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Brief uber die Blinden zum Gebrauch fur die Sehenden der Originaltitel lautete in franzosisch Lettre sur les aveugles a l usage de ceux qui voient ist ein Essay des franzosischen Autors Denis Diderot gedruckt 1749 in London Lettres sur les aveugles Londoner Erstausgabe 1749In seiner philosophischen Untersuchung die in Form eines Briefs verfasst wurde stellte Diderot die These auf dass der Zustand unserer Organe und unserer Sinne grossen Einfluss auf unsere Metaphysik und unsere Moral hat Er vertrat in diesem Brief zum ersten Mal deutlich und unmissverstandlich eine materialistisch atheistische Position Inhaltsverzeichnis 1 Historischer Hintergrund 2 Das Motto 3 Inhalt 3 1 Der Blinde von Puisaux 3 2 Saunderson 3 3 Das Molyneux Problem 3 4 Nachtrag 4 Rezeption in Deutschland 5 Ausgaben 6 Literatur 7 Weblinks 8 EinzelnachweiseHistorischer Hintergrund BearbeitenAdressatin des Briefs ist die Schriftstellerin Mme de Puisieux mit der Diderot zeitweise ein Verhaltnis unterhielt und die er uber langere Zeit finanziell unterstutzte Seit dem fruhen 18 Jahrhundert wurden in Paris Staroperationen unter reger Beteiligung von Zuschauern durchgefuhrt die u a von dem Augenarzt Michel Brisseau 1676 1743 beschrieben wurden 1 Nach erfolgreichen Augenoperationen die auch blind geborenen Menschen das Sehen ermoglicht hatten entspann sich in Frankreich eine Debatte in philosophisch literarischen Kreisen uber die Grundlagen der Wahrnehmung Mme de Pusieux hatte vor eine derartige Operation zu beobachten Wegen dieser Schrift wurde Diderot durch ein Lettre de cachet vom 24 Juli 1749 bis zum 3 November 1749 im Staatsgefangnis von Vincennes inhaftiert Die Verhaftung kam zu einem Zeitpunkt als die Vorbereitungen fur den Druck des ersten Bandes der Encyclopedie in vollem Gang waren die Veroffentlichung war durch die Verhaftung Diderots gefahrdet Diderots Verleger und Geldgeber Le Breton Michel Antoine David Laurent Durand und Claude Briasson schickten Bittschriften an den Grafen d Argenson Staatssekretar Ludwigs XV und Aufseher der Nationalbibliothek der damals noch mit Mme de Pompadour befreundet war an den fur die Zensur zustandigen und allseits verhassten Polizeiminister Nicolas Rene Berryer sowie an den Kanzler des Konigs Henri Francois d Aguesseau 2 Die Haftbedingungen in Vincennes waren vergleichsweise mild Diderot konnte sich innerhalb des Donjon frei bewegen Besuche empfangen z B von Jean Jacques Rousseau mit Mitarbeitern Kontakt aufnehmen und ihnen Arbeitsanweisungen geben Er wurde nach gut drei Monaten freigelassen und konnte weiterarbeiten Die Inhaftierung fuhrte bei Diderot in der Folge zu mehr Vorsicht und Sorgfalt beim Formulieren und Publizieren von Texten mit dem Ziel die Zensoren zu uberlisten Als zu riskant eingeschatzte Texte blieben in der Schublade Allerdings publizierte er ab diesem Zeitpunkt seine Schriften nicht mehr anonym Eine spatere Erganzung Diderots zu seiner Untersuchung Addition a la lettre sur les aveugles a l usage ce ceux qui voient erschien zwar 1782 in Grimms und Jacques Henri Meisters exklusiver handgeschriebener Correspondance litteraire die nur an Abonnenten verteilt wurde Publiziert wurden sie erst im 20 Jahrhundert in einer Werkausgabe Das Motto BearbeitenDiderot stellt seinem Brief ein Zitat aus Vergils Aeneis voran 3 allerdings in modifizierter Form Aus Possunt quia posse videntur ubersetzt aus dem Lateinischen sie konnen es weil sie glauben es zu konnen wird Possunt nec posse videntur sie konnen es obwohl es scheint sie konnen es nicht Der Sinn des Vergil Zitats ist in Diderots Formulierung praktisch ins Gegenteil verkehrt 4 Inhalt BearbeitenDiderot beginnt seine Uberlegungen mit seinem Besuch bei dem Blindgeborenen von Puisaux geht dann ausfuhrlich auf den Mathematiker und Professor in Oxford Nicholas Saunderson ein und beendet seinen Brief mit einer Diskussion des Molyneux Problems Der Blinde von Puisaux Bearbeiten Der Blinde von Puisaux 5 zeichnete sich aus durch eine besondere Verfeinerung des Tast und Horsinns Durch den Gefuhlssinn der in seinen Fingerspitzen aufs Feinste ausgepragt war hatte er Kenntnis von den Gegenstanden Er besass ein prazises Zeitgefuhl erkannte Symmetrie die aussere Gestalt von Formen die Lokalisation und Entfernung von Dingen im Raum die er genauer einschatzen konnte als ein Sehender Sein Begriff von Schonheit wich von dem Verstandnis eines Sehenden ab Schonheit ist fur den Blinden nur ein Wort wenn sie von der Nutzlichkeit getrennt ist S 52 6 Diderots Meinung dass der Zustand unserer Organe und unserer Sinne grossen Einfluss auf unsere Metaphysik und unsere Moral S 58 hatten sieht er bei dem Blinden bestatigt Fur ihn ist Diebstahl ein schweres Verbrechen da er gleicherweise als Tater und als Opfer dem Sehenden gegenuber im Hintertreffen ist Fur die der Moral entsprechenden Kleidervorschriften hat er kein Verstandnis da ihm ohne Gesichtssinn auch das Schamgefuhl abgehe ebenso wie das Gefuhl fur begangenes Unrecht bei einem mit allen Sinnen ausgestatteten Menschen mit wachsender raumlicher Distanz abnehme Die unmittelbare Verknupfung der moralischen Normen mit der sinnlichen Wahrnehmung fuhrt zu einer Relativierung der Moralvorstellungen 7 Saunderson Bearbeiten Diderot fahrt in seinem Brief mit Uberlegungen fort wie sich bei einem Blindgeborenen die Idee von Figuren bildet S 60 Das ausgezeichnete Gedachtnis des Blinden seine Fahigkeit die Dinge abstrakter wahrzunehmen pradestinieren ihn die wahrnehmbaren Eigenschaften eines Korpers durch Denken zu trennen Diderot folgert dass die Empfindungen die er durch den Gefuhlssinn gewonnen hat die Grundformen seiner Ideen bilden Blinde seien nicht abgelenkt durch visuelle Eindrucke daher besser in der Lage die Dinge abstrakter wahrzunehmen und in Fragen der Spekulation weniger der Tauschung unterworfen Das gelte sowohl fur die Physik als auch fur die Metaphysik S 63 Als Beispiel dient ihm der blinde Nicholas Saunderson Verfasser eines Lehrbuchs fur Algebra Erfinder einer Rechenmaschine fur Blinde und Professor in Cambridge wo er u a Mathematik Astronomie und Optik unterrichtete Kernstuck des Berichts ist ein fiktives Gesprach zwischen Saunderson auf dem Sterbebett und dem Geistlichen Gervasius Holms uber die Existenz Gottes Diderot referiert in seinem Text ein Gesprach zwischen Saunderson und dem Geistlichen das ebenso fiktiv ist wie die von William Inchlif geschriebene Biographie Saundersons 8 auf die sich Diderot beruft 9 Das Molyneux Problem Bearbeiten Im letzten Teil seines Essays setzt sich Diderot mit dem Molyneux Problem auseinander Kann ein Blinder dem man mit Hilfe einer Operation das Sehen ermoglicht hat durch blosses Betrachten also ohne sie zu beruhren eine Kugel von einem Wurfel unterscheiden 10 Die Frage wurde zum ersten Mal von William Molyneux in einem Brief an John Locke gestellt Durch eine Publikation des englischen Anatomen und Chirurgen William Cheselden der erfolgreich eine Augenoperation an einem 13 jahrigen Jungen vorgenommen hatte entwickelte sich in der Folge eine Debatte uber die Grundlagen der Wahrnehmung an der sich die philosophischen Koryphaen der Zeit wie George Berkeley Etienne Bonnot de Condillac auf den Diderot ausfuhrlich eingeht Leibniz Locke oder Voltaire beteiligten und die Inhalt des letzten Teils seines Briefs sind Diderot stellt sowohl die Zuverlassigkeit des Experiments als auch die Interpretation des Ergebnisses in Frage In seiner Methodenkritik geht er auf Anordnung und Durchfuhrung des Experiments ein Der Patient wurde sofort bei hellem Licht das auch einen Gesunden beim Sehen behindern konnte befragt anstatt ihn zunachst im gewohnten Dunkel zu belassen dem Auge die Moglichkeit zur Ubung zu geben eine vollstandige Heilung abzuwarten und ihn allmahlich erst ans Licht zu gewohnen S 92 Die anschliessende Befragung wurde vor einem schaulustigen Publikum vorgenommen anstatt vor einem Gremium von Fachleuten Naturwissenschaftlern Arzten Philosophen die zudem bei jeder Frage vorsichtig und bedacht vorgehen sollten Anschliessend an seine Methodenkritik reisst er wie schon in dem Passus uber Saunderson sprachphilosophische Fragen an Vorausgesetzt der Blinde konne nach einer gelungenen Operation scharf genug sehen um die einzelnen Dinge voneinander zu unterscheiden ware er dann sofort in der Lage den Dingen die er erfuhlte den gleichen Namen zu geben wie denen die er nunmehr sah S 82 Was konne jemand aussagen der es nicht gewohnt sei sich zu uberlegen und auf sich selbst zu besinnen S 94 Diderot nimmt an dass es Personen die in Philosophie Physik und im Fall der geometrischen Korper der Versuchsanlage in Mathematik ausgebildet sind leichter fiele erfuhlte und wahrgenommene Dinge in Ubereinstimmung zu bringen mit den Ideen die er durch den Gefuhlssinn gewonnen hat und sich von der Wahrheit ihres Urteils zu uberzeugen S 95 Er nimmt an dass dieser Prozess bei Personen die im abstrakten Denken geschult seien wesentlich schneller verlaufe als bei Personen die wenig gebildet seien und keine Ubung in der Reflexion hatten Nachtrag Bearbeiten Gut dreissig Jahre spater schrieb Diderot eine Addition a la lettre sur les aveugles in der er sich vor allem auf Melanie de Salignac eine Nichte von Sophie Volland bezieht die seit ihrem zweiten Lebensjahr erblindet war Er korrigiert nach Auflistung einer Reihe von Beobachtungen bei verschiedenen blinden Personen die er in der Zwischenzeit machen konnte vor allem seine fruheren Vermutungen dass Blinde im allgemeinen inhuman sind S 59 die Melanie ihm nie verzeihen konnte S 103 Ihre Liebenswurdigkeit und Empathiefahigkeit machte sie zum Liebling der Familie Auf Grund der Erziehung durch die Mutter hatte sie das allerfeinste Schamgefuhl was Diderot in seinem Brief den Blinden abgesprochen hatte und hiermit korrigiert Rezeption in Deutschland BearbeitenWahrend Diderots fruhe Schriften darunter auch der Brief uber die Blinden in Frankreich wohl wegen der Effizienz der staatlichen Zensur kaum wahrgenommen worden waren wurden sie in Deutschland bereits kurz nach Erscheinen in gelehrten Blattern ausfuhrlich besprochen zwischen 1746 und 1756 allein siebzig Mal 11 Herder leitet seine Schrift Die Plastik 1778 in der er eine Rehabilitierung des Tastsinns als eines Asthetischen Sinnes 12 postuliert in Gegenposition zur etablierten Kunsttheorie die dem Gesichtssinn den Vorrang gab mit einer Zusammenfassung einer der Grundthesen aus Diderots Essay ein Die fundamentale Bedeutung des Tastsinns fur die Welterschliessung und Welterfahrung bei Diderot dient ihm als Referenz 1808 publizierte und kommentierte Johann August Zeune der Grunder der Berliner Blindenanstalt und Begrunder der Blindenpadagogik in Deutschland den Diderot Text innerhalb seines Buchs Belisar Zeunes padagogisches Handbuch fur die Erziehung von Blinden wurde schon kurz nach Erscheinen in der Jenaischen allgemeinen Literatur Zeitung vom Oktober 1808 ausfuhrlich besprochen und loste eine offentliche Debatte uber die Moglichkeit der Bildung von Blinden aus 13 Ausgaben BearbeitenFranzosisch Lettre sur les aveugles a l usagede ceux qui voient In Diderot Œuvres completes Ed critique et annotee Herbert Dieckmann J Vallot Bd 4 Paris 1978 Addition a la lettre sur les aveugles a l usage ce ceux qui voient Paris 1972 1 Deutsch Brief uber die Blinden Zum Gebrauch der Sehenden Mit einem Nachtrag 1749 In Diderot Philosophische Schriften Herausgegeben und aus dem Franzosischen ubersetzt von Theodor Lucke Bd 1 Berlin Aufbau Verlag 1961 Brief uber den Blinden zum Gebrauch fur die Sehenden von 1749 In Diderot Philosophische Schriften Hrsg von Alexander Becker Suhrkamp Frankfurt a M 2013 Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft ISBN 3 518 29684 1Literatur BearbeitenAndrew Benjamin Endless touching Herder and sculpture In Aisthesis Bd 4 Nr 2011 Volltext Natalie Binczek Kontakt Der Tastsinn in Texten der Aufklarung Tubingen 2007 Studien zur deutschen Literatur ISBN 978 3 484 18182 3 Kapitel 3 Eine Medientheorie des Tastsinns Diderot S 134 171 Marjorie Degenaar Three Centuries of Perception of Forms Dordrecht 1996 Archives internationaux d historie des idees 147 ISBN 0 7923 3934 7 Jean Firges Lettre sur les aveugles in dsb Denis Diderot Das philosophische und schriftstellerische Genie der franzosischen Aufklarung Biographie und Werkinterpretationen Sonnenberg Annweiler 2013 ISBN 978 3 933264 75 6 S 17 22 in Deutsch Katia Genel La Lettre sur les aveugles de Diderot l experience esthetique comme experience critique In Le philosophoire Nr 21 3 2003 S 897 112 2 Kai Nonnenmacher Das schwarze Licht der Moderne Zur Asthetikgeschichte der Blindheit Berlin 2006 ISBN 3 484 63034 5 Darin Diderot und die Modernitat der Blindheit S 47 92 Hans P Spittler Massolle Blindheit und blindenpadagogischer Blick Der Brief uber die Blinden zum Gebrauch fur die Sehenden von Denis Diderot und seine Bedeutung fur den Begriff von Blindheit Frankfurt 2001 ISBN 978 3 631 37595 2 Brundhild Weihinger Lettre sur les aveugles a l usage de ceux qui voient In Kindlers Neues Literaturlexikon KLL Hrsg von Walter Jens Bd 4 Munchen 1998 S 672 673 674 Weblinks Bearbeiten nbsp Wikisource Lettre sur les aveugles a l usage de ceux qui voient Quellen und Volltexte franzosisch Diderot s Internment at Vincennes Briefe und Dokumente Stephane Lojkine Beaute aveugle et monstrusite sensible detournement de la question esthetique chez Diderot Margaret Jourdain Hrsg The Letter Of The Blind In Diderot Early Philosophical Works The Open Court Publishing Company 1916 S 68 141 englische Ausgabe online PDF 2 7 MB Einzelnachweise Bearbeiten Michel Brisseau Traite de la cataracte et du glaucoma Paris L D Houry 1709 Chronologie Henri Francois D Aguesseau Ubersicht in franzosischer Sprache online Vergil Anais Buch 5 Zeile 231 Kai Nonnenmacher Das schwarze Licht der Moderne Zur Asthetikgeschichte der Blindheit Walter de Gruyter 2006 ISBN 3 11 092110 3 S 84 388 S eingeschrankte Vorschau in der Google Buchsuche Mark Paterson The Senses of Touch Haptics Affects and Technologies Berg New York 2007 S 34 Alle wortlichen Diderot Zitate aus Diderot Philosophische Schriften Bd 1 Berlin 1961 Brunhilde Weihinger KLL S 672 William Inchlif The life and character of Dr Nicholas Saunderson late lucasian Professor of the mathematiks in the university of Cambridge by his disciple and friend William Inchlif Dublin 1747 Robert Edward Norton Herder s Aesthetics and the European Enlightment New York 1992 S 205 Anmerk 8 Marie Helene Chabut Denis Diderot extravagence et genialite Amsterdam 1998 S 70 A Man being born blind and having a Globe and a Cube nigh of the same bignes Committed into his Hands and being taught or Told which is Called the Globe and which the Cube so as easily to distinguish them by his Touch or Feeling Then both being taken from Him and Laid on a Table Let us Suppose his Sight Restored to Him Whether he Could by his Sight and before he touch them know which is the Globe and which the Cube Or Whether he Could know by his Sight before he stretch d out his Hand whether he Could not Reach them tho they were Removed 20 or 1000 feet from Him William Molyneux A Problem Proposed to the Author of the Essai Philosophique concernant L Entendement 7 Juli 1688 Vgl Anne Saada Diderot im Deutschland des 18 Jahrhunderts Raume oder Feld Aus dem Franzosischen von Claudia Albert In Markus Joch Norbert Christian Wolf Hgg Text und Feld Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis Tubingen Max Niemeyer 2005 Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur S 73 87 Johann Gottfried Herder Plastik Einige Wahrnehmungen uber Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume Riga Johann Friedrich Hartknoch 1778 Vgl Rezension zu August Zeune Belisar Uber den Unterricht der Blinden Berlin Weiss 1808 In Jenaische allgemeine Literatur Zeitung 21 Oktober 1808 Nr 247 Sp 137 142 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Brief uber die Blinden zum Gebrauch fur die Sehenden amp oldid 231403865