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Das Todeslager Osaritschi lag in der Nahe des weissrussischen Dorfes Osaritschi Kreis Kalinkawitschy nordlich der Stadt Masyr Dort betrieb die deutsche Wehrmacht vom 12 bis 19 Marz 1944 einen Lagerkomplex dreier organisatorisch zusammengehorender Einzellager fur arbeitsunfahige Zivilisten In nur einer Woche kamen dort mindestens 9000 Menschen ums Leben Das Massensterben in diesen Lagern wird von Dieter Pohl Historiker am Munchner Institut fur Zeitgeschichte als eines der schwersten Verbrechen der Wehrmacht gegen Zivilisten uberhaupt charakterisiert 1 Inhaltsverzeichnis 1 Militarischer Hintergrund und Planung 2 Lager und Opfer 3 Gerichtliche Ahndung 4 Historische Einordnung 5 Literatur 6 Weblinks 7 EinzelnachweiseMilitarischer Hintergrund und Planung Bearbeiten nbsp Der General der Panzertruppe Josef Harpe 1887 1968 gab im Marz 1944 den Befehl das Todeslager anzulegen Aufgrund der hoffnungslosen militarischen Lage im Fruhjahr 1944 musste die 9 Armee der Wehrmacht ihren Ruckzug vorbereiten Ihr Oberbefehlshaber Josef Harpe befahl im Marz 1944 arbeitsfahige Zivilisten zwangszurekrutieren und mitzunehmen parallel waren deren arbeitsunfahige Angehorige die sich nicht mehr selbst versorgen konnten zu deportieren Sie sollten alle in drei Notlagern bei der weissrussischen Ortschaft Osaritschi nordlich der Stadt Masyr konzentriert werden Ziel der Aktion war es in allen Korpsbereichen Seuchenkranke Kruppel Greise und Frauen mit mehr als zwei Kindern unter zehn Jahren sowie sonstige Arbeitsunfahige loszuwerden bzw nicht mehr versorgen zu mussen 2 Im Kriegstagebuch der 9 Armee vom 8 Marz 1944 heisst es dazu Es ist geplant aus der frontnahen Zone der Armee alle nicht arbeitsfahigen Einheimischen in den aufzugebenden Raum zu bringen und bei der Frontzurucknahme dort zuruckzulassen insbesondere die zahlreichen Fleckfieberkranken die bisher in besonderen Dorfern untergebracht worden sind um eine gesundheitliche Gefahrdung der Truppe nach Moglichkeit auszuschalten Der Entschluss sich von dieser auch ernahrungsmassig erheblichen Burde nunmehr auf diese Weise zu befreien ist vom AOK nach genauer Erwagung und Prufung aller sich daraus ergebender Folgerungen gefasst worden 3 Lager und Opfer Bearbeiten nbsp Gefallenendenkmal der 35 Division die an den Verbrechen in Osaritschi wesentlich beteiligt war in Karlsruhe Bis zum 12 Marz 1944 wurden die drei Lager als mit Stacheldraht umzaunte Areale ohne Gebaude oder sanitare Einrichtungen in diesem Sumpfgebiet in Frontnahe errichtet Der 9 Armee unterstellte Infanterie Divisionen namentlich die 35 Infanterie Division unter Generalleutnant Johann Georg Richert sowie das Sonderkommando 7a der SS Einsatzgruppe B trieben mindestens 40 000 Zivilisten in diese improvisierten Lager 4 Die Erfassungsaktionen in allen Divisionsbereichen setzte am fruhen Morgen des 12 Marz 1944 ein Erfassungskommandos der Divisionen fielen in den Dorfern ein Sie errichteten lagerartige Sammelplatze an denen Arzte der jeweiligen Divisionen die Selektion der arbeitsunfahigen von den arbeitsfahigen Zivilisten durchfuhrten Als arbeitsunfahig eingeschatzte Menschen wurden von ihren arbeitsfahigen Angehorigen von den Soldaten oft mit Waffengewalt brutal getrennt Besonders ubereifrig beim Zusammentreiben der Menschen war die 20 Panzerdivision die 7000 Zivilisten zu viel zusammengetrieben hatte die nicht mehr per Eisenbahn abtransportiert werden konnten und in extra zu diesem Zweck geraumten Ortschaften im Bereich des LV Korps verbleiben mussten Neben der 35 ID und 20 Panzerdivision waren bei diesen Erfassungsaktionen die 36 ID 110 ID 129 ID 134 ID 296 ID sowie die 5 Panzer Division beteiligt 5 Die als nicht arbeitsfahig selektierten Menschen aus den Bereichen des XXXXI und LVI Korps die den Auffanglagern am nachsten lagen wurden mit Fahrzeugen oder zu Fuss zu den Lagern gebracht zwischen dem 12 und 14 Marz jeweils Gruppen von 5000 bis 6000 Menschen Aus den weiter entfernten Bereichen des XXXXI und LV Korps erfolgten Bahntransporte Da die Kapazitaten nicht ausreichten und sich unter den Menschen ein hoher Anteil an Kindern und Sauglingen befand wurde festgelegt dass in die fur die Transporte bereitgestellten Viehwaggons bis zu 65 und mehr Menschen aufzunehmen waren 6 Bereits auf dem von Soldaten der beteiligten Infanterie Divisionen und dem Sonderkommando 7a eskortierten Weg in diese improvisierten Lager im Raum Osaritschi starben viele Menschen Mindestens 500 von ihnen darunter Kinder wurden von den Begleitmannschaften erschossen weil sie nicht mehr weiterlaufen konnten 7 Nach Angaben des deutschen Sicherheitsdienstes wurden die Lager mit 46 000 arbeitsunfahigen Zivilisten belegt 8 Das Oberkommando der 9 Armee wertete dies als Erfolg Die Erfassungsaktion hat fur das gesamte Gefechtsgebiet eine wesentliche Erleichterung gebracht Die Wohngebiete wurden erheblich aufgelockert und fur Truppenunterkunfte frei Fur nutzlose Esser wird keine Verpflegung mehr verbraucht Durch Abschieben der Seuchenkranken wurden die Infektionsherde bedeutend verringert 9 Nicht nur auf dem Transport sondern auch nach erfolgter Internierung schossen die Wachmannschaften der 35 Infanterie Division oft beim geringsten Anlass oder ganz ohne Grund auch auf Kinder sogar auf Versuche der Internierten hin vom Sumpfwasser zu trinken 10 In den improvisierten Lagern in freiem bewaldeten Sumpfgebiet ohne Unterkunfte oder auch nur einfache sanitare Anlagen zur Verrichtung der Notdurft war es den eingesperrten Zivilisten verboten Feuer anzuzunden um die Rote Armee nicht schon vor dem geplanten Ruckzug auf ihre Existenz aufmerksam zu machen Nachdem die Transporte in die Lager abgeschlossen waren ruckten die Wehrmachtseinheiten bis auf kleine Wachkommandos ab ehe am 17 Marz auch diese sich auf die neue Hauptkampflinie der 35 Infanterie Division zuruckzogen Ein Ausbrechen der Menschen wurde durch Granatwerferfeuer verhindert 11 Da die Menschen in den Lagern vollig unzureichend mit Nahrungsmitteln versorgt waren und in grosserer Zahl Typhuskranke ins Lager kamen waren bis zum Eintreffen der Roten Armee am 19 Marz bereits 9000 Menschen zu Tode gekommen 12 Nach weissrussischen Quellen konnten es insgesamt 20 000 Todesopfer gewesen sein 13 Wie viele Menschen nach dem 19 Marz 1944 noch an Typhus oder Entkraftung starben lasst sich nicht mehr ermitteln Eine sowjetische Untersuchungskommission gibt an bis zum 31 Marz seien bei den Uberlebenden 1526 Typhusfalle aufgetreten 14 Gerichtliche Ahndung BearbeitenDie Ausserordentliche Staatliche Kommission zur Feststellung der Verbrechen der deutsch faschistischen Eroberer erhob in ihrem Abschlussbericht vom 6 Mai 1944 den Vorwurf die Wehrmacht habe bewusst Typhuskranke in die Lager gebracht um die Seuche zu verbreiten Den Bericht legte die sowjetische Anklagebehorde im Nurnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher als Beweisdokument USSR 4 vor 15 In der UdSSR sollten unter anderen die Generale Harpe und Richert vor Gericht gestellt werden Richert der im Unterschied zu Harpe in sowjetische Gefangenschaft geraten war wurde Ende Januar 1946 im Minsker Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet Gerade weil die sowjetischen Kriegsverbrecherprozesse als Teile der sowjetischen Rechtsprechung nicht liberalen westlichen Rechtsauffassungen entsprachen erscheint es bemerkenswert dass Richert ausschliesslich wegen seiner Mitverantwortung fur den Tod Tausender Menschen in den Lagern von Osaritschi verurteilt wurde wahrend die von der Anklage erhobenen Vorwurfe der Mitverantwortung fur bewusst biologische Kriegfuhrung mittels systematischer herbeigefuhrter Typhusansteckungen im Urteil nicht bestatigt wurden 16 Historische Einordnung BearbeitenIn der geschichtswissenschaftlichen Literatur hat das hauptsachlich von der Wehrmacht verantwortete grosste Verbrechen beim Ruckzug die Morde an erschopften Zivilisten in den Evakuierungslagern um Osaritschi bei dem die Sicherheitspolizei eher peripher beteiligt war 17 mittlerweile eine relativ breite Rezeption gefunden Der Internierungs Konzentrations und Todescharakter der Lager lasst mehrere Bezeichnungen zu Wahrend Dieter Pohl von Evakuierungslagern fur Zivilisten spricht nennt der Osteuropa Historiker Hans Heinrich Nolte sie Konzentrationslager 18 Neben dem durch Hunger und Seuchen verursachten Massensterben wurden viele Menschen willkurlich erschossen so dass die Morde auch den Charakter eines Massakers hatten So sieht Christian Gerlach diese Internierung von Zivilisten explizit als Todeslager 19 Die offizielle Website der Gedenkstatte Chatyn die Osaritschi eine eigene Seite widmet schreibt uneinheitlich Lager Konzentrationslager und Todeslager 20 Hans Heinrich Nolte resumiert Das Verbrechen entspricht der Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener durch die Wehrmacht im Winter Es hat auch Ahnlichkeiten mit dem Verhungern von Juden sowie von nicht arbeitsfahigen Menschen wenn bei Partisanenaktionen Arbeitskrafte zwangsweise ins Reich gebracht wurden Das Verbrechen entspricht in vielem dem generellen Charakter des deutschen Kriegs gegen die UdSSR prazis auch in dem Wunsch unnutze Menschen nicht zu ernahren 18 Insofern ist Osaritschi in einer langen Kette schon vor dem Uberfall auf die UdSSR einkalkulierten Massnahmen der Hungerpolitik gegen unnutze Esser und Arbeitsunfahige zu verorten die man bereit war aus angeblichen kriegswirtschaftlichen Sachzwangen verhungern zu lassen 21 Literatur BearbeitenChristian Gerlach Kalkulierte Morde Die deutsche Wirtschafts und Vernichtungspolitik in Weissrussland 1941 bis 1944 Studienausgabe Hamburger Edition Hamburg 2000 ISBN 3 930908 63 8 Zugleich Dissertation an der TU Berlin 1998 Hans Heinrich Nolte Osarici 1944 In Gerd R Ueberschar Hrsg Orte des Grauens Verbrechen im Zweiten Weltkrieg Primus Darmstadt 2003 ISBN 3 89678 232 0 S 186 194 Dieter Pohl Die Herrschaft der Wehrmacht Deutsche Militarbesatzung und einheimische Bevolkerung in der Sowjetunion 1941 1944 Oldenbourg Munchen 2008 ISBN 978 3 486 58065 5 Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte Band 71 zugleich Habilitationsschrift an der Universitat Munchen 2007 Christoph Rass Menschenmaterial Deutsche Soldaten an der Ostfront Innenansichten einer Infanteriedivision 1939 1945 Schoningh Paderborn u a 2003 S 386 402 Kapitel Anatomie eines Kriegsverbrechens ISBN 3 506 74486 0 Krieg in der Geschichte Band 17 zugleich Dissertation an der RWTH Aachen 2001 online Christoph Rass Ozarichi 1944 Entscheidungs und Handlungsebenen eines Kriegsverbrechens In Timm C Richter Hrsg Krieg und Verbrechen Situationen und Inhalte Fallbeispiele Martin Meidenbauer Munchen 2006 ISBN 3 89975 080 2 S 197 206 Weblinks BearbeitenStiftung Denkmal fur die ermordeten Juden Europas Gedenkstattenportal zu Orten der Erinnerung in Europa Denkmal fur die Opfer der Lager von Osaritschi Einfuhrung Geschichte Opfer Erinnerung United States Holocaust Memorial Museum Ozarichi 1944 ein Film von Christoph Rass 2006 Informationen zu Osaritschi auf der Webseite der Gedenkstatte Chatyn Erschutternde Kindheit Vier Zeitzeugen aus Weissrussland berichteten uber ihre Erlebnisse im Konzentrationslager Osaritschi In Kolner Stadtanzeiger vom 22 September 2006 Als lebendes Schutzschild missbraucht Larisa Staschkewitsch hat das von der Wehrmacht errichtete Todeslager in Osaritschi uberlebt In Esslinger Zeitung vom 13 Januar 2010Einzelnachweise Bearbeiten Dieter Pohl Die Herrschaft der Wehrmacht deutsche Militarbesatzung und einheimische Bevolkerung in der Sowjetunion 1941 1944 Munchen 2008 S 328 Christoph Rass Menschenmaterial Deutsche Soldaten an der Ostfront Innenansichten einer Infanteriedivision 1939 1945 Paderborn 2003 Kapitel Anatomie eines Kriegsverbrechens S 386 402 Zitat S 390 vgl auch Christian Gerlach Kalkulierte Morde Die deutsche Wirtschafts und Vernichtungspolitik in Weissrussland 1941 bis 1944 Hamburg 1998 S 1097 ff BA MA Freiburg RH 20 9 176 zitiert nach Hans Heinrich Nolte Osarici 1944 In Gerd R Ueberschar Hrsg Orte des Grauens Verbrechen im Zweiten Weltkrieg Darmstadt 2003 S 186 194 hier S 186 Rene Rohrkamp Ozarichi 1944 Die Beteiligung der 35 Infanterie Division an einem Kriegsverbrechen gegen Zivilisten In Ernst Otto Braunche Hrsg Der Zweite Weltkrieg Last oder Chance der Erinnerung Widerspruch gegen das Ehrenmal der 35 Infanterie Division in Karlsruhe Symposium am 6 November 2014 in der Erinnerungsstatte Standehaus Herausgegeben im Auftrag des Stadtarchivs Karlsruhe Info Verlag Karlsruhe 2015 ISBN 978 3 88190 823 8 S 15 28 PDF Christoph Rass Menschenmaterial Deutsche Soldaten an der Ostfront Innenansichten einer Infanteriedivision 1939 1945 Schoningh Paderborn 2003 S 395f Christoph Rass Menschenmaterial Deutsche Soldaten an der Ostfront Innenansichten einer Infanteriedivision 1939 1945 Schoningh Paderborn 2003 S 396 Dieter Pohl Die Herrschaft der Wehrmacht deutsche Militarbesatzung und einheimische Bevolkerung in der Sowjetunion 1941 1944 S 328 Hans Heinrich Nolte Osarici 1944 S 190 BA MA Freiburg 20 9 197 S 122 zitiert nach Hans Heinrich Nolte Osarici 1944 S 189 Christian Gerlach Kalkulierte Morde S 1088 Christoph Rass Menschenmaterial Deutsche Soldaten an der Ostfront Innenansichten einer Infanteriedivision 1939 1945 Schoningh Paderborn 2003 S 397 Hans Heinrich Nolte Osarici 1944 S 190 geht von bis zu 13 000 Toten aus Christian Gerlach Kalkulierte Morde S 1098 nennt etwa 9000 Tote ebenso Christoph Rass Menschenmaterial Deutsche Soldaten an der Ostfront S 386 und Dieter Pohl Die Herrschaft der Wehrmacht deutsche Militarbesatzung und einheimische Bevolkerung in der Sowjetunion 1941 1944 Munchen 2008 S 329 Artikel bei Belorusskaja Voennaja Gazeta 15 Marz 2013 Christian Gerlach Kalkulierte Morde S 1099 Christoph Rass Menschenmaterial Deutsche Soldaten an der Ostfront S 387 f von dem sowjetischen Oberjustizrat Smirnow vorgelesene langere Passagen aus dem Dokument USSR 4 in Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militargerichtshof Bd 7 Verhandlungsniederschriften 5 Februar 1946 bis 19 Februar 1946 Nurnberg 1947 S 635 ff Hans Heinrich Nolte Osarici 1944 S 190 Dieter Pohl Die Kooperation zwischen Heer SS und Polizei in den besetzten sowjetischen Gebieten In Christian Hartmann Johannes Hurter Ulrike Jureit Hg Verbrechen der Wehrmacht Bilanz einer Debatte Verlag C H Beck Munchen 2005 S 107 116 hier S 116 a b Hans Heinrich Nolte Osarici 1944 S 187 Christian Gerlach Kalkulierte Morde S 1098 Info zu Osaritschi auf der Webseite der Gedenkstatte Chatyn Christian Gerlach Kalkulierte Morde S 46 ff u S 1097 ff Hans Heinrich Nolte Osarici 1944 S 192 52 1333 29 3333 Koordinaten 52 7 59 9 N 29 19 59 9 O Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Todeslager Osaritschi amp oldid 238286879