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Militardemokratie ist ein Konzept der marxistischen Geschichtswissenschaft Es beschreibt eine vorstaatliche Form der Organisation von historischen Gesellschaften die sich im kriegerischen Dauerkonflikt mit ihren Nachbarn befanden Diese Form der Gesellschaftsorganisation ist durch einen gewahlten und damit absetzbaren Heeresfuhrer eine ihn wahlende Volksversammlung der Freien und einen Altestenrat gekennzeichnet Wahlberechtigt ist nur wer seine Waffen mit sich fuhrt Die militarischen Fuhrer rekrutieren sich nicht nach Kriterien der Blutsverwandtschaft oder Stammeszugehorigkeit sondern werden aufgrund ihrer militarischen Verdienste und wegen ihres bedingungslosen Gehorsams gegenuber dem obersten Fuhrer ausgewahlt Der alte Stammesadel der Gentilgesellschaft ist in diesen Gesellschaften hingegen weitgehend entmachtet Vor allem von der sowjetischen Geschichtsschreibung wurde die Militardemokratie zeitweise auch als gesellschaftliche Epoche im Ubergang von der Gentilgesellschaft zum politisch verfassten Staatswesen angesehen Inhaltsverzeichnis 1 Ursprung des Konzepts 2 Fortentwicklung und Kritik des Konzepts 3 Literatur 4 EinzelnachweiseUrsprung des Konzepts BearbeitenLewis Henry Morgan entwickelte das Konzept in seinem Werk Ancient Society im Anschluss an Aristoteles Bestimmung der Rolle des Basileus der ihm militarische und priesterliche Funktionen jedoch keine zivile Fuhrungsrolle zuschrieb Morgan sah die Militardemokratie durch oben genannten Merkmale gekennzeichnet the military state of society and the system of administration consisting of an elective and removable supreme chief a council of elders and a popular assembly 1 Dabei hatte er vor allem das Modell des gewahlten Kriegshauptlings der Irokesen im Blick Ahnlich wie Morgan betont auch Karl Marx die Trennung von ziviler und militarischer Fuhrung in Gens und Stamm Er notierte basileia angewandt von den griechischen Schriftstellern fur das homerische Konigtum weil Kriegfuhrung sein hauptsachliches Merkmal mit boule und agora ist Sorte militarischer Demokratie Fur Marx waren der Grosse Kriegssoldat der Irokesen der Teuctli der Azteken der basileys basileus der Griechen und der Rex der Romer Bezeichnungen desselben Amtes auf verschiedenen Stufen der Barbarei 2 Die Athener hatten das Amt des Basileus im 8 Jahrhundert v Chr abgeschafft weil er sich immer wieder in das Zivilleben eingemischt und seine militarischen Machtmittel fur Kampfe mit den Gentes verwendet habe Damit wandte sich Marx gegen George Grotes Identifikation des Erbmonarchen der alten Gesellschaft mit dem Befehlshaber im Krieg 3 nbsp Pontiac Kriegshauptling der Ottawa Gemalde von John Mix Stanley nach alterer Vorlage ca 1835 1850 Friedrich Engels verallgemeinerte das Konzept ausgehend vom Modell der antiken griechischen Polis deren freie Burger zugleich Krieger waren bzw in standiger Kriegsbereitschaft lebten 4 Fur Engels waren der militarische Fuhrer stets unterschieden vom Zivilvorsteher der bei den Irokesen Sachem hiess der Rat der Altesten und die Volksversammlung standige Einrichtungen in Gesellschaften die dauerhaft in Kriege verstrickt waren und die Kriegsfuhrung als Hauptzweck der Gesellschaft betrachteten Solche Gesellschaften entstanden unter Bedingungen unter denen es einfacher war sich durch Plunderung der Nachbarn als durch produktive Arbeit zu reproduzieren so durch die raumliche Nachbarschaft von immobilen Ackerbauern und beweglichen Nomaden durch Siedlungsdruck oder durch starke Bevolkerungsvermehrung Rivalitat und Auflosung der Gentilorganisation mit zunehmender lokaler und sprachlicher Separation 5 Aus Rachefeldzugen habe sich vielfach eine dauerhaft kriegerische Lebensweise entwickelt die auf Raub beruhe und bei der das Ansehen der Gesellschaftsmitglieder von ihrem militarischen Erfolg abhange Fortentwicklung und Kritik des Konzepts BearbeitenEinige sowjetische Historiker bezeichneten die griechischen Konigreiche der homerischen Zeit als Militardemokratien wahrend andere auf das Problem verweisen dass die Rollen von Volk und Adel in den homerischen Epen insbesondere in der Diapeira des II Gesangs der Ilias klar unterschiedlich bestimmt sind 6 auch wenn dem Heerfuhrer Agamemnon in Situationen die ihm zu entgleiten drohen das Heft von tuchtigen und listenreichen Kriegern Odysseus aus der Hand genommen wird Vor allem scheint die Existenz von Monumentalbauten wie in Mykene als Insignien uneingeschrankter Macht nicht vereinbar mit dem Konzept einer weitgehend egalitaren Militardemokratie welche auch nicht zulasst dass das gesamte militarische Gefolge dauerhaft am Sitz des Heerfuhrers konzentriert ist Doch konnen auch Gefolgschaftsverhaltnisse hierarchisch und zeitlich abgestuft sein was schon Tacitus berichtet 7 Auch bei den Irokesen gab es eine Hierarchie der Hauptlinge Sowjetische Ethnologen ubertrugen das Konzept auf die Hunnen und andere asiatische Reitervolker die von der Plunderung ihrer Nachbarn lebten da die Khane weitgehend dem von Morgan und Engels gezeichneten Bild der Militarfuhrer entsprachen Auch auf die Germanen 8 die kaukasischen Volker die fruhen Kelten 9 die Zulus und die Kosaken des 16 18 Jahrhunderts die ein straffe Organisation auf militardemokratischer Grundlage mit gewahlten Atamanen entwickelten 10 wurde das Konzept angewandt Der danische Archaologe Kristian Kristiansen 11 sieht in den bronzeitlichen Siedlungen des Karpatenbogens den Ausdruck einer bereits geschichteten aber noch deutlich dezentralisierten Gesellschaft decentralized stratified society 12 die er als Ubergangsform zu einer starkeren Konzentration der Macht deutet und die eventuell mit dem Begriff der Militardemokratie belegt werden kann Ahnlich argumentiert er hinsichtlich der irisch keltischen Fruhzeit Auch die marxistische Geschichtsschreibung 13 sah die militarische Demokratie haufig als Ubergangsform von der gentilen zur politisch verfassten Gesellschaft an Dagegen argumentierte Otto Manchen Helfen dass die Welt des Agamemnon die der Zulus und die des Attila viel zu unterschiedlich sei um mit dem Begriff der Militardemokratie belegt zu werden Insbesondere ihre grundverschiedene okonomische Basis Ackerbauern sesshafte Viehzuchter Nomaden lasse nach marxistischen Kriterien die Annahme nicht zu dass sie einen ahnlichen politischen Uberbau entwickeln konnten 14 Allerdings hatte Marx selbst nie der Epochenbegriff fur die Militardemokratie benutzt sondern von einer politischen Form auf unterschiedlichem Entwicklungsniveau gesprochen nbsp Laufende Hopliten Attische Amphore ca 550 v Chr Der sowjetische Historiker A N Bernshtam ging ungeachtet dieser Einwande davon aus dass die Militardemokratie eine hohere gesellschaftliche Entwicklungsform als die der sklavenhaltende Gentilgesellschaft reprasentiere da er in ihr die wegbereitende Kraft fur die Zerstorung dieser Gesellschaften wie z B des Romischen Reichs sah Pierre Vidal Naquet 15 unternimmt eine klassentheoretische Bestimmung der Militardemokratie Er sieht in den dorischen Polisgrundungen des 7 bis 5 Jahrhunderts v Chr die Trager der Militardemokratie in den Hopliten als einer eigenen Gesellschaftsklasse Sie verkorpern einen Typ des Wehrburgers oder Kriegerburgers der sich sowohl bereitwillig sowohl in die Phalanx eingliedere als auch seine individuellen Rechte als freier Burger vertrete Alle Lebensbereiche seien militarisch uberformt und der aristokratische Einzelkampfer des Typs des Odysseus werde durch das disziplinierte Heer der Burger abgelost die eine zivile und militarische Doppelidentitat entwickelten Helmut Castritius kritisiert generell die Ubernahme eines zur Zeit der fruhen Industriegesellschaft entstandenen Konzepts zur Charakterisierung vorindustrieller Gesellschaften 16 Literatur BearbeitenHelmut Castritius Terminologische Probleme des Historikers am Beispiel des Begriffs Militardemokratie In Archiv fur Begriffsgeschichte Band 20 1976 S 100 119 Einzelnachweise Bearbeiten Yury Bromley Soviet Ethnology and Anthropology Today Walter de Gruyter 1974 ISBN 978 3 11 085653 8 S 134 google com Karl Marx die ethnologischen Exzerpthefte Hrsg von Lawrence Krader ubers von Angelika Schweikhart Frankfurt 1976 S 297 f George Grote A History of Greece from the Earliest Period to the Close of the Generation Contemporary with Alexander the Great London John Murray 1846 1856 12 Bande Friedrich Engels Der Ursprung der Familie des Privateigenthums und des Staats Im Anschluss an L H Morgan s Forschungen Hottingen Zurich 1884 In MEW 21 S 141 ff Marx S 216 f Juri V Andreev Volk und Adel bei Homer Klio Band 57 1975 Ubersetzung Bernd Funck Online Tacitus Germania 13 Peter Hilsch Das Mittelalter die Epoche UTB 2017 S 55 Friedrich Schlette Zur Widerspiegelung der militardemokratischen Verhaltnisse auf die Ideologie der Kelten In Ethnologisch Archaologische Zeitschrift 25 Jahrgang 1984 S 470 478 Dittmar Schorkowitz Postkommunismus und verordneter Nationalismus Gedachtnis Gewalt und Geschichtspolitik im nordlichen Schwarzmeergebiet Frankfurt 2008 S 190 Kristian Kristiansen Chiefdoms states and systems of social evolution In T Earle Hrsg Chiefdoms power economy and ideology Cambridge 1991 S 16 43 S 19 So z B Joachim Hermann Militarische Demokratie und die Ubergangsperiode zur Klassengesellschaft Ethnologisch Archaologische Zeitschrift 23 Jahrgang 1982 S 11 31 Otto Maenchen Helfen The World of the Huns Studies in Their History and Culture University of California Press 1973 S 191 f Dt erweiterte Ausgabe Die Welt der Hunnen Eine Analyse ihrer historischen Dimension Wien Koln Graz 1978 Pierre Vidal Naquet Der schwarze Jager Denkformen und Gesellschaftsformen in der griechischen Antike Frankfurt 1989 S 90 Castritius 1976 S 100 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Militardemokratie amp oldid 223868507