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Das Bettelweib von Locarno ist eine kurze Erzahlung von Heinrich von Kleist Zum ersten Mal wurde sie im zehnten von Kleists Berliner Abendblattern am 11 Oktober 1810 unter dem Kurzel mz publiziert 1 1811 dann in den zweiten Band der Erzahlungen aufgenommen Abb rechts Zweiter Druck 1811 nach der Erstveroffentlichung 1810 Inhaltsverzeichnis 1 Inhalt 2 Form 3 Interpretationen 3 1 Sozialkritische Lesarten 3 2 Psychologische Lesarten 3 3 Zum Fantastischen 4 Entstehung 5 Wirkungsgeschichte 6 Ausgaben 7 Literatur 8 Weblinks 9 EinzelnachweiseInhalt BearbeitenAn der Textoberflache erscheint Das Bettelweib von Locarno als recht harmlose Gespenstergeschichte nach der Mode der Zeit Ein Bettelweib erhalt von einer Marquise Obdach in einem Zimmer wird vom Marchese jedoch hinter den Ofen befohlen Auf dem Weg dorthin sturzt das Bettelweib aber und verletzt sich so schwer dass es den Weg hinter den Ofen nur unter Achzen schafft und dort stirbt Jahre spater will der inzwischen finanziell angeschlagene Marchese sein Schloss an einen interessierten Ritter verkaufen Dieser ubernachtet in besagtem Zimmer muss aber besturzt erfahren dass es dort gerauschvoll spukt Etwas Unsichtbares habe sich in einer Ecke erhoben und sei mit schweren Schritten hinter den Ofen gegangen um dort zusammenzubrechen Der Ritter reist am nachsten Morgen umgehend ab Um Geruchte zu zerstreuen die den Verkauf des Schlosses behindern will der Marchese der Sache nun selbst nachgehen auch er hort darauf die mitternachtlichen Gerausche Eine weitere Nacht nun mit der Marquise und einem Bediensteten lasst alle drei den Spuk erfahren Die nachste Nacht verbringen der Marchese und die Marquise mit einem Kettenhund an ihrer Seite in dem Zimmer Als der Hund vor dem erneut auftretenden Spuk zuruckweicht flieht die Marquise der Marchese versucht vergebens den unsichtbaren Gegner mit seinem Degen zu bekampfen er zundet das Zimmer an Der Marchese von Entsetzen uberreizt hatte eine Kerze genommen und dasselbe uberall mit Holz getafelt wie es war an allen vier Ecken mude seines Lebens angesteckt Vergebens schickte sie Leute hinein den Unglucklichen zu retten er war auf die elendiglichste Weise bereits umgekommen und noch jetzt liegen von den Landleuten zusammengetragen seine weissen Gebeine in dem Winkel des Zimmers von welchem er das Bettelweib von Locarno hatte aufstehen heissen 2 Schluss Form BearbeitenIn einem Brief machte sich Kleist Jahre vor der Entstehung der Erzahlung Das Bettelweib von Locarno uber die Bibliothek Wurzburg lustig dort seien namlich ausschliesslich lauter Rittergeschichten rechts die Rittergeschichten mit Gespenstern links ohne Gespenster anzutreffen an Wilhelmine von Zenge 14 Sept 1800 Unterstreichungen im Original 3 Angesichts dieses Zeugnisses darf man annehmen dass Kleist mit dem Bettelweib trotz der Publikation in den breitenwirksamen Berliner Abendblattern keine ausschliesslich der romantischen Unterhaltung dienende Gruselgeschichte vorschwebte Stattdessen lasst Kleist den Erzahler sich in zahlreiche Widerspruche verwickeln die allerdings von den Lesern meist unwillkurlich aufgelost werden so erscheint die Bruchigkeit als Erzahlprinzip Pastor Leroy Hier nur einige Beispiele 4 Es bettelt eigentlich nur wird aber durch die Marquise untergebracht dies zwar im stattlichsten Zimmer des Schlosses denn dort wird auch der kaufwillige Ritter untergebracht dort muss sich das Bettelweib dann aber auf einem Strohhaufen niederlassen Der Raum befindet sich mindestens im ersten Stockwerk was das Handeln der Marquise gegenuber einer alten gehschwachen Frau ebenfalls fragwurdig macht Es wird nicht klar warum der Marchese das Bettelweib uberhaupt hinter den Ofen schickt sein Unwille beim Anblick des Bettelweibs konnte sich auch gegen die Marquise gerichtet haben Der Ritter wird im leerstehenden Zimmer das sehr schon und prachtig eingerichtet war untergebracht Der Sturz des Bettelweibs der ja eigentlich zu seinem Tod gefuhrt hat bleibt in den Spuk Gerauschen aus Es ist nicht klar warum der Marchese und die Marquise eine weitere Nacht den Spuk uberprufen wollen Die Sorge der Marquise um den Marchese am Schluss ist inkonsequent um ein Begrabnis des Verstorbenen kummert sich niemand mehr Wie konnen die Knochen des Marchese in einem zerstorten Schloss in einem oberen Stockwerk zu liegen kommen usw Entsprechend den vielen Widersinnigkeiten des Textes gibt es zahlreiche sich teilweise diametral widersprechende Interpretationsmoglichkeiten Interpretationen BearbeitenTypisch fur Kleist ist die Konsequenz mit der die Erzahlung endet Der Tod des Marcheses in Uberreizung Wahnsinn und Lebensmudigkeit ist unter Umstanden zwar scheinbar selbst verschuldet letztlich aber unausweichlich Sozialkritische Lesarten Bearbeiten Der Adel wird kritisiert weil er seine soziale Verantwortung nicht wahrnimmt Er wird deshalb von den Gespenstern seiner Schuld heimgesucht Das Bettelweib ist demnach ausgeglitten weil der Marchese das Gesetz des Reprasentationszimmers uber den gebotenen Einzelfall Nachstenliebe einer Bedurftigen gegenuber gestellt hat Die Spukerscheinung taucht erst dann auf als der Marchese selbst zum Bedurftigen wird und sein Schloss verkaufen muss Der Adel wird insofern kritisiert als er seinen angestammten Aufgaben nicht nachkommt 5 Der Marchese und die Marquise deren zu grosse Distanz zueinander schon in den sprachlich unterschiedlichen Benennungen sichtbar wird die sich auch anhand getrennter Betten und Zimmer aufzeigen lasst sorgen selbst schon fur das Aussterben ihres Geschlechts Der Hund ist ungenugender Kinderersatz Er wird ins Zimmer gelassen weil die beiden etwas Drittes Lebendiges bei sich haben wollen Der erste Spuk ereignet sich in dem Moment als das Schloss verkauft werden muss weil die Vermogensumstande durch Krieg und Misswachs also durch Verletzung okonomischer Sorgfaltspflichten ins Ungleichgewicht geraten sind Psychologische Lesarten Bearbeiten Die Schuld Urszene setzt einen vernichtenden Wiederholungszwang in Gang 6 Als der Spuk aus seiner Latenz heraustritt setzt er den Selbstzerstorungstrieb in Gang In dem Mass als der Marchese den Spuk kontrollieren will verfallt er ihm Sobald der Marchese dem Spuk in der letzten Nacht mit dem Zuruf Wer da der einzigen direkten Rede der Erzahlung auf den Grund gehen will und keine Antwort erhalt scheint sein Schicksal besiegelt zu sein In Shakespeares Tragodie Hamlet die mit ebendiesen Worten beginnt und in der ein Geist und der Wahnsinn ebenfalls eine wichtige Rolle spielen fallt die Frage nach der Identitat auf den Fragenden zuruck 7 Nein gebt Antwort Halt und sagt wer ihr seyd 8 So wie der Marchese sich nicht mehr an die Episode mit dem Bettelweib zu erinnern scheint wird auch er am Schluss vergessen 9 Zum Fantastischen Bearbeiten Der Text zeigt nicht deutlich dass die Spukerscheinung in einem ursachlichen Zusammenhang mit dem Vorfall um das Bettelweib steht In den Spuknachten wird von einem Gerausch berichtet das in dem Zimmer zu horen sei Der Spuk in dem Zimmer wird als unbegreiflich oder gespensterartig beschrieben dazu Pastor Leroy niemand wurde vom Donner sagen er sei donnerartig Der Spuk scheint da kein Verursacher auszumachen ist zwar nicht mit den Naturgesetzen vereinbar dennoch ist das Gerausch horbar also in Grenzen den Naturgesetzen unterworfen Dass es sich bei dem Spuk um ein Phantasma handelt wird durch die verschiedenen Zeugen und die Reaktion des Hundes im Volksglauben als geistersichtig beschrieben ausgeschlossen Der Schwebezustand zwischen Naturlichem und Ubernaturlichem entspricht dem Wesen des Fantastischen und kann als strukturelle Analogie zum Schwebezustand im Erzahldiskurs Widerspruch zwischen Erzahlerstimme und Erzahltem gesehen werden 10 Entstehung BearbeitenNach der Familienchronik derer von Pfuel liegt der Erzahlung ein Erlebnis zugrunde das Friedrich von Pfuel Bruder des engen Kleist Freundes Ernst von Pfuel in Gielsdorf bei seinem Onkel passiert war und das er bei einem Aufenthalt in Berlin Kleist erzahlt hatte 11 12 Diese Angabe wurde durch die Kleist Forschung unter anderem den Kleist Forscher Helmut Sembdner bestatigt 13 14 Wirkungsgeschichte BearbeitenDas Werk weckte unterschiedliche Reaktionen 15 E T A Hoffmann lasst in Die Serapionsbruder Lothar sich begeistert uber Das Bettelweib von Locarno aussern Als Herausgeber Heinrich von Kleist s ausgewahlte Schriften aussert sich Ludwig Tieck ratlos Die Darstellung ist trefflich aber nach meiner Einsicht ist sie weder Gespenstergeschichte Marchen noch Novelle Theodor Fontane stellte fest dass das begangene Unrecht fur eine moralische Erzahlung viel zu klein sei Joseph von Eichendorff war 1846 uberzeugter Wo gibt es in unserer ganzen poetischen Literatur etwas Verzweiflungsvolleres als die kleine fast epigrammatisch grausenhafte Erzahlung vom Bettelweib von Locarno Ausgaben BearbeitenIn Berliner Abendblatter Hrsg von Heinrich von Kleist Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1 X 1810 bis 30 III 1811 Nachwort und Quellenregister von Helmut Sembdner Darmstadt 1982 Diesem reprografischen Nachdruck liegt folgende Ausgabe zugrunde Berliner Abendblatter 1 X 1810 bis 30 III 1811 Heinrich von Kleist Mit einem Nachwort von Georg Minde Pouet Leipzig 1925 Faksimiledrucke literarischer Seltenheiten 2 Heinrich von Kleist Samtliche Erzahlungen Wilhelm Goldmann Verlag Munchen 1980 ISBN 3 442 07532 7 Heinrich von Kleist Samtliche Werke Brandenburger Ausgabe Hrsg Roland Reuss Peter Staengle Bd 2 5 Das Bettelweib von Locarno Der Findling Die heilige Cacilie oder die Gewalt der Musik Basel Frankfurt am Main 1997 Heinrich von Kleist Das Bettelweib von Locarno In Samtliche Werke und Briefe 3 Erzahlungen Anekdoten Gedichte Schriften Hrsg Klaus Muller Salget Frankfurt am Main 1990 Bibliothek deutscher Klassiker 51 ISBN 978 3 618 60963 6 S 261 264 Heinrich von Kleist Das Bettelweib von Locarno In Samtliche Werke und Briefe Hrsg Helmut Sembdner dtv Munchen 2001 ISBN 978 3 423 12919 0 Heinrich von Kleist Die Verlobung in St Domingo Das Bettelweib von Locarno Der Findling Reclam Stuttgart ISBN 978 3 15 008003 0 Literatur BearbeitenHermann Buhlbacher Heinrich von Kleist Von einsturzender Architektur und der gebrechlichen Einrichtung der Welt Ruinen und Spuk Das Bettelweib von Locarno In Ders Konstruktive Zerstorungen Ruinendarstellungen in der Literatur zwischen 1774 und 1832 Bielefeld 1999 S 183 189 Bernhard Greiner Kleists Dramen und Erzahlungen Experimente zum Fall der Kunst Uni Taschenbucher Tubingen Basel 2000 ISBN 3 8252 2129 6 S 315 326 Kevin Hilliard Rittergeschichte mit Gespenst The Narration of the Subconscious in Kleist s Das Bettelweib von Locarno In German Life and Letters N S 44 4 1991 S 281 290 Dirk Jurgens und nach Zusammenraffung einiger Sachen Kleists Bettelweib von Locarno In Beitrage zur Kleist Forschung 2001 ISBN 3 9807802 0 1 Gerhard Oberlin Der Erzahler als Amateur Fingiertes Erzahlen und Surrealitat in Kleists Bettelweib von Locarno In Kleist Jahrbuch Stuttgart Weimar 2006 ISBN 978 3 476 02159 5 S 100 119 Eckart Pastor Robert Leroy Die Bruchigkeit als Erzahlprinzip in Kleists Bettelweib von Locarno In Etudes Germaniques 34 1979 S 164 175 Jochen Schmidt Heinrich von Kleist Die Dramen und Erzahlungen in ihrer Epoche Darmstadt 2003 ISBN 978 3 534 15712 9 Emil Staiger Heinrich von Kleist Das Bettelweib von Locarno Zum Problem des dramatischen Stils In Deutsche Vierteljahresschrift 20 1942 S 116ff Auch in Heinrich von Kleist Aufsatze und Essays Hrsg Walter Muller Seidel Darmstadt 1967 Wege der Forschung 147 S 113 129 Kritik zu Staigers Interpretation Siegfried J Schmidt Interpretationsanalysen Munchen 1976 S 93 104 Weblinks Bearbeiten nbsp Wikisource Das Bettelweib von Locarno Quellen und Volltexte Das Bettelweib von Locarno als Online Text im Projekt Gutenberg DE Das Bettelweib von Locarno als PDF 33 kB vom Kleist Archiv Sembdner Das Bettelweib von Locarno als Audioaufnahme mit CC LizenzEinzelnachweise Bearbeiten Reinhold Steig Heinrich von Kleist s Berliner Kampfe Berlin Stuttgart 1901 S 521 530 zit nach www textkritik de Samtliche Werke und Briefe 3 Hg Muller Salget S 264 Heinrich von Kleist Samtliche Werke Brandenburger Ausgabe Hrsg Roland Reuss Peter Staengle Bd 4 1 Briefe 1 Marz 1793 April 1801 Basel Frankfurt am Main 1996 S 294 Weitgehend nach Pastor Leroy Dazu vor allem Buhlbacher Vgl Schmidt Jochen Vgl Gerhard Oberlin Hamlet beim Projekt Gutenberg DE Vgl Hilliard Vgl Greiner Bernhard von Gersdorff Ernst von Pfuel Freund Heinrich von Kleists General preussischer Ministerprasident 1848 Stapp Berlin 1981 ISBN 3 87776 154 2 S 45 D Weber Gespenstergeschichten aus dreihundert Jahren Anaconda Verlag 2017 ISBN 978 3 7306 9166 3 S 298 google de abgerufen am 30 April 2021 Sigismund Rahmer Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter Nach neuen Quellenforschungen Berlin Reimer 1909 S 252 257 Helmut Sembdner Heinrich von Kleists Lebensspuren 1957 erw Auflage 1992 Nr 407 Samtliche Werke und Briefe 3 Hrsg Muller Salget Werke von Heinrich von Kleist Dramatische 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