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Vita activa oder Vom tatigen Leben ist das philosophische Hauptwerk der politischen Theoretikerin Hannah Arendt Die auf Vorlesungen beruhende Arbeit wurde zunachst 1958 in den USA unter dem Titel The Human Condition veroffentlicht Die deutsche Fassung die sie selbst ubersetzt hatte erschien 1960 Vor dem Hintergrund der Geschichte politischer Freiheit und selbstverantwortlicher aktiver Mitwirkung der Burger am offentlichen Leben in den USA entwickelte Arendt darin eine Theorie des politischen Handelns Inhaltsverzeichnis 1 Uberblick 2 Die Moglichkeit einen Anfang zu machen als Voraussetzung eines aktiven politischen Lebens 2 1 Arbeiten und Herstellen 2 2 Handeln 3 Vom Verstandigungsprozess im politischen Raum zur Massengesellschaft 4 Kritik 5 Ausgaben 6 Literatur 7 Weblinks 8 FussnotenUberblick BearbeitenArendts Text ist in sechs Hauptkapitel untergliedert Das Eroffnungskapitel Die menschliche Bedingtheit ist der Entwicklung ihres Leitbegriffs der Vita activa gewidmet Das zweite Kapitel dient der Unterscheidung zwischen dem Raum des Offentlichen und dem Bereich des Privaten In den anschliessenden Kapiteln drei bis funf stellt sie unter den Uberschriften Die Arbeit Das Herstellen und Das Handeln jeweils zentrale menschliche Hervorbringungsprozesse in den Mittelpunkt ihrer Analyse Im Schlusskapitel Die Vita activa und die Neuzeit beschreibt sie die einschneidenden Wandlungsprozesse zwischen europaischer Vormoderne und Moderne und endet mit ihrer Diagnose vom Sieg des Animal laborans wonach das politische Handeln durch Konformitat und Funktionalitat begrenzt werde Die Moglichkeit einen Anfang zu machen als Voraussetzung eines aktiven politischen Lebens BearbeitenIm Gegensatz zu Heidegger begrundet Arendt ihr Denken von der Geburt des einzelnen Menschen her und nicht vom Tod In Vita activa fuhrt sie diesen Gedanken der Geburtlichkeit Natalitat aus Mit der Geburt beginne die Moglichkeit einen Anfang machen zu konnen Das Individuum habe die Aufgabe in Kooperation mit anderen Individuen die sie umgebende Welt aktiv zu beeinflussen zu formen Dabei geht es ihr um die basalen Existenz und Persistenzbedingungen menschlichen Lebens die sie auf drei Grundtatigkeiten beschrankt Arbeiten Herstellen und Handeln nach den altgriechischen Begriffen ponos poiesis und praxis Als davon unabhangig und letztlich nicht beschreibbar charakterisiert sie das menschliche Wesen bzw die menschliche Natur die weder terminologisch noch ontologisch zu definieren seien Versuche das Wesen des Menschen zu bestimmen enden zumeist mit irgendwelchen Konstruktionen eines Gottlichen 1 Alle drei Grundtatigkeiten sind nun nochmals in der allgemeinsten Bedingtheit menschlichen Lebens verankert dass es namlich durch Geburt zur Welt kommt und durch Tod aus ihm wieder verschwindet Was die Mortalitat anlangt so sichert die Arbeit das Am Leben Bleiben des Individuums und das Weiterleben der Gattung das Herstellen errichtet eine kunstliche Welt die von der Sterblichkeit der sie Bewohnenden in gewissem Masse unabhangig ist und so ihrem fluchtigen Dasein so etwas wie Bestand und Dauer entgegenhalt das Handeln schliesslich soweit es der Grundung und Erhaltung politischer Gemeinwesen dient schafft die Bedingungen fur eine Kontinuitat der Generationen fur Erinnerung und damit fur Geschichte Das Handeln sei enger an die Geburtlichkeit gebunden als das Arbeiten und Herstellen Jeder der neu in diese Welt geboren werde besitze die Potenz wiederum einen Anfang zu machen also aktiv und damit verandernd zu handeln 2 Arbeiten und Herstellen Bearbeiten Die Arbeit als erste Komponente der Vita activa entspricht dem biologischen Prozess des menschlichen Korpers Sie dient dem Fortbestand der Gattung Daher gehort Arbeit notwendig zum menschlichen Leben aber auch zu dem jedes anderen Lebewesens Arbeit ist so sieht es Arendt nicht mit Freiheit verbunden sondern stellt einen Zwang zur Erhaltung des Lebens dar dem der Mensch von der Geburt bis zum Tod standig unterliegt Auf der Grundlage der Arbeit die seine Existenz sichert beginnt der Mensch uber die Endlichkeit seines Daseins nachzudenken Um dieser Gewissheit zu entfliehen schafft er sich eine Welt aus Dingen die er mit Geist und Kraft aus unterschiedlichen Materialien herstellt und die seine Lebenszeit uberdauern Das Wichtige ist hierbei dass der Mensch sich nicht nur in einer Umgebung wiederfindet so wie jedes Tier es tut sondern er baut eine eigene Welt auf Arendt geht davon aus dass diese Welt bestandig ist Die einzelnen hergestellten Dinge die sie ausmachen sind so dauerhaft dass das Individuum eine Beziehung dazu aufbauen kann Eine starke Form einer solchen Beziehung stellt zum Beispiel das Gefuhl des nach Hause Kommens dar Ohne gewisse bestandige Eigenschaften des zu Hause Seins kann eine Beziehung nicht aufgebaut werden In einer sich standig andernden Welt kann der Mensch sich nicht zu Hause fuhlen Die von Arendt eingefuhrte Unterscheidung zwischen Arbeiten und Herstellen bezieht sie auch auf die Produktion Als Produkte der Arbeit bezeichnet sie Konsumguter die verbraucht werden wahrend Produkte des Herstellens oder des Werkens gebraucht werden Handeln Bearbeiten Die dritte Komponente stellt das Handeln dar das sich zwischen den Individuen abspielt und zugleich die Einzigartigkeit und Pluralitat menschlichen Seins veranschaulicht Das Handeln ist im ontologischen Sinne eine menschliche Fahigkeitsoption Jedes Individuum kann argumentiert Arendt gesellschaftlich existieren ohne jemals selbst zu arbeiten oder selbst etwas herzustellen Handeln hingegen stellt den Kern menschlicher Interaktion und damit politischen Existierens dar was fur Arendt eine fundamentale Eigenschaft menschlichen Seins ist Kommunikation d h Finden des rechten Wortes im rechten Augenblick ist immer schon Handeln Stumm ist nur die Gewalt und schon aus diesem Grunde kann die schiere Gewalt niemals Anspruch auf Grosse machen 3 Das Bewusstsein des eigenen Menschseins konne zwar auch ohne zu handeln beim Individuum vorhanden sein fur die anderen menschlichen Handelnden werde aber dieses nicht handelnde Individuum niemals als Mensch wahrnehmbar sein Handeln ist fur Arendt wesentlich mit dem offentlichen Raum verknupft ohne ihn nicht ausfuhrbar oder denkbar Am deutlichsten erkennbar wird dies so Arendt am Beispiel der antik griechischen Polis in der das Arbeiten zumindest in ihrer historischen Perspektive zum privaten Raum des Haushalts Oikos gehort wahrend sich das gemeinschaftliche Handeln der individuellen Vollburger der Polis im offentlichen Raum auf dem Marktplatz der Agora abgespielt habe Fur Arendt scheint in dieser Epoche der europaischen Geschichte der paradigmatische Ort der Vita activa auf der politischen Kommunikation und Interaktion unter Burgern die allesamt im Besitz der gleichen Freiheitsrechte gewesen seien Obwohl Aristoteles die hochste Erfullung in der Vita contemplativa mithin in der philosophischen Suche der Weisheit sah erachtete er den Menschen nichtsdestoweniger als wesenhaft politisch zoon politikon Vom Verstandigungsprozess im politischen Raum zur Massengesellschaft BearbeitenDemgegenuber kam es so Arendt im Mittelalter auf der Grundlage christlicher Dogmatik zu einer Verschiebung Die hochste Freiheit fur den Menschen lag nun in der auf Gott ausgerichteten Vita contemplativa Dabei wurde das Element des handwerklich kunstlerischen Herstellens hoher bewertet als das philosophische Denken und politische Handeln Der Mensch wurde zum Homo faber d h Erschaffer einer kunstlichen Welt Das sprachlose Staunen welches seit der Antike als Beginn und Ende aller Philosophie galt und nur Wenigen zuganglich war verlor an Bedeutung zugunsten des betrachtend anschauenden Blicks der handwerklich Schaffenden 4 Eine erneute Verschiebung der Werte ergab sich in der Neuzeit Durch Ausweitung der Okonomie in den offentlichen Raum trat die gesellschaftliche Bedeutung der Arbeit immer mehr in den Vordergrund und ist in der modernen Massengesellschaft dominierend geworden Der Mensch wurde zum animal laborans arbeitenden Tier Ziel ist die moglichst hohe Steigerung der Arbeitsproduktivitat und die Umwandlung aller Dinge in Konsumguter Der Begriff der Gesellschaft umfasst nunmehr auch tendenziell den politischen Bereich Die Bedeutung des Politischen des Handelns ist somit in den Hintergrund getreten Arendt kritisiert die christlich abendlandische Philosophie Zwar hatten die meisten Philosophen sich zu politischen Fragen geaussert aber kaum einer habe unmittelbar am politischen Diskurs teilgenommen Als Ausnahme sah sie lediglich Machiavelli Auch wenn bei Hegel das Politische eine Aufwertung gefunden habe wendet sich Arendt vor allem gegen die geschichtsphilosophische Vorstellung Hegels von der Notwendigkeit der geschichtlichen Entwicklung Die Idee des Absoluten als Ziel der Geschichte fuhre zur Ideologie und damit zur Rechtfertigung von undemokratischen Praktiken und schliesslich zu den Formen der totalen Herrschaft Das moderne Individuum entfernt sich ebenfalls vom Politischen auf Grund der radikalen Subjektivitat seines Gefuhlslebens der dauernd wechselnden Stimmungen und Launen die es in endlose innere Konflikte verstricken Die Einzelnen werden gesellschaftlich normiert Abweichungen von dieser Norm werden als asozial oder anormal verbucht Es kommt zum Phanomen der Massengesellschaft mit der Herrschaft der Burokratie Dabei werden die sozialen Klassen und Gruppierungen nivelliert Alle Glieder der Gemeinschaft werden mit gleicher Macht kontrolliert Das Gleichmachen der Konformismus in der Offentlichkeit fuhrt dazu dass Auszeichnungen und Besonderheiten zu Privatangelegenheiten von Individuen werden Grosse Anhaufungen von Menschen entwickeln die Tendenz zur Despotie entweder eines Einzelnen oder zum Despotismus der Mehrheit 5 Auch in der Vorstellung der Geschichtlichkeit als Grundbedingung der menschlichen Existenz bei Heidegger bleibt fur die Autorin das Denken der Kontemplation verhaftet Eine Vita activa erfordert hingegen die Fragen nach den Prinzipien des Politischen und den Bedingungen der Freiheit Als Ansatz hierzu sah Arendt wie Jaspers die Moralphilosophie Kants in der die Frage nach den Bedingungen der menschlichen Pluralitat im Vordergrund gestanden habe Kant habe nicht nur Staatsmanner und Philosophen betrachtet sondern alle Menschen als Gesetzgeber und Richter angesehen und sei so zu der Forderung nach einer Republik gekommen der sich die Forscherin anschliesst In diesem Werk geht Arendt der historischen Wandlung von Begriffen wie Freiheit Gleichheit Gluck Offentlichkeit Privatheit Gesellschaft und Politik nach und beschreibt den Bedeutungswandel im jeweiligen historischen Kontext Dabei ist ihr Bezugspunkt die Attische Demokratie insbesondere zur Zeit des Sokratischen Dialogs Ihrer Auffassung nach gilt es die verlorenen Bereiche des Politischen wiederum in der Gegenwart modifiziert zu verankern und damit die Fahigkeiten politisch denkender und handelnder freier Individuen die versuchen sich voreinander auszuzeichnen fruchtbar zu machen Im Gegensatz dazu sieht sie den verbreiteten Behaviorismus der darauf abziele den Menschen in allen seinen Tatigkeiten auf das Niveau eines allseitig bedingten und sich verhaltenden Lebewesens zu reduzieren 6 Kritik BearbeitenIhr Schuler Richard Sennett 2008 halt die von Arendt getroffene Unterscheidung menschlicher Arbeit fur falsch weil sie den praktisch tatigen Menschen zerlegt Wahrend Animal laborans auf die Frage des Wie fixiert ist fragt Homo faber nach dem Warum 7 Sennett stellt heraus dass auch das Animal laborans denken kann Dieser Ansatz erfordere ein tieferes Verstandnis des Herstellens von Dingen ein materialistischeres Engagement als man es bei Denkern vom Schlage Hannah Arendts findet 8 Laut Sennett kann das Animal laborans Homo faber als Fuhrer dienen 9 Der Philosoph Helmut Seidel wendet sich gegen die Trennung von Arbeiten Herstellen und Handeln bei Arendt Volker Caysa 2010 zufolge ist fur Seidel Praxis also das o g Handeln auch Herstellen durch Arbeit Seidel gehe von einer konkreten Identitat von Arbeit Herstellen und Handeln aus die durch ihre Entfremdung in der burgerlich kapitalistischen Gesellschaft getrennt erscheine 10 Als Ethnologe erkennt Gerd Spittler eine ungerechtfertigte Abwertung der Arbeit gegenuber dem Herstellen Er schreibt dass Arbeiten nicht so geistlos ist wie unterstellt wird und sich auch nicht systematisch vom Herstellen trennen lasst Arbeit enthalt schopferische spielerische und asthetische Momente Sie fordert und fordert vielmehr vielseitige menschliche Fahigkeiten 11 Ausgaben BearbeitenHannah Arendt Vita activa oder Vom tatigen Leben Kohlhammer Stuttgart 1960 englisch The human condition Hannah Arendt Vita activa oder Vom tatigen Leben Piper Munchen Zurich 2002 ISBN 3 492 23623 5 wieder ebd 2009 Hannah Arendt The human condition University of Chicago Press Chicago 1998 ISBN 0 226 02598 5 Literatur BearbeitenWolfgang Heuer Hannah Arendt Rowohlt Reinbek 1987 ISBN 3 499 50379 4 S 52f S 92 101 Marie Luise Knott Anmerkung zur Zweisprachigkeit In Wolfgang Heuer Bernd Heiter Stefanie Rosenmuller Hrsg Arendt Handbuch Leben Werk Wirkung J B Metzler Stuttgart Weimar 2011 ISBN 978 3 476 02255 4 S 68f Ludger Lutkehaus Natalitat Philosophie der Geburt Die Graue Edition Kusterdingen 2006 ISBN 978 3 90633 647 3 Anette Vowinckel Arendt Reclam Leipzig 2006 ISBN 3 379 20303 3 S 41 48 Maike Weisspflug Jurgen Forster The Human Condtion Vita activa oder Vom tatigen Leben In Wolfgang Heuer Bernd Heiter Stefanie Rosenmuller Hrsg Arendt Handbuch Leben Werk Wirkung J B Metzler Stuttgart Weimar 2011 ISBN 978 3 476 02255 4 S 61 68 Thomas Wild Hannah Arendt Suhrkamp Frankfurt am Main 2006 ISBN 3 518 18217 X S 85 92 Elisabeth Young Bruehl Hannah Arendt Leben Werk und Zeit Fischer Frankfurt am Main 2004 ISBN 3 596 16010 3 S 352 362 S 414 423 S 438 450 Amerikanische Originalausgabe 1982 Weblinks BearbeitenHannah Arendt The Human Condition Abgerufen am 13 Juni 2023 Hannah Arendt The Vita Activa and the Modern Age Abgerufen am 13 Juni 2023 Fussnoten Bearbeiten Vita activa oder vom tatigen Leben VA Munchen Zurich TB 2002 S 21 VA TB 2002 S 17f VA TB 2002 S 36 VA TB 2002 S 387f VA TB 2002 S 51ff VA TB 2002 S 55f Richard Sennett Handwerk Berlin 2008 S 16 Richard Sennett Handwerk Berlin 2008 S 17 Richard Sennett Handwerk Berlin 2008 S 18 Volker Caysa Uber die Transformation des Geistes der Leipziger Bloch Zeit in der praxisphilosophischen Debatte um und vor 1968 in der DDR in Klaus Kinner Hrsg Die Linke Erbe und Tradition Teil 1 Berlin 2010 S 194 Gert Spittler Anthropologie der Arbeit Ein ethnographischer Vergleich Springer VS Wiesbaden 2016 S 30 ISBN 978 3 658 10433 7 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Vita activa oder Vom tatigen Leben amp oldid 236332404