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Die Grossmutter Hypothese ist eine Hypothese aus der biologischen Anthropologie Sie versucht zu erklaren weshalb sich im Laufe der Evolution bei Frauen die Menopause entwickelt hat Zugleich versucht sie zu erklaren weshalb Frauen nach der altersbedingten Unfruchtbarkeit noch viele Lebensjahre erreichen konnen wahrend dies bei den meisten anderen weiblichen Saugetieren nicht der Fall ist unter anderem bei den Menschenaffen Neva Morris 3 August 1895 6 April 2010 im Alter von 110 Jahren sie erlebte gemessen am Durchschnitt mehr Jahre nach als vor der Menopause Inhaltsverzeichnis 1 Evolutionstheoretischer Hintergrund 1 1 Die Menopause als Adaptation 2 Empirische Studien zur Grossmutter Hypothese 3 Kritik 4 Weiterfuhrende Literatur 5 BelegeEvolutionstheoretischer Hintergrund BearbeitenNach der Evolutionstheorie von Darwin und Wallace bleiben jene Merkmale einer Art erhalten welche den merkmalstragenden Individuen den grossten Fortpflanzungserfolg geben Bei den meisten Saugetieren hat es sich im Laufe des Selektionsprozesses durchgesetzt dass die weiblichen Populationsmitglieder bis kurz vor dem Ende ihrer Lebenserwartung fertil sind weil sich deren hohere Fortpflanzungsrate im Verhaltnis zu weniger fertilen Artgenossinnen im Selektionsprozess als vorteilhaft erwiesen hat In diesem Rahmen wird von Evolutionsbiologen die Frage gestellt weshalb sich im Laufe der Hominisation bei Frauen eine im Verhaltnis zur maximalen Lebenserwartung relativ fruh einsetzende Infertilitat entwickelte denn das musste im Vergleich mit Artgenossinnen welche keine oder eine spatere Menopause entwickelt haben auf Grund der geringeren Fortpflanzungsrate ein Nachteil sein Die Menopause als Adaptation Bearbeiten nbsp Grossmutter mit Enkelin Gemalde von Georgios JakobidesDie Fitness im Selektionsprozess hangt nicht nur von der Anzahl der Neugeborenen sondern auch von deren Uberlebenswahrscheinlichkeit ab George C Williams brachte die Erklarung ins Spiel dass altere nicht mehr an eigener Fortpflanzung interessierte Frauen einen positiven Effekt auf die Uberlebensrate ihrer Kinder haben konnen und die Menopause somit eine Angepasstheit des heutigen Menschen darstellt 1 Von dieser evolutionstheoretisch fundierten Uberlegung ausgehend entwickelte insbesondere Kristen Hawkes die These dass auch der Einsatz der Grossmutter fur ihre Enkel evolutionar vorteilhaft und ein Grund fur die Menopause sein konnte 2 Im Laufe des Selektionsprozesses werden nach dieser Hypothese statistisch gesehen jene Individuen begunstigt die eine helfende lange lebende Grossmutter hatten Somit konnte sich nach der Grossmutter Hypothese das Merkmal der fruhen Infertilitat bei gleichzeitig hoher Lebenserwartung von Frauen durchsetzen Auch stochastische Modellierungen die 2014 von Peter S Kim Kristen Hawkes und anderen durchgefuhrt wurden zeigen dass es sich unter bestimmten Rahmenbedingungen um eine vorteilhafte Strategie handeln kann 3 Bei Menschenkindern besteht zudem im Verhaltnis zu den Jungtieren anderer Saugetiere eine langere und hohe Abhangigkeit von der Versorgung durch Erwachsene Je spater eine Frau Mutter wird desto hoher ist das Risiko vor der Fahigkeit des Kindes zur Selbstversorgung eines altersbedingten Todes zu sterben was die Uberlebenswahrscheinlichkeit der eigenen Nachkommen stark verringern wurde Dementsprechend sind die Merkmale jener Individuen begunstigt die neben dem Gebaren von Nachkommen auch langfristig deren Uberleben und das Uberleben von deren Nachkommen sichern konnen Durch spatere Geburten erhoht sich das Risiko von Ubertragungsfehlern des Genoms Chromosomenaberration in der Eizelle wahrend der meiotischen Zellteilungen bei der Eireifung 4 Damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit fur Fehlgeburten eine hohere Sauglingssterblichkeit sowie fur Erbkrankheiten an Dieser Zusammenhang wird als weiterer Beleg fur die Plausibilitat der Grossmutter Hypothese angefuhrt Empirische Studien zur Grossmutter Hypothese BearbeitenMehrere Studien an historischen Daten bestatigen einen Zusammenhang zwischen der Langlebigkeit einer Frau mit der Zahl ihrer uberlebenden Enkel 5 6 7 Eine Untersuchung von Kirchenbuchern der Landschaft Krummhorn westliches Ostfriesland aus den Jahren 1720 1874 ergab dass sich dieser Zusammenhang auf Grossmutter mutterlicherseits beschrankt wahrend sich bei Grossmuttern vaterlicherseits die Uberlebenswahrscheinlichkeit der Enkel verringerte 8 Auch andere Studien kamen zu dem Ergebnis dass die Anwesenheit von Grossmuttern in der Familie sich wesentlich gunstiger fur die Nachkommen von Tochtern denn von Sohnen auswirkt Eckart Voland Wulf Schiefenhovel und Athanasios Chasiotis schreiben dass eine Erklarung dafur in dem die soziale Evolution des Menschen beeinflussenden Umstand einer latenten Vaterschaftsunsicherheit liegen konnte wobei die Wahrscheinlichkeit gemeinsamer Gene zwischen Grosseltern und ihren Enkeln in der mannlichen Linie vergleichsweise geringer sei als in der weiblichen aber auch in dem Umstand dass Grossmutter mit den Frauen ihrer Sohne nicht verwandt sind Wahrend sich die reproduktiven Interessen von postmenopausalen Muttern und ihren erwachsenen Tochtern weitgehend uberlappen seien diese Interessen von Muttern und den Partnerinnen ihrer erwachsenen Sohne verschieden so dass es zu innerfamiliaren Stresserfahrungen kommen konne 9 Kritik BearbeitenDie Uberprufung der Hypothese anhand von empirischen Daten ist ausserst schwierig weil sie einen Prozess der Anpassung uber mehrere tausend Generationen beschreibt heutige Untersuchungen aber nur wenige Generationen umfassen konnen Die Auswertung historischer Quellen hingegen sieht sich mit dem Problem der Verlasslichkeit der Angaben konfrontiert An der Auffassung von der Menopause als evolutionare Angepasstheit wird kritisiert dass es sich nicht unbedingt um eine direkte Adaptation handeln muss sondern ebenso eine Exaptation sein konnte also eine indirekte Angepasstheit eines Merkmals durch die Selektion eines damit verbundenen Merkmals Neben Menschen ist von Kurzflossen Grindwalen und eventuell einigen Arten des Afrikanischen Elefanten bekannt dass diese nach der Unfruchtbarkeit eine langere maximale Lebenserwartung aufweisen 4 All diesen Saugetieren ist gemein dass die weiblichen Populationsmitglieder schon als Ungeborene ihren Vorrat an Eizellen Ovarialfollikeln entwickeln welche nach spatestens rund 50 Jahren durch Follikelatresie abgebaut sind und somit keine Ostrogene mehr bilden und freisetzen konnen 9 Die Menopause konnte demnach weder eine Angepasstheit noch eine sekundare Exaptation sein sondern eine zwangslaufige Folge des evolutionar etablierten Aufbaus und damit ein Teil der evolutionary constraints engl fur evolutionare Einschrankungen welche sich aus dem Korperbau und der Physiologie der Vorfahren ergeben haben und nicht mehr umkehrbar sind Die hohe Lebenserwartung von Frauen ware also nicht durch den Fitnessvorteil der Nachkommen der ubernachsten Generation erklarbar sondern die durchschnittliche Menopause zwischen dem 50 und dem 51 Lebensjahr ware eine architektonische Begrenzung die nicht uberwunden werden kann Weiterfuhrende Literatur BearbeitenRachel Caspari Kultursprung durch Grosseltern In Spektrum der Wissenschaft Nr 4 2012 Volltext Alan A Cohen Female post reproductive lifespan a general mammalian trait In Biological Review Band 79 Nr 4 2004 S 733 750 doi 10 1017 S1464793103006432 Volltext PDF 250 kB Sacha C Engelhardt Patrick Bergeron Alain Gagnon et al Using Geographic Distance as a Potential Proxy for Help in the Assessment of the Grandmother Hypothesis In Current Biology Band 29 Nr 4 2019 S 651 656 doi 10 1016 j cub 2019 01 027 englisch Mirkka Lahdenpera et al Fitness benefits of prolonged post reproductive lifespan in women In Nature Band 428 2004 S 178 181 doi 10 1038 nature02367 Mirkka Lahdenpera et al Selection for long lifespan in men benefits of grandfathering In Proceedings of the Royal Society B Band 274 Nr 1624 2007 S 2437 2444 doi 10 1098 rspb 2007 0688 Daniel E Lieberman et al The active grandparent hypothesis Physical activity and the evolution of extended human healthspans and lifespans In PNAS Band 118 Nr 50 2021 e2107621118 doi 10 1073 pnas 2107621118 Craig Packer et al Reproductive cessation in female mammals In Nature Band 392 1998 S 807 811 doi 10 1038 33910 Jocelyn Scott Peccei A Critique of the Grandmother Hypotheses Old and New In American Journal of Human Biology Band 13 2001 S 434 452 englisch wiley com PDF 125 kB abgerufen am 18 Dezember 2021 Martin Surbeck Christophe Boesch Catherine Crockford et al Males with a mother living in their group have higher paternity success in bonobos but not chimpanzees In Current Biology Band 29 Nr 10 2019 S PR354 R355 doi 10 1016 j cub 2019 03 040 englisch Eckart Voland Jan Beise Bilanzen des Alters oder Was lehren uns ostfriesische Kirchenbucher uber die Evolution von Grossmuttern In Historical Social Research Band 30 Nr 3 S 205 218 doi 10 12759 hsr 30 2005 3 205 218 ssoar info PDF 657 kB abgerufen am 18 Dezember 2021 Belege Bearbeiten G C Williams Pleiotropy natural selection and the evolution of senescence In Evolution Band 11 Nr 4 1957 S 398 411 doi 10 1111 j 1558 5646 1957 tb02911 x Volltext A termination of increasingly hazardous pregnancies would enable her to devote her whole remaining energy to the child care of her living children and would remove childbirth mortality as a possible cause for failure to raise these children S 408 K Hawkes J F O Connell N G Jones H Alvarez E L Charnov Grandmothering menopause and the evolution of human life histories In PNAS Band 95 Nr 3 1998 S 1336 1339 doi 10 1073 pnas 95 3 1336 Peter S Kim John S McQueen James E Coxworth Kristen Hawkes Grandmothering drives the evolution of longevity in a probabilistic model In Journal of Theoretical Biology Band 353 2014 S 84 94 doi 10 1016 j jtbi 2014 03 011 a b Lynette E Leidy Menopause in Evolutionary Perspective in Wanda R Trevathan Hrsg Evolutionary Medicine Oxford University Press New York 1999 S 414 417 bei Google bucher englisch Kristen Hawkes Human longevity The grandmother effect In Nature Band 428 2004 S 128 129 doi 10 1038 428128a Engelhardt SC Bergeron P Gagnon A Dillon L Pelletier F Using Geographic Distance as a Potential Proxy for Help in the Assessment of the Grandmother Hypothesis Curr Biol 2019 Feb 18 29 4 651 656 e3 doi 10 1016 j cub 2019 01 027 Epub 2019 Feb 7 PMID 30744976 1 Chapman Simon amp Lahdenpera Mirkka amp Pettay Jenni amp Lynch Robert amp Lummaa Virpi Offspring fertility and grandchild survival enhanced by maternal grandmothers in a pre industrial human society Scientific Reports 2021 11 10 1038 s41598 021 83353 3 2 Eckart Voland Jan Beise Bilanzen des Alters oder Was lehren uns ostfriesische Kirchenbucher uber die Evolution von Grossmuttern Historical Social Research Vol 30 2005 No 3 S 205 218 auf der Webseite Memento vom 29 September 2013 im Internet Archive PDF 394 kB der Universitat Giessen a b Eckart Voland Athanasios Chasiotis Wulf Schiefenhovel Das Paradox der zweiten Lebenshalfte Warum gibt es Grossmutter In Biologie unserer Zeit 34 Jahrgang 2004 Nr 6 S 369 und 367 Volltext Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Grossmutter Hypothese amp oldid 238582604