vertreter dieser Lehre verfolgten Prinzipien des Reduktionismus Neben Golgi sind auf funktioneller Ebene die Hauptvertreter des neuronalen Netzverbandes bzw der Kontinuitatslehre Franz Nissl 1860 1919 Stephan Apathy 1863 1922 Hans Held 1866 1942 und Albrecht Bethe 1872 1954 Die historisch altere Auffassung des Netzverbandes ist auch als Reticulumtheorie bekannt Die Vertreter dieser Lehre verfolgten Prinzipien der Ganzheit Auch die Vertreter des Gedankens der funktionellen Vernetzung haben gegenuber den Anhangern einer strengen Neuronentheorie Erfolge aufzuweisen So schien fur die Kontinuitatslehre zu sprechen dass wahrend der Embryonalentwicklung Verbindungen zwischen den von Neuroblasten gebildeten primitiven Nerven und den embryonalen Anlagen der Erfolgsorgane bestehen Aufgrund bekannter entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhange zwischen neuronalen Zentren und Peripherie ergaben sich Bedenken gegen eine strenge Auslegung der Neuronentheorie Die Behauptung Waldeyers dass jedes Neuron auch genetisch eine Einheit sei vgl den oben genannten Hauptsatz Nr 2 konnte sich so nicht durchsetzen Es stellt sich aufgrund der Lehre des Nervismus die Frage auf welche Weise bei einem Nervennetz 6 a 7 die Impulse einer einzelnen Nervenzelle im Sinne der Dekrementation gehemmt werden wenn dies ohne hohere Zentren innerhalb eines ZNS erfolgen muss 6 b Wird dagegen die Verstarkung von Reizen allein durch Summation einzelner afferenter lokaler Reize bewirkt Auch die Frage der Anpassungsfahigkeit des Nervensystems an neue Umweltbedingungen Neuroplastizitat und die bekannten Tatsachen der Selbstorganisation von Nervengewebe stellen bis heute Argumente fur den Netzwerkgedanken dar Maschinen verfugen uber solche Moglichkeiten nicht in gleichem Masse 2 c 3 c Nachrichtentechnische Vergleiche BearbeitenTrotz des angesprochenen prinzipiellen Unterschieds zwischen Maschinen und lebendiger Substanz versucht man die Nervenzelle mit technischen Geraten zu vergleichen zumal angesichts des Erfolges kunstlicher neuronaler Netzwerke Diese Vergleiche dienen auch im heuristischen Sinne des Auffindens von Modellvorstellungen als Hilfsmittel neurologischer Forschung So kann beispielsweise das veranschaulichende Bild eines Schaltapparats herangezogen werden wie er etwa in Fernsprechzentralen Verwendung findet Die Nervenfaser kann mit dem Leitungsdraht weisse Substanz Leitwerk verglichen werden die Nervenzelle mit dem Schalter graue Substanz Schaltwerk 8 Dennoch ist durch solche Vergleiche nicht die komplexe Struktur und die entsprechende Funktion etwa der Hirnrinde mit unterschiedlichen Typen von Nervenzellen und Schaltverbindungen erklart Auch ontogenetische Fragen der Entstehung dieses Bauplans sind nicht dadurch zu verstehen dass man die Struktur der Bauelemente kennt Es stellt sich damit vielmehr die Frage nach einer sinnvollen Verknupfung dieser Bauelemente des Nervensystems zu einem funktionierenden Ganzen Diese Frage wird durch folgendes Zitat zu beantworten versucht Zwischen unseren heutigen morphologischen Kenntnissen und der funktionellen Leistung des Nervensystems klafft trotz der bedeutenden mit Hilfe einer verfeinerten histologischen Methodik gewonnenen Fortschritte eine so grosse Lucke dass wir uns von den nervosen Ablaufen in physiologischer und pathologischer Hinsicht vielfach nur hypothetische Vorstellungen zu machen imstande sind Helmut Ferner 4 Auch wenn technische Modellvorstellungen sich als sehr fruchtbar erwiesen haben und nicht nur fur die Anatomie und Physiologie sondern z B auch in der Psychosomatik eine Rolle spielen Kybernetik darf Technik und lebendes Gewebe nicht gleichgesetzt werden 8 9 Die zwischen Hypothese und gesicherter Erkenntnis klaffende Lucke darf nicht ubersehen werden 4 Erkenntnislehre BearbeitenWie am Beispiel der Neuronentheorie nachzuvollziehen ist wird der Erkenntnisprozess durch den Gegensatz zwischen Theorien elementarer Betrachtungsweise Neuronenlehre einerseits und ganzheitlicher Vorstellungen zur Arbeitsweise des gesamten Nervensystems Neuronenverband andererseits begunstigt Karl Jaspers 1883 1969 hat diesen Prozess am Beispiel des neurologischen Grundschemas Reflextatigkeit dargelegt 10 a Schlussfolgerungen BearbeitenObwohl die Nervenzelle als kleinste biologische Einheit des Nervensystems anzusehen ist kommt in funktioneller Hinsicht dem Zusammenwirken von neuronalen Zellverbanden eine wesentliche Aufgabe zu bei der Bewaltigung spezialisierter Aufgaben Hier sind es nicht einzelne Nervenzellen die hohere oder weniger komplexe Aufgaben zu leisten imstande waren sondern vielmehr verschiedene Arten von Netzwerken die ganz unterschiedlichen Anforderungen dienen Die einzelne Nervenzelle passt sich den Erfordernissen solcher vernetzten Aufgabenstellungen dadurch an indem sie das Synapsengewicht den jeweiligen Bedingungen entsprechend einstellt oder verandert Damit wird erreicht dass eingehende Signale entweder weitergegeben werden oder nicht Das Zusammenwirken von Nervenzellen gewinnt an Bedeutung nicht nur in Sachen der begrifflichen Definition neuronaler Zentren und dem Verstandnis ihrer anatomischen und topischen Beschaffenheit und Struktur sondern ist insbesondere fur das Erfassen funktioneller Zusammenhange bei neuropsychologischen Syndromen von Bedeutung Insofern konnen etwa die gegensatzlichen Standpunkte von Assoziationspsychologie im reduktionistischen Sinne und von Gestaltpsychologie im ganzheitlichen Sinne als Gegenstande einer fruchtbaren Auseinandersetzung und Erganzung angesehen werden 2 d 10 b 11 Die selbstorganisierende Arbeitsweise neuronaler Netze ist allein mit Vorstellungen eines Maschinenparadigmas nicht vollstandig zu ersetzen Literatur BearbeitenAlfred Erich Hoche Die Neuronenlehre und ihre Gegner A Hirschwald Berlin 1899 Franz Nissl Die Neuronenlehre und ihre Anhanger Ein Beitrag zur Losung des Problems der Beziehungen zwischen Nervenzelle Faser und Grau Fischer Jena 1903 Axel Karenberg Neuronenlehre In Werner E Gerabek Bernhard D Haage Gundolf Keil Wolfgang Wegner Hrsg Enzyklopadie Medizingeschichte Walter de Gruyter Berlin und New York 2005 ISBN 3 11 015714 4 S 1044 Olaf Breidbach Nervenzellen oder Nervennetze Zur Entstehung des Neuronenkonzeptes In E Florey O Breidbach Hrsg Das Gehirn Organ der Seele Berlin 1993 S 81 126 Weblinks BearbeitenKampf um die NeuronendoktrinEinzelnachweise Bearbeiten Robert F Schmidt Hrsg Grundriss der Neurophysiologie 3 Auflage Springer Berlin 1979 ISBN 3 540 07827 4 S 1 zu Stw Neuron a b c d Manfred Spitzer Geist im Netz Modelle fur Lernen Denken und Handeln Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg 1996 ISBN 3 8274 0109 7 a S 3 ff zu Stw Neuronentheorie b S 3 347 zu Stw neuronales Syncytium c S 52 95 103 ff 155 247 zu Stw Selbstorganisation d S 234 ff zu Stw Assoziationspsychologie und S 139 zu Stw Gestaltpsychologie a b c Alfred Benninghoff und Kurt Goerttler Lehrbuch der Anatomie des Menschen Dargestellt unter Bevorzugung funktioneller Zusammenhange 3 Bd Nervensystem Haut und Sinnesorgane 7 Auflage Urban amp Schwarzenberg Munchen 1964 a S 110 zu Stw Maschinenparadigma b S 109 ff zu Stw Neuronentheorie und Kontinuitatstheorie c S 109 ff wie b a b c Helmut Ferner Anatomie des Nervensystems und der Sinnesorgane des Menschen 2 Auflage Reinhardt Munchen 1964 S 34 ff zu Stw Neuronenlehre Paul Diepgen Heinz Goerke Aschoff Diepgen Goerke Kurze Ubersichtstabelle zur Geschichte der Medizin 7 neubearbeitete Auflage Springer Berlin Gottingen Heidelberg 1960 S 47 a b Alfred Kuhn Grundriss der allgemeinen Zoologie 15 Auflage Georg Thieme Stuttgart 1964 a S 168 zu Stw Nervennetz b S 168 zu Stw Hemmung der Nervenimpulse im Sinne des Dekrements Olfsworld Neurobiologie online a b Hermann Voss Robert Herrlinger Taschenbuch der Anatomie Nervensystem Sinnessystem Hautsystem Inkretsystem Band III 12 Auflage VEB Gustav Fischer Jena 1964 S 4 f zu Stw Neuron als morphologische funktionelle und genetische Einheit Thure von Uexkull Grundfragen der psychosomatischen Medizin Rowohlt Taschenbuch Reinbek bei Hamburg 1963 S 243 ff 257 ff zu Stw Nachrichtentechnik Modellvorstellungen a b Karl Jaspers Allgemeine Psychopathologie 9 Auflage Springer Berlin 1973 ISBN 3 540 03340 8 a S 130 zu Stw Neurologisches Grundschema b S 133 zu Stw Antagonismus Grundschemata S 137 f zu Stw Stufenfolge der Ganzheiten Ludwig J Pongratz Problemgeschichte der Psychologie Bern Munchen 1967 ISBN 3 7720 1717 7 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Neuronentheorie amp oldid 230093527