www.wikidata.de-de.nina.az
Der Zurcher Literaturstreit war eine Kontroverse um eine am 17 Dezember 1966 gehaltene Rede Emil Staigers in der vor allem Max Frisch die moderne Literatur pauschal verunglimpft sah Inhaltsverzeichnis 1 Diskussionsverlauf 1 1 Staigers Rede 1 2 Erste Reaktionen 1 3 Antworten 1 4 Weitere Diskussion 2 Auswirkungen 3 Audio Dokumente 4 Einzelnachweise 5 LiteraturDiskussionsverlauf BearbeitenStaigers Rede Bearbeiten Ausgangspunkt des Streites war die Dankesrede des Zurcher Germanisten und Hauptverfechters der werkimmanenten Interpretation Emil Staiger zur Verleihung des Literaturpreises der Stadt Zurich am 17 Dezember 1966 1 2 Die Laudatio zuvor hatte Werner Weber der Feuilleton Chef der Neuen Zurcher Zeitung NZZ gehalten Staiger erinnerte unter dem Titel Literatur und Offentlichkeit zunachst an die Sentenz Aut prodesse volunt aut delectare poetae aus der Ars poetica des Horaz Die Dichter wollen entweder nutzen oder ergotzen um dann der modernen Literatur vorzuwerfen sie stelle sich in den Dienst sozialer oder politischer Ideen und verliere so ihre echte uberzeugende den Wandel der Zeit uberdauernde Sprache Die Folgen kommentierte Staiger mit So sehen wir denn in der litterature engagee nur eine Entartung jenes Willens zur Gemeinschaft der Dichter vergangener Tage beseelte Staiger stellte die Frage ob allein die Individualitat die sich dichterisch aussert der Bewunderung wurdig sei und antwortete mit Bezug auf Friedrich Schiller dass ein Grundwille zur Gemeinschaft vorhanden sein und der Dichter sich zu sittlichen Grundbegriffen der Gerechtigkeit der Wahrheit und des Masses bekennen musse Diesen Willen sah er in zeitgenossischen Werken bedroht Man gehe die Gegenstande der neueren Romane und Buhnenstucke durch Sie wimmeln von Psychopathen von gemeingefahrlichen Existenzen von Scheusslichkeiten grossen Stils und ausgeklugelten Perfidien Sie spielen in lichtscheuen Raumen und beweisen in allem was niedertrachtig ist bluhende Einbildungskraft Wenn man anfange nur das Ungewohnliche Einzigartige Interessante als solches zu bewundern fuhrt der Weg unweigerlich uber das Aparte Preziose zum Bizarren Grotesken und weiter zum Verbrecherischen und Kranken zum Kranken und Verbrecherischen das nun nicht als Widerspiel in unserer Einbildungskraft ein wohlgeratenes hoheres Dasein evoziert das vielmehr um seiner eigenen Reize willen gekostet werden soll und meistens auch gekostet wird Dabei spielte er ohne seinen Namen zu nennen und als einziges Beispiel auf Peter Weiss an Wenn ein bekannter Dramatiker der Auschwitz auf die Buhne bringt in einem fruher verfassten Stuck mit Marquis de Sade als Helden einen Welterfolg errungen hat so nehmen wir an er habe hier wie dort die ungeheure Macht des Scheusslichen auf das heutige Publikum einkalkuliert und sich naturlich nicht verrechnet Staiger kritisierte die passive Haltung der Spiessburger die Exzessen applaudierten deren blosse Erwahnung sie sich ansonsten verbitten wurden und bemerkte Die Literatur wie jede Kunst verdient nicht als solche schon unseren Respekt Als grosse Dichter die allesamt von sittlicher Gesinnung beseelt seien nannte er Homer Sophokles Vergil Dante Shakespeare Corneille Racine Goethe Schiller Archilochos Petrarca Keats Leopardi Rilke aber auch Villon Verlaine und Trakl Zu den letzten drei Namen fugte Staiger erklarend hinzu er setze nicht das Einverstandnis mit der vorgefundenen Welt voraus wohl aber den Willen zu einer moglichen auf den Fundamenten der Sittlichkeit gegrundeten Menschengesellschaft Im Gegenzug warf er modernen Schriftstellern vor Wenn solche Dichter behaupten die Kloake sei ein Bild der wahren Welt Zuhalter Dirnen und Verbrecher Reprasentanten der wahren ungeschminkten Menschheit so frage ich In welchen Kreisen verkehren sie Gibt es denn heute etwa keine Wurde und keinen Anstand mehr nicht den Hochsinn eines selbstlos tatigen Mannes einer Mutter die Tag fur Tag im Stillen wirkt das Wagnis einer grossen Liebe oder die stumme Treue von Freunden Es gibt dies alles nach wie vor Nihilismus und Trummerliteratur seien Luxusartikel aus der Langeweile geboren Kein wirklich bedrangter Mensch konne es sich leisten nihilistisch zu sein wohl aber habe er Verstandnis fur ein mannliches aus tiefer Not gesungenes Kirchenlied Abschliessend appellierte Staiger an die Zuhorer fur eine Ruckkehr zu den Werten der alteren Literatur zu Mozart zuruck Die Rede wurde erstmals am 20 Dezember 1966 in der Neuen Zurcher Zeitung abgedruckt 1 Erste Reaktionen Bearbeiten Hugo Leber eroffnete seinen Kommentar Auf der Suche nach erbaulichen Helden am 21 Dezember 1966 im Tages Anzeiger mit den Worten Zerknirscht und bussfertig knie ich in den Beichtstuhl meines literarischen Gewissens Ich bekenne ich fand Gefallen an Kloakendichtern Leber kritisierte die pauschale Verdammung moderner Literatur ohne Namensnennung und stellte fest dass es die von Staiger beschworene Offentlichkeit der Elite nicht mehr gebe Eine Philippika gegen die Moderne erinnere an Parolen aus der Zeit des Nationalsozialismus oder aus dem Ostblock Die sogenannten engagierten Autoren wurden versuchen die Gesellschaft zu einer Gemeinschaft ohne Furcht zu verandern Leber verwies auf die Pluralitat subjektiver Wahrheiten und auf Albert Camus Jean Paul Sartre Bertolt Brecht Ernst Toller Robert Musil William Faulkner Nelly Sachs Paul Celan und Peter Huchel die der Menschlichkeit mindestens so nahe seien wie die schone Literatur vergangener Zeiten Werner Wollenberger wurdigte am 23 Dezember 1966 in der Zurcher Woche Professor Staiger versteht die Welt nicht mehr Staigers Verdienste erklarte jedoch die Ara Staiger fur beendet Die Rede lasse erkennen dass Staiger die moderne Literatur und die Welt nicht mehr verstehe er argumentiere mit einer nicht mehr vorhandenen Offentlichkeit und ubersehe die lange Tradition schauerlicher Szenen in der Weltliteratur Die fehlende Differenzierung und die Aufteilung in Gut und Bose fuhrten in letzter Konsequenz zum Scheiterhaufen fur Bucher Der stark personlich gefarbte Kommentar Endlich darf man es wieder sagen von Max Frisch in der Weltwoche vom 24 Dezember 1966 wird allgemein als Hohepunkt des Literaturstreits gesehen Frisch warf Staiger ein Standgericht wider die moderne Literatur insgesamt vor Verurteilung ohne namentliche Ausrufung selbstverstandlich ohne Untersuchung des jeweiligen Falles Salve So wir erinnern uns verfuhr man schon immer wenn die Rede war von entarteter Kunst Die Rede ware so Frisch weiter auch in Zeiten des Stalinismus begeistert aufgenommen worden In einer langen Reihe zeitgenossischer Autoren zeigte sich Frisch vorgeblich verwirrt welche Dichter gemeint sein konnten Schliesslich ausserte er sein Entsetzen daruber dass Staiger nunmehr sein vormals geruhmtes Unterscheidungsvermogen verloren habe Antworten Bearbeiten Werner Weber versuchte in einem Artikel in derselben Ausgabe die Wogen zu glatten wahrend Emil Staiger in einer kurzen Stellungnahme vom 28 Dezember 1966 beklagte bewusst falsch verstanden worden zu sein Er habe mit Wendungen wie in erschreckendem Masse nicht immer aber oft und in erstaunlich vielen Fallen eben nicht die moderne Literatur als Ganzes verdammt Ausdruckliche Ausnahmen seien etwa Nelly Sachs und Paul Celan Eine detaillierte Auflistung der inkriminierten Autoren und Werke sei allein aus Zeitgrunden nicht moglich gewesen Max Frisch Replik vom 6 Januar 1967 kritisierte beide Antworten in zynischem Ton und warf ihnen vor gerade die Praktiken des Anonymisierens der Gegner und der vagen Aussagen zu perpetuieren und zudem den Leser der NZZ im unklaren uber die Diskussion zu lassen indem etwa nur selektiv uber die Kritikpunkte berichtet werde Werner Weber replizierte in derselben Ausgabe und warf seinerseits Frisch unexakte Formulierungen und Verallgemeinerungen vor Weitere Diskussion Bearbeiten Die weitere Diskussion widmete sich vor allem der Zusammenfassung und Analyse der aufgeflammten Debatte und wiederholte die Kritik hinsichtlich Staigers Wortwahl und fehlender Differenzierung Wohlmeinendere Stimmen bedauerten die Form der Rede begrussten aber prinzipiell den Ansatz Hans Heinz Holz stellte in der Basler National Zeitung vom 15 Januar 1967 erstmals einen Konnex zu einem Aufsatz Staigers von 1933 her in dem er die Bucherverbrennungen der Nationalsozialisten als Indiz fur den Aufbruch zu einer neuen geistig gesunden Volksgemeinschaft gesehen hatte und warf Staiger vor nicht einzusehen dass die Einstellung aus der heraus er Kunstler als psychopathisch und kriminell brandmarkt zu den Verbrennungsofen von Auschwitz fuhren muss Weitere Kommentare wiesen auf die Kontinuitat von Argumentation und Wortwahl hin und widersprachen dem Tenor vieler fruhen Kommentare indem sie erklarten Staiger habe sich keine Entgleisung geleistet sondern meine es tatsachlich so Peter Handke monierte Seine Rede ist eine Spielart jener Unmenschlichkeit die mit dem unreflektierten Kauderwelsch einer langst verjahrten Menschlichkeit so oft eine Verstandigung zwischen Menschen verhindert Auswirkungen BearbeitenObwohl zahlreiche Stimmen im Jahr 1967 hohe Erwartungen an die Wichtigkeit des Zurcher Literaturstreits hatten war die Debatte bereits 1968 weitgehend erloschen Im Zuge der Studentenbewegung der folgenden Jahre fehlen Bezuge fast vollig 3 Spatere Analysen widmeten sich meist der Person Staigers nicht jedoch der von ihm aufgestellten Hypothese als wissenschaftlicher Theorie Als wichtigere Zasur der Germanistik wird eher der Munchner Germanistentag 1966 angenommen Vereinzelt wird der Zurcher Literaturstreit als Appendix einer Behandlung der werkimmanenten Interpretation diskutiert 3 Weithin bekannt ist der Streit als Medienereignis vor allem im Zusammenhang mit Frischs Engagement Die Problematik war jedoch nicht auf konkrete Personen beschrankt In seinem Angriff auf den Zurcher Germanisten Karl Schmid im Januar 1974 wehrte sich Max Frisch ein weiteres Mal gegen eine staatserhaltende das Gemeinschaftliche betonende Literaturpflege die Schmid als Professor Wissenschaftsfunktionar und hoher Offizier unbefangener vertreten konnte als seine bundesdeutschen Kollegen nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs 4 Audio Dokumente BearbeitenEmil Staigers Rede vom 17 Dezember 1966 als Tondokument via nzz ch MP3 32 2 MB Einzelnachweise Bearbeiten a b Literatur und Oeffentlichkeit Eine Rede von Emil Staiger Neue Zurcher Zeitung 20 Dezember 1966 Nr 5525 Blatt 5 Morgenausgabe PDF 9 67 MB In welchen Kreisen verkehren sie Neue Zurcher Zeitung 10 Juni 2008 a b Michael Bohler Der neue Zurcher Literaturstreit Bilanz nach 20 Jahren In Albrecht Schone Hrsg Kontroversen alte und neue Bd 2 Niemeyer Tubingen 1986 S 252 f siehe Roman Bucheli Dienstmann auf vielen Bahnsteigen der Nation Vor hundert Jahren wurde der Zurcher Germanist und Publizist Karl Schmid geboren Neue Zurcher Zeitung 31 Marz 2007 Nr 76 S B1Literatur BearbeitenDer Zurcher Literaturstreit Eine Dokumentation Sprache im technischen Zeitalter Heft 22 1967 ISSN 0038 8475 Der Beginn einer Krise Zum Zurcher Literaturstreit Sprache im technischen Zeitalter Heft 26 1968 ISSN 0038 8475 Erwin Jaeckle Der Zurcher Literaturschock Bericht Langen Muller Munchen und Wien 1968 Gerhard Kaiser ein mannliches aus tiefer Not gesungenes Kirchenlied Emil Staiger und der Zurcher Literaturstreit In Mitteilungen des Deutschen Germanisten Verbandes 47 2000 Heft 4 S 382 394 ISSN 0012 1061 Michael Bohler Der neue Zurcher Literaturstreit Bilanz nach 20 Jahren In Albrecht Schone Hrsg Kontroversen alte und neue Bd 2 Niemeyer Tubingen 1986 S 250 262 ISBN 3 484 10526 7 Christine Weder Kunst oder Pornographie Fur und wider die gegenwartige Literatur im Zurcher Literaturstreit In Dies Intime Beziehungen Asthetik und Theorien der Sexualitat um 1968 Walstein Gottingen 2016 S 192 211 ISBN 978 3 8353 1947 9 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Zurcher Literaturstreit Staiger amp oldid 213955515