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Der ubergesetzliche Notstand ist in der deutschen Rechtswissenschaft ein Argumentationsansatz fur einen Rechtfertigungs Entschuldigungs oder Strafausschliessungs und Strafaufhebungsgrund bei einer Straftat der nicht gesetzlich geregelt ist Ubergesetzlich meint Grunde die im Gesetz nicht normiert sind sich jedoch aus Rechtsprinzipien von gleichem oder hoherem Gewicht herleiten lassen vgl auch Naturrecht Rechtspositivismus Dieser Notstand soll auf ganz aussergewohnliche und unauflosbare Gewissenskollisionen beschrankt sein Voraussetzungen Wesen und Rechtsfolgen des ubergesetzlichen Notstands sind diffus geblieben Diese Rechtsfigur ist jedoch weitgehend in Rechtsprechung und Literatur anerkannt 1 2 das Bundesverfassungsgericht musste jedoch bisher nie daruber entscheiden Dogmatisch ist sie hochst umstritten und wird im Widerspruch gesehen zu dem Verbot der Abwagung Leben gegen Leben dem Legalitatsprinzip dem Akkusationsgrundsatz und dem Vorrang der Verfassung Insbesondere wird kritisch gesehen einen ubergesetzlichen Notstand in Fallen eines absoluten Verbots zu begrunden weil damit die absolute und ausnahmslose Wirkung des Verbots bewusst umgangen wird Beispiel Folterverbot Inhaltsverzeichnis 1 Entwicklung 2 Schuldausschliessende Pflichtenkollision 3 Daschner Prozess 4 Gezielter Abschuss von entfuhrten Passagierflugzeugen 5 Literatur 6 EinzelnachweiseEntwicklung BearbeitenDas deutsche Strafgesetzbuch kannte in seiner ursprunglichen Fassung nur eine Notstandsregelung die etwa dem heutigen entschuldigenden Notstand 35 StGB entspricht Dies fuhrte beispielsweise dazu dass sich ein Arzt nach damaligem Recht strafbar machte der bei medizinischer Indikation einen Schwangerschaftsabbruch durchfuhrte um das Leben seiner Patientin zu retten In einem solchen Fall erkannte das Reichsgericht 1927 an dass es auch einen rechtfertigenden Notstand gibt der nicht gesetzlich geregelt sei 3 Nach der Guterabwagungstheorie handele derjenige nicht rechtswidrig der ein geringerwertiges Rechtsgut verletzt um ein hoherwertiges Rechtsgut zu schutzen Dieses fallbezogene Konstrukt wurde mit Einfuhrung des rechtfertigenden und entschuldigenden Notstands 34 und 35 StGB durch die Grosse Strafrechtsreform im Jahr 1975 verworfen Schuldausschliessende Pflichtenkollision BearbeitenEine unlosbare Pflichtenkollision besteht wenn der Tater nur die Wahl zwischen zwei Ubeln hat und sich in beiden Fallen pflichtverletzend verhalten wurde Beispiel Arzte die in der Zeit des Nationalsozialismus einige Geisteskranke fur die Aktion T4 selektiert haben um andere Geisteskranke zu retten Hatten sich die Arzte geweigert waren durch einen anderen Arzt wahrscheinlich wesentlich mehr Patienten ermordet worden 4 Aufgrund dessen wurden in einem Urteil des OGH nach dem Zweiten Weltkrieg einige der Arzte vom Strafvorwurf freigesprochen Seitdem geht man davon aus dass ein Verhalten in ahnlich gelagerten Fall Konstellationen nicht strafbewehrt ist 5 Siehe auch Trolley ProblemDaschner Prozess BearbeitenOffentlich diskutiert wurde uber den ubergesetzlichen Notstand im Jahr 2002 beim Entfuhrungsfall Jakob von Metzler Dort drohte der damalige stellvertretende Polizeiprasident Wolfgang Daschner dem Tater mit Folter wenn er nicht den Aufenthaltsort seines Opfers bekanntgeben wurde Wahrend des nachfolgenden Prozesses berief sich Wolfgang Daschner u a auf eine schuldausschliessende Pflichtenkollision da er handelte um das Opfer zu retten Das Landgericht Frankfurt folgte dieser Auffassung jedoch nicht Notstand scheide schon deswegen aus da es andere mildere Mittel gegeben hatte um das Opfer zu retten Gezielter Abschuss von entfuhrten Passagierflugzeugen BearbeitenDer ubergesetzliche Notstand wurde im Jahr 2007 im Rahmen der Terrorismusbekampfung von Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung als mogliche Rechtsgrundlage fur den Abschuss von entfuhrten und zur Waffe pervertierten Passagierflugzeugen ins Spiel gebracht 6 Bereits in der Legislaturperiode zuvor rot grun am 14 Januar 2004 legte die damalige Bundesregierung Kabinett Schroder II dem Bundestag einen Gesetzentwurf Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben vor 7 Dagegen klagten ein Pilot und funf Anwalte beim Bundesverfassungsgericht das daruber am 9 November 2005 verhandelte 8 und am 15 Februar 2006 entschied 9 dass Abschussermachtigungen im Luftsicherheitsgesetz nichtig sind 10 11 12 Dreh und Angelpunkt war die Frage ob die im Flugzeug anwesenden unschuldigen Passagiere sowie das Flugpersonal durch den Abschuss des Flugzeuges ebenfalls getotet werden durfen In der Tat greifen die gesetzlich geregelten Rechtfertigungsgrunde in einem solchen Fall nicht ein Die Notwehr nach 32 StGB rechtfertigt nur Eingriffe in Rechtsguter des Angreifers also der Flugzeugentfuhrer Der rechtfertigende Notstand nach 34 StGB scheidet aus da eine Abwagung Leben gegen Leben aufgrund des absoluten Schutzes der Menschenwurde jedes Einzelnen Art 1 Abs 1 GG nicht in Betracht kommt Auch im Ubrigen kann es keine rechtfertigende gesetzliche Grundlage geben Da der gezielte Abschuss von entfuhrten Passagiermaschinen die an Bord befindlichen Passagiere und Besatzungsmitglieder zu blossen Objekten staatlichen Handelns degradiert verstosst er gegen Art 1 Abs 1 GG 9 Auch eine Verfassungsanderung konnte hieran nichts andern da insoweit die Ewigkeitsgarantie des Art 79 Abs 3 GG gilt 13 Es verbleiben also nur Entschuldigungsgrunde wobei der gesetzlich geregelte entschuldigende Notstand nach 35 StGB schon wegen der dort erforderlichen Nahebeziehung ausscheidet Letztlich konnte ein Abschussbefehl also nur auf den ubergesetzlichen Notstand gestutzt werden Dieser macht das Handeln aber nicht rechtmassig sondern entschuldigt unter engen Voraussetzungen vgl das Trolley Problem rechtswidriges Handeln Der ubergesetzliche Notstand ist also im juristischen Sinne keine Rechtsgrundlage fur den Abschuss von entfuhrten Passagierflugzeugen Dementsprechend lautet die Empfehlung des Bundeswehrverbandes und des VBSK einen entsprechenden rechtswidrigen Abschussbefehl nicht auszufuhren 14 Nach 11 Abs 2 SG darf ein Soldat einen Befehl nicht ausfuhren wenn dadurch eine Straftat begangen wurde Literatur BearbeitenAusfuhrliche Untersuchung der Problemstellung des 14 Abs 3 Luftsicherheitsgesetz Ladiges Manuel Die notstandsbedingte Totung von Unbeteiligten im Fall des 14 Abs 3 LuftSiG ein Pladoyer fur die Rechtfertigungslosung in Zeitschrift fur internationale Strafrechtsdogmatik Heft 3 2008 S 129 140 Einzelnachweise Bearbeiten BGHSt 3 5 BGHSt 35 347 350 Entscheidungen zur Abtreibungsproblematik Thomas Fischer Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen 68 Auflage C H Beck Munchen 2021 Vorbemerkungen zu 32 Rn 15 Detlev Sternberg Lieben in Adolf Schonke Horst Schroder Strafgesetzbuch Kommentar 30 Auflage C H Beck Munchen 2019 Vorbemerkungen zu den 32 ff Rn 115 ff Alexander Bechtel Der ubergesetzliche entschuldigende Notstand Vernachlassigte Grosse im System des strafrechtlichen Schuldausschlusses Juristische Schulung JuS 2021 S 401 407 RGSt 61 242 BGH NJW 1953 513 OGHSt 1 321 Terrorabwehr SPD und Grune emport uber Jungs Abschuss Plane Der Spiegel vom 17 September 2007 BT DS 15 2361 PDF Datei 488 kB Karlsruhe verhandelt uber Luftsicherheitsgesetz Memento vom 28 Mai 2014 im Internet Archive RP online vom 9 November 2005 a b BVerfG Urteil vom 15 Februar 2006 Az 1 BvR 357 05 Volltext BVerfGE 115 118 Luftsicherheitsgesetz Kristoffel R Grechenig Konrad Lachmayer Zur Abwagung von Menschenleben Gedanken zur Leistungsfahigkeit der Verfassung Journal fur Rechtspolitik JRP 2011 Heft 19 35 45 BVerfG Pressemitteilung Nr 6 2011 vom 15 Februar 2006 Jung pocht auf Verfassungsanderung Memento vom 28 Mai 2014 im Internet Archive RP online de Schuss auf das Grundgesetz Die Zeit vom 17 September 2007 Flugzeugabschuss Jetpiloten meutern gegen Jung Der Spiegel Online vom 17 September 2007 Bitte den Hinweis zu Rechtsthemen beachten Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Ubergesetzlicher Notstand amp oldid 236436058