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Die Sozialwahltheorie engl social choice theory auch Theorie kollektiver Entscheidungen engl theory of collective choice genannt beschaftigt sich mit Gruppenentscheidungen durch Aggregation individueller Praferenzen bzw Entscheidungen zu einer kollektiven Praferenz bzw Entscheidung in Form von Abstimmungen und Wahlen mit den dabei entstehenden Problemen und Paradoxien sowie deren Vermeidung Wahrscheinlichkeit und Losung Das Problem der zyklischen Mehrheiten Condorcet Paradoxon und die Methode der paarweisen Abstimmung Condorcet Methode werden meist als Einfuhrung in die Sozialwahltheorie verwendet andere bekannte Beispiele sind die Borda Wahl das Ostrogorski Paradox und das Paradox des Liberalismus Die Sozialwahltheorie ist ein interdisziplinares und heimatloses Forschungsfeld das v a von Vertretern der Mathematik Volkswirtschaftslehre Politikwissenschaft Psychologie Philosophie und Rechtswissenschaft betrieben wird Die Sozialwahltheorie wird bisweilen mit der Theorie der rationalen Entscheidung verwechselt bzw falschlicherweise gleichgesetzt daruber hinaus bestehen Uberschneidungen zur Neuen Politischen Okonomie Inhaltsverzeichnis 1 Historisches 2 Methoden 3 Einfuhrung und einfache Erkenntnisse 3 1 Bedeutung der Aggregationsregel 3 2 Wahlbeispiel 4 Allgemeine Aggregationsprobleme 4 1 Voraussetzungen 4 2 Qualitatskriterien 5 Eigenschaften der Sozialwahlverfahren 6 Heresthetik Die Kunst der politischen Manipulation 7 Forscher 8 Einzelnachweise 9 Literatur 10 WeblinksHistorisches BearbeitenAls Hauptbegrunder und Pioniere der Sozialwahltheorie in der Mitte des 20 Jahrhunderts gelten die Okonomen Kenneth Arrow und Duncan Black Der spatere Nobelpreistrager Arrow bewies in seinem Arrow Theorem mathematisch dass es keine perfekte demokratische Aggregationsregel auf Basis von Praferenzordnungen gibt Black entdeckte bei seinen Forschungen unabhangig von Arrow historische Vorganger die sich mit Problemen bei Wahlverfahren beschaftigt hatten So stellte er die in Vergessenheit geratenen Arbeiten von Jean Charles Borda Marquis de Condorcet und Charles Lutwidge Dodgson vor Andere Forscher fanden heraus dass bereits im Mittelalter analytische Studien zu Wahlverfahren und Wahlregeln unternommen wurden u a von Ramon Llull und Nikolaus von Kues 1 Im ganzen 19 und fruhen 20 Jahrhundert beschaftigten sich v a Rechtswissenschaftler mit Aggregationsverfahren insbesondere bei der ausserst lebhaft gefuhrten Diskussion um die Abstimmungsmethode in Richterkollegien Totalabstimmung oder Abstimmung nach Grunden und bei der Einfuhrung und Ausgestaltung des Verhaltniswahlrechts Methoden BearbeitenIn der Sozialwahltheorie kommt eine analytische mathematisch formale Sprache und Methode zum Einsatz Relationen haben hierbei eine wichtige Bedeutung Dabei wird haufig mit Annahmen und Vereinfachungen v a bei der Modellierung individueller Praferenzen gearbeitet Die axiomatische Sozialwahltheorie untersucht Eigenschaften von Wahlverfahren und stellt Bedingungen auf z B Einschrankungen von Praferenzen unter denen keine Wahlprobleme auftreten Diese Theoreme versucht sie u a mit Hilfe der Logik und der Mengenlehre mathematisch zu beweisen Die bekanntesten und bedeutendsten Theoreme der Sozialwahltheorie sind das Arrow Theorem und das Gibbard Satterthwaite Theorem Die probabilistische Sozialwahltheorie versucht mittels Wahrscheinlichkeitsrechnung Kombinatorik und Geometrie die Wahrscheinlichkeit von Wahlproblemen und Paradoxien zu ermitteln Die Beschrankungen der Sozialwahltheorie beruhen zum einen darauf dass sie Koalitionsbildung und strategisches Abstimmungsverhalten die bei Wahlen weit verbreitet sind nur ungenugend berucksichtigt Stattdessen wird meist von der unrealistischen Annahme ausgegangen dass die Beteiligten Einstellungen bei der Stimmabgabe aufrichtig ausdrucken s u den Abschnitt zu heresthetics Einfuhrung und einfache Erkenntnisse BearbeitenBedeutung der Aggregationsregel Bearbeiten Eine einfache Erkenntnis der Sozialwahltheorie ist dass das Resultat von Wahlen und Abstimmungen auch von der verwendeten Aggregationsregel abhangt So konnen verschiedene Aggregationsverfahren bei identischen individuellen Praferenzen hochst unterschiedliche Wahlergebnisse zur Folge haben Zum Beispiel kann bei einer Wahl mit mehr als zwei Kandidaten der Kandidat der bei einer Wahl mit relativer Mehrheit siegreich ist bei einer paarweisen Wahlmethode Condorcet Methode gegen alle anderen verlieren und somit den letzten Platz belegen Wahlbeispiel Bearbeiten Gegeben sei eine Gruppe von n 21 Personen die aus m 3 Kandidaten A B C einen Vorsitzenden wahlen Die Mitglieder der Gruppe haben folgende Praferenzen erste Praferenz a a b b c czweite Praferenz b c a c a bdritte Praferenz c b c a b aPraferenzordnung von x Personen 6 0 5 2 5 3Erklarung 6 Personen haben die Praferenz a vor b a vor c und b vor c Die Kleinschreibung der Buchstaben zeigt individuelle Praferenzen an Das Wahlergebnis ist bei diesem Beispiel besonders abhangig von der Wahlmethode Bei der Methode der einfachen Mehrheit Pluralitatswahl gewinnt Kandidat C mit 8 Stimmen Kandidat B erreicht 7 und Kandidat A 6 Stimmen Wahlergebnis C vor B vor A Bei der Methode der paarweisen Abstimmungen Condorcet Methode gewinnt Kandidat A gegen jeden anderen Kandidaten Kandidat C verliert gegen jeden anderen Wahlergebnis A vor B vor C Bei der Borda Wahl entsteht folgendes Wahlergebnis Kandidat B erreicht 44 Stimmen Kandidat A 43 und Kandidat C 39 Stimmen Wahlergebnis B vor A vor C Wenn man allerdings die Bildung von Koalitionen in die Analyse mit einbezieht so ergibt sich dass sich ein vorhandener Condorcet Sieger in allen Wahlverfahren durchsetzt in denen die Beteiligten gleiches Stimmengewicht haben Voraussetzung dafur ist allerdings dass die Beteiligten die Praferenzen der anderen Beteiligten kennen und so abstimmen dass das von ihnen bevorzugte Ergebnis herauskommt Allgemeine Aggregationsprobleme BearbeitenVoraussetzungen Bearbeiten Vereinfacht dargestellt konnen Aggregationsprobleme und Paradoxien bei folgenden Bedingungen auftreten es stehen mehr als zwei Kandidaten Alternativen zur Wahl Abstimmung die individuellen Praferenzen sind nicht homogen und kein Kandidat bzw keine Alternative verfugt uber eine absolute Mehrheit Qualitatskriterien Bearbeiten Es gibt zahlreiche Aggregationsverfahren siehe unten die Liste der Sozialwahlverfahren Die Sozialwahltheorie hat eine Reihe von Kriterien entwickelt mit deren Hilfe die Vor bzw Nachteile einzelnen Verfahren charakterisiert werden Die wichtigsten sind Kriterien anhand derer die Vor und Nachteile der einzelnen Verfahren erkannt und beurteilt werden displaystyle underline text Kriterien anhand derer die Vor und Nachteile der einzelnen Verfahren erkannt und beurteilt werden nbsp Nicht Diktatur Die gesellschaftliche Entscheidung hangt nicht von den Praferenzen eines einzelnen Individuums ab Alle Teilnehmer sind gleichberechtigt Vollstandigkeit Das Verfahren erlaubt beliebig viele Entscheidungsalternativen und beliebig viele Teilnehmer Die individuellen Praferenzanordnungen a wird gegenuber d sowie d gegenuber f bevorzugt der einzelnen Teilnehmer unterliegen keinen Einschrankungen Unabhangigkeit von irrelevanten Alternativen Die Rangordnung zweier Alternativen ist unabhangig von weiteren Alternativen und deren Bewertung Unabhangigkeit von Klon Alternativen Das Ergebnis andert sich nicht wenn die gleiche Alternative mehrfach geklont zur Auswahl steht bzw wenn Klone entfernt werden Klon Alternativen sind solche zwischen die kein Teilnehmer eine andere Option einordnet Majoritatskriterium Wunscht eine absolute Mehrheit eine bestimmte Alternative dann setzt sie sich durch Konsistenzkriterium Wird die Liste der Entscheidungsalternativen inklusive der Ergebnisse beliebig geteilt und eine Alternative ist in allen Teillisten bestgereiht dann ist diese Alternative auch in der Gesamtliste bestgereiht Condorcet Kriterium Wird eine bestimmte Alternative im paarweisen Vergleich gegenuber allen anderen Alternativen bevorzugt dann ist diese Alternative auch in der Gesamtliste bestgereiht Schwaches Pareto Prinzip Bevorzugen alle Individuen eine Alternative d gegenuber Alternative f gilt das auch fur die kollektive Praferenz Condorcet Verlierer Kriterium Wird eine bestimmte Alternative im paarweisen Vergleich gegenuber allen anderen Alternativen abgelehnt dann ist diese Alternative auch in der Gesamtliste am schlechtesten gereiht Transitivitatkriterium Wenn a gegenuber d bevorzugt wird und d wiederum gegenuber f dann folgt daraus a wird gegenuber f bevorzugt Nicht alle dieser Kriterien sind voneinander unabhangig bzw gleich stark So folgt z B aus der Erfullung des Condorcet Kriteriums unmittelbar die Erfullung des Majoritatskriteriums umgekehrt ist dies nicht der Fall Zudem folgt fur alle Praferenzwahlsysteme aus der Erfullung des Condorcet Kriteriums die Verletzung des Konsistenzkriteriums und umgekehrt Eigenschaften der Sozialwahlverfahren BearbeitenDie Mehrheitswahl oder der Mehrheitsentscheid plurality voting Jeder Teilnehmer gibt seine Stimme einer einzigen Alternative Er kann seine Praferenzen nicht feiner abgestuft ausdrucken Die Unabhangigkeit von irrelevanten Alternativen ist nicht gegeben Die Vorzugswahl preferential voting ranked voting Jeder Teilnehmer ordnet die Alternativen gemass seinen individuellen Praferenzen in eine Reihenfolge Dies ist eine feinere Abstufung als bei der Mehrheitswahl aber der Teilnehmer hat keine Moglichkeit die Intensitat seiner Praferenzen auszudrucken Beispiele dafur waren Borda Wahl Condorcet Methode Coombs Wahl Instant Runoff Voting IRV Ranked Pairs Schulze Methode Bucklin Wahl und weitere Fur samtliche Verfahren der Vorzugswahl gelten die Einschrankungen des Arrow schen Unmoglichkeitstheorems beziehungsweise des Gibbard Satterthwaite Theorems Die Bewertungswahl range voting rated voting Jeder Teilnehmer bewertet samtliche Alternativen mit Punkten aus einem vorgegebenen Intervall Dies erlaubt es dem Teilnehmer Reihung und Intensitat seiner Praferenz fur die jeweilige Alternative auszudrucken Beispiele dafur waren Bewertungswahl Wahl durch Zustimmung und Majority Judgment Heresthetik Die Kunst der politischen Manipulation BearbeitenUnerfullte Qualitatskriterien s oben konnen dazu fuhren dass die Wahler nicht ihre wahre individuelle Entscheidung zum Ausdruck bringen sondern wahltaktischen Uberlegungen folgen um einen bestimmten Effekt zu erzielen s Gibbard Satterthwaite Theorem Hierbei handelt es sich also um taktisches strategisches Wahlen Unerfullte Qualitatskriterien erlauben ferner legale Verfahren und Methoden zur Beeinflussung und Manipulation des Wahlergebnisses Beispiele waren das Einbringen von weiteren Wahlalternativen falls die Unabhangigkeit von irrelevanten Alternativen nicht gegeben ist oder die Kontrolle uber die Reihenfolge der Wahlen insbesondere bei Paarvergleichen falls die Condorcet Kriterien nicht erfullt sind Diese Kunst der politischen Manipulation mit legalen Mitteln bezeichnete der Politologe William Harrison Riker als heresthetic bzw heresthetics Das klassische Beispiel einer Manipulation einer Abstimmung findet sich bei dem romischen Schriftsteller Plinius dem Jungeren in seinen Briefen 8 Buch 14 Brief 2 Forscher BearbeitenBekannte und bedeutende Vertreter und Forscher der Sozialwahltheorie sind Kenneth Arrow Duncan Black Sven Berg Steven Brams Donald Campbell Robin Farquharson Peter Fishburn Wulf Gaertner William Gehrlein Allan Gibbard Bernard Grofman Melvin Hinich Jerry Kelly Jean Francois Laslier Richard McKelvey Bernard Monjardet Herve Moulin Richard Niemi Hannu Nurmi Peter Ordeshook Prasanta Pattanaik Charles Plott Douglas Rae William Harrison Riker Donald Saari Mark Satterthwaite Norman Schofield Amartya Sen Einzelnachweise Bearbeiten The Augsburg Web Edition of Llull s Electoral Writings Epistulae VIII 14 Commons Plinius Minor Deutsche Ubersetzung bei archive orgLiteratur BearbeitenKenneth J Arrow Social Choice and Individual Values 2 Auflage Wiley New York 1963 ISBN 0 300 01363 9 Kenneth J Arrow Amartya K Sen Kotaro Suzumura Hrsg Handbook of Social Choice and Welfare Vol 1 Elsevier Science North Holland Amsterdam 2002 ISBN 0 444 82914 8 Konstantin Beck Die Wahrscheinlichkeit paradoxer Abstimmungsergebnisse Lang Bern 1993 ISBN 3 906750 28 0 Duncan Black The Theory of Committees and Elections Cambridge University Press London New York 1958 Walter Bossert Frank Stehling Theorie kollektiver Entscheidungen Eine Einfuhrung Springer Berlin 1990 ISBN 3 540 53029 0 John Craven Social Choice A Framework for Collective Decisions and Individual Judgements Cambridge University Press Cambridge 1992 ISBN 0 521 31051 2 Wulf Gaertner Domain Conditions in Social Choice Theory Cambridge University Press Cambridge 2001 ISBN 0 521 79102 2 Wulf Gaertner A Primer in Social Choice Theory Oxford University Press Oxford 2006 ISBN 0 19 929751 7 Wulf Gaertner Sozialwahltheorie In Stefan Gosepath Wilfried Hinsch Beate Rossler Hrsg Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie Band 2 Walter Gruyter Berlin New York 2008 ISBN 978 3 11 017408 3 S 1248 1254 Jonathan K Hodge Richard E Klima The Mathematics of Voting and Elections A Hands On Approach American Mathematical Society Providence RI 2005 ISBN 0 8218 3798 2 Lucian Kern Julian Nida Rumelin Logik kollektiver Entscheidungen Oldenbourg Munchen Wien 1994 ISBN 3 486 21016 5 Iain McLean Arnold B Urken Hrsg Classics of Social Choice University of Michigan Press Ann Arbor 1995 ISBN 0 472 10450 0 Hannu Nurmi Voting Paradoxes and How to Deal with Them Springer Berlin 1999 ISBN 3 540 66236 7 William H Riker Liberalism Against Populism A Confrontation Between the Theory of Democracy and the Theory of Social Choice Freeman San Francisco 1982 ISBN 0 88133 367 0 William H Riker The Art of Political Manipulation Yale University Press New Haven London 1986 ISBN 0 300 03591 8 Donald G Saari Basic Geometry of Voting Springer Berlin 1995 ISBN 3 540 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andere Sieger In Die Zeit Nr 11 6 Marz 2003 Bibliografie von Jerry S Kelly Janet Maslin Just Tell Us Whom You Want to Win In New York Times 20 Marz 2008 Buchbesprechung Gaming the Vote von William Poundstone James McCaffrey Testlauf Gruppenentscheidungen bei Softwaretests In MSDN Magazine November 2008 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Sozialwahltheorie amp oldid 237434263