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Androgynos altgriechisch ἀndrogynos androgynos wortlich der Mannweibliche Plural androgynoi ist ein Begriff der altgriechischen Sprache der insbesondere in der literarischen Mythologie eine Rolle spielt Das Wort ist aus ἀnhr anḗr Genitiv ἀndros andros Mann und gynh gynḗ Frau gebildet Ursprunglich bezeichnete der Ausdruck nur weibische verweiblichte Manner wie die in Herodots Historien erwahnten Wahrsager bei den Skythen 1 Bei Platon kommt das Wort erstmals mit einer neuen Bedeutung vor In seinem Sprachgebrauch sind androgynoi mythische Wesen die androgyn sind das heisst sowohl mannliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale aufweisen 2 Im Talmud wird der Umgang mit Zwittern in einem eigenen recht kurzen Abschnitt Pereq namens Androgynos thematisiert und zwar wird diskutiert in welcher Hinsicht ein Zwitter Mannern oder Frauen gleicht in welcher Hinsicht Mannern und Frauen und in welcher Hinsicht weder Mannern noch Frauen Der Abschnitt gehort nicht zur eigentlichen Mischna sondern wurde der Tosephta Bikkurim 2 entnommen und in der Folge erweitert In der ersten Talmudausgabe fehlt er vollstandig findet sich aber bereits in der ersten Mischnaausgabe Neapel 1492 Inhaltsverzeichnis 1 Der platonische Mythos 2 Rezeption des Mythos 3 Literatur 4 AnmerkungenDer platonische Mythos BearbeitenWeithin bekannt wurde der Begriff in der Antike durch den Mythos von den Kugelmenschen den Platon in seinem fiktiven literarisch gestalteten Dialog Symposion Das Gastmahl erzahlen lasst Hier liegt der alteste Beleg fur androgynos im Sinne von Androgynie vor Platon hat den Mythos selbst erfunden und dabei alte mythische Motive verwertet 3 Der Kerngedanke kommt auch in aussereuropaischen Mythen vor 4 Platons fiktiver Erzahler ist der Komodiendichter Aristophanes Er nimmt an dem Gastmahl teil dessen Verlauf der Dialog schildert Jeder Teilnehmer halt eine Rede uber den Eros der das Thema der Zusammenkunft ist Die Rede des Aristophanes bietet eine mythische Erklarung fur die Entstehung des erotischen Begehrens 5 Dem Mythos zufolge hatten die Menschen ursprunglich kugelformige Rumpfe sowie vier Hande und Fusse und zwei Gesichter auf einem Kopf In ihrem Ubermut wollten sie den Himmel sturmen Dafur bestrafte sie Zeus indem er jeden von ihnen in zwei Halften zerlegte Diese Halften sind die heutigen Menschen Sie leiden unter ihrer Unvollstandigkeit jeder sucht die verlorene andere Halfte Die Sehnsucht nach der einstigen Ganzheit zeigt sich in Gestalt des erotischen Begehrens das auf Vereinigung abzielt Manche Kugelmenschen waren rein mannlich andere rein weiblich wiederum andere die androgynoi hatten eine mannliche und eine weibliche Halfte Die rein mannlichen stammten ursprunglich von der Sonne ab die rein weiblichen von der Erde die androgynen vom Mond 6 Mit dieser unterschiedlichen Beschaffenheit der Kugelmenschen erklart Platons Aristophanes die Unterschiede in der sexuellen Orientierung Nur die aus androgynoi entstandenen Menschen sind heterosexuell veranlagt 7 Platons Aristophanes der selbst homoerotisch veranlagt ist aussert seine Wertschatzung fur die aus rein mannlichen Kugelmenschen hervorgegangenen Homoerotiker Uber die androgynoi bemerkt er abschatzig dass zu ihnen die meisten Ehebrecher und Ehebrecherinnen gehoren Er unterstellt ihnen eine Neigung zu sexuellem Suchtverhalten und einen damit zusammenhangenden Mangel an Treue 8 Ausserdem erwahnt er dass zu seiner Zeit androgynos nur noch als Schimpfwort verwendet worden sei 9 Tatsachlich hatte das Wort im normalen Sprachgebrauch einen verachtlichen Sinn weibischer Mann Feigling 10 Rezeption des Mythos BearbeitenJudische Ausleger des Schopfungsberichts im ersten Buch Mose dem zufolge Gott den Menschen als Mann und Frau oder als mannlich und weiblich schuf 11 zogen bei der Interpretation der Stelle den platonischen Mythos heran da sie eine Analogie zwischen Platons Androgynos und dem ersten Menschen Adam sahen Nach der androgynen Deutung besass Adam vor der Aufspaltung durch die Erschaffung Evas aus seiner Rippe eine sowohl mannliche als auch weibliche Natur 12 Der Kirchenvater Eusebius von Caesarea meinte Platon habe den biblischen Schopfungsbericht gekannt und fur sein Symposion verwertet doch habe er ihn nicht richtig verstanden 13 In der Renaissance setzte eine neue Rezeption ein Der einflussreiche Humanist Marsilio Ficino veroffentlichte 1484 in Florenz seine lateinische Ubersetzung von Platons Symposion Ausserdem schrieb er dazu einen lateinischen Kommentar in Dialogform das Commentarium in convivium Platonis de amore das gewohnlich kurz De amore Uber die Liebe genannt wird Dieses ebenfalls 1484 gedruckte Werk wurde auch in einer italienischen toskanischen Fassung mit dem Titel El libro dell amore verbreitet Damit wurde erstmals seit dem Ende der Antike der platonische Androgynie Mythos einem breiten gebildeten Lesepublikum Mittel und Westeuropas zuganglich Im Kommentar vermied Ficino den Ausdruck androgyn und deutete die drei Geschlechter der Kugelmenschen allegorisch 14 Indem er sie als Sinnbilder fur drei unterschiedlich veranlagte Seelentypen auffasste und den gemischten mannweiblichen Seelen die Tugend der Gerechtigkeit als gottliche Gabe zuwies vermied er den damals anstossigen korperlich sexuellen Bezug Ausserdem interpretierte er die Teilung der Androgynoi christlich als allegorische Darstellung der Trennung der abtrunnigen Seele vom gottlichen Bereich Durch den Sundenfall hat sich die Seele von ihrer gottlichen Halfte getrennt und seither verfugt sie nicht mehr uber das gottliche Licht sondern nur noch uber das naturliche Durch Eros Amor das Einheit stiftende Prinzip kann sie jedoch ihre ursprungliche Vollkommenheit wiedererlangen Mit der Neutralisierung der sexuellen Affekte passte Ficino den Mythos den Anforderungen der herrschenden hofischen Verhaltensnormen und einer christlichen Platoninterpretation an Damit ermoglichte er die hofische Rezeption des Androgynie Motivs 15 In Frankreich begann die literarische Rezeption 1534 mit dem Roman Gargantua von Francois Rabelais Dort zeigt das Emblem an der Mutze des jungen Riesen Gargantua einen Androgynos der im Gegensatz zu Platons Schilderung zwei Kopfe hat die nach innen schauen Rabelais erhielt die Anregung wohl unmittelbar vom Symposion auf das er sich ausdrucklich berief der griechische Text lag ihm vor 16 In der ersten Halfte des 16 Jahrhunderts wurde der Mythos insbesondere im Umkreis der Konigin Margarete von Navarra literarisch verwertet Die Konigin die selbst als Schriftstellerin und Dichterin hervortrat griff das Sehnsuchtsmotiv in ihrer Dichtung Les prisons auf wobei sie an Ficinos Deutung anknupfte Ausserdem fugte sie in ihr Heptameron eine Sammlung von Erzahlungen eine Erorterung der Suche nach der verlorenen Halfte ein 17 Zu den Kulturtragern die Margarete forderte gehorte der Dichter Antoine Heroet der in seinem 1542 publizierten Gedicht L Androgyne de Platon das Thema auf der Grundlage von Ficinos Symposion Ubersetzung behandelte In Heroets sehr popularem Werk zwischen 1542 und 1568 sind funfzehn Ausgaben nachgewiesen wird der Mythos ans hofische Leben angepasst Die oft wechselhaften erotischen Beziehungen der adligen Hoflinge erhalten einen mythischen Hintergrund und eine Rechtfertigung Sie erscheinen als Versuche der getrennten Halften androgyner Kugelmenschen die verlorene Halfte wiederzufinden Die dabei unvermeidlichen Irrtumer erklaren und entschuldigen die Untreue in der Partnerschaft 18 Die Beliebtheit von Heroets Dichtung bewirkte dass das Wort androgyne als franzosisches Substantiv und Adjektiv in den Wortschatz der Gebildeten aufgenommen wurde und um die Mitte des 16 Jahrhunderts begann man den Ehepartner oder eine geliebte Person als meine Halfte 19 zu bezeichnen Interesse an der Thematik zeigte eine Reihe von Dichtern darunter Bonaventure des Periers der Sekretar Konigin Margaretes Er befasste sich in seinem Gedicht Blason du nombril das 1550 postum erschien mit dem Schicksal der platonischen Androgynoi Deren Bestrafung beurteilte des Periers als zu harte Massnahme der Gottheit 20 In der franzosischsprachigen Dichtung des 16 Jahrhunderts wurde auch der Gedanke vorgetragen dass die Ehe als Vereinigung der getrennten Halften zu betrachten sei 21 Der judische Philosoph Jehuda ben Isaak Abravanel Leone Ebreo ging im dritten Buch seiner 1535 postum veroffentlichten Dialoghi d amore Dialoge uber die Liebe auf Platons Mythos ein Er verband die Erzahlung im Symposion mit seiner Auslegung des Schopfungsberichts im ersten Buch Mose Die Erschaffung des Menschen als mannlich und weiblich deutete er als Aussage uber den Urmenschen Adam der nach seinem Verstandnis dem platonischen Androgynos entspricht Platons Zuordnung der androgynen Kugelmenschen zum Mond ergibt sich nach der Interpretation des judischen Denkers aus der Mittelstellung des Mondes zwischen Sonne und Erde Der Mond als Symbol der mannweiblichen Seelennatur des Urmenschen vermittelt zwischen der Sonne die fur den mannlichen Intellekt steht und der Erde die das Symbol der weiblichen Korperlichkeit ist Die mythische Zerlegung der Kugelmenschen in zwei Halften entspricht fur Jehuda Abravanel der Erschaffung Evas aus einer Rippe Adams das heisst durch Entzweiung des androgynen Urmenschen Diese Aufspaltung Adams wird wie im platonischen Mythos als Strafe aufgefasst Gott hat damit eine Ursunde des ersten Menschen bestraft die schon vor dem spateren Sundenfall begangen worden war Der anfangs androgyne Adam symbolisiert die hoherwertige geistige Liebe die erst durch die Abtrennung Evas einen korperlichen Aspekt erhielt 22 In italienischen Liebestraktaten des 16 Jahrhunderts wurde der platonische Androgynos gern als Argumentationshilfe herangezogen Debatten uber den Vorrang der geistigen Liebe gegenuber dem korperlichen Begehren und den Umgang mit den erotischen Leidenschaften sowie uber die Ebenburtigkeit der Geschlechter waren ein beliebter Ausdruck der hofischen Gesprachskultur Das Androgyniekonzept des Mythos diente dabei zur Illustration des Ideals einer edlen geistigen Liebe und der Gleichrangigkeit von Mann und Frau im aristokratischen Milieu In Pietro Bembos Dialog Gli Asolani wird aus der Halbheit der zerlegten androgynen Kugelmenschen die Naturnotwendigkeit der Erotik abgeleitet und damit der These widersprochen die Liebe sei als Leidensprinzip aufzufassen 23 Literatur BearbeitenAchim Aurnhammer Androgynie Studien zu einem Motiv in der europaischen Literatur Literatur und Leben Neue Folge Band 30 Bohlau Koln Wien 1986 ISBN 3 412 01286 6 Mario Jorge de Carvalho Die Aristophanesrede in Platons Symposium Die Verfassung des Selbst Konigshausen amp Neumann Wurzburg 2009 ISBN 978 3 8260 3782 5 Robert Valentine Merrill Robert J Clements Platonism in French Renaissance Poetry New York University Press New York 1957 S 99 117Anmerkungen Bearbeiten Herodot 4 67 Siehe dazu Katharina Waldner Geburt und Hochzeit des Kriegers Berlin 2000 S 155 Donat Margreth Skythische Schamanen Die Nachrichten uber Enarees Anarieis bei Herodot und Hippokrates Schaffhausen 1993 S 4 f 80 82 110 f Zu den Bedeutungen des Ausdrucks siehe Henry George Liddell Robert Scott A Greek English Lexicon 9 Auflage Oxford 1996 S 129 mit Belegen Marie Delcourt Karl Hoheisel Hermaphrodit In Reallexikon fur Antike und Christentum Band 14 Stuttgart 1988 Sp 649 682 hier 662 Hermann Baumann Das doppelte Geschlecht Berlin 1986 Nachdruck der Ausgabe Berlin 1955 S 134 176 182 360 363 Marie Delcourt Karl Hoheisel Hermaphrodit In Reallexikon fur Antike und Christentum Band 14 Stuttgart 1988 Sp 649 682 hier 650 652 Wendy Doniger Mircea Eliade Androgynes In Lindsay Jones Hrsg Encyclopedia of Religion 2 Auflage Bd 1 Detroit 2005 S 337 342 hier 338 Platon Symposion 189d 193d Platon Symposion 190a b Siehe dazu Bernd Manuwald Die Rede des Aristophanes 189a1 193e2 In Christoph Horn Hrsg Platon Symposion Berlin 2012 S 89 104 hier 93 f Platon Symposion 191d 192b Vgl Mario Jorge de Carvalho Die Aristophanesrede in Platons Symposium Wurzburg 2009 S 295 297 Platon Symposion 191d e Siehe dazu Mario Jorge de Carvalho Die Aristophanesrede in Platons Symposium Wurzburg 2009 S 296 302 Platon Symposion 189e Zu dieser gelaufigen Bedeutung siehe Katharina Waldner Geburt und Hochzeit des Kriegers Berlin 2000 S 155 f und die Belege bei Henry George Liddell Robert Scott A Greek English Lexicon 9 Auflage Oxford 1996 S 129 Genesis 1 27 Marie Delcourt Karl Hoheisel Hermaphrodit In Reallexikon fur Antike und Christentum Band 14 Stuttgart 1988 Sp 649 682 hier 666 668 Achim Aurnhammer Androgynie Studien zu einem Motiv in der europaischen Literatur Koln Wien 1986 S 28 f Eusebius von Caesarea Praeparatio evangelica 12 12 Vgl Marie Delcourt Karl Hoheisel Hermaphrodit In Reallexikon fur Antike und Christentum Band 14 Stuttgart 1988 Sp 649 682 hier 677 Marsilio Ficino De amore 4 1 2 Achim Aurnhammer Androgynie Studien zu einem Motiv in der europaischen Literatur Koln Wien 1986 S 45 48 Marian Rothstein Mutations of the Androgyne Its Functions in Early Modern French Literature In Sixteenth Century Journal 34 2003 S 409 437 hier 412 414 Achim Aurnhammer Androgynie Studien zu einem Motiv in der europaischen Literatur Koln Wien 1986 S 97 f Robert Valentine Merrill Robert J Clements Platonism in French Renaissance Poetry New York 1957 S 107 f Marian Rothstein Mutations of the Androgyne Its Functions in Early Modern French Literature In Sixteenth Century Journal 34 2003 S 409 437 hier 417 f Achim Aurnhammer Androgynie Studien zu einem Motiv in der europaischen Literatur Koln Wien 1986 S 98 100 Marian Rothstein Mutations of the Androgyne Its Functions in Early Modern French Literature In Sixteenth Century Journal 34 2003 S 409 437 hier 430 f Zur Verwendung von Halfte moitie in diesem Sinn in der Fruhen Neuzeit siehe Georges Gougenheim La decheance d un terme platonicien ma moitie In Festgabe Ernst Gamillscheg Tubingen 1952 S 44 50 Marian Rothstein Mutations of the Androgyne Its Functions in Early Modern French Literature In Sixteenth Century Journal 34 2003 S 409 437 hier 415 417 Robert Valentine Merrill Robert J Clements Platonism in French Renaissance Poetry New York 1957 S 105 107 Marian Rothstein Mutations of the Androgyne Its Functions in Early Modern French Literature In Sixteenth Century Journal 34 2003 S 409 437 hier 432 436 Achim Aurnhammer Androgynie Studien zu einem Motiv in der europaischen Literatur Koln Wien 1986 S 49 52 Achim Aurnhammer Androgynie Studien zu einem Motiv in der europaischen Literatur Koln Wien 1986 S 88 96 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Androgynos amp oldid 209907774