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Der als Weimarer Schulkompromiss bekannte verfassungsrechtliche Tatbestand war ein Ergebnis der Koalitionsverhandlungen zur Bildung der Reichsregierung im Juni 1919 und ist hauptsachlich im Artikel 146 Absatz 2 der am 14 August 1919 verkundeten Weimarer Reichsverfassung verankert Der Artikel 146 bestimmte folgendes Das offentliche Schulwesen ist organisch auszugestalten Auf einer fur alle gemeinsamen Grundschule baut sich das mittlere und hohere Schulwesen auf Fur diesen Aufbau ist die Mannigfaltigkeit der Lebensberufe fur die Aufnahme eines Kindes in eine bestimmte Schule sind seine Anlage und Neigung nicht die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung oder das Religionsbekenntnis seiner Eltern massgebend Innerhalb der Gemeinden sind indes auf Antrag von Erziehungsberechtigten Volksschulen ihres Bekenntnisses oder ihrer Weltanschauung einzurichten soweit hierdurch ein geordneter Schulbetrieb auch im Sinne des Absatz 1 nicht beeintrachtigt wird Der Wille der Erziehungsberechtigten ist moglichst zu berucksichtigen Das Nahere bestimmt die Landesgesetzgebung nach den Grundsatzen eines Reichsgesetzes Fur den Zugang Minderbemittelter zu den mittleren und hoheren Schulen sind durch Reich Lander und Gemeinden offentliche Mittel bereitzustellen insbesondere Erziehungsbeihilfen fur die Eltern von Kindern die zur Ausbildung auf mittleren und hoheren Schulen fur geeignet erachtet werden bis zur Beendigung ihrer Ausbildung Dieser demokratisch anmutende Text in Absatz 2 war folgenreich legte er doch vorlaufig die Aufrechterhaltung des aus dem Kaiserreich stammenden geordneten Schulbetriebs fest wie den Fortbestand der Konfessionsschulen oder die Geschlechtertrennung im existierenden dreigliedrigen Schulsystem solange kein erganzendes Reichsgesetz andere Grundsatze zur Gestaltung des Schulwesens verordnete Inhaltsverzeichnis 1 Vorgeschichte von November 1918 bis Juni 1919 2 Koalitionsverhandlungen und Schulkompromiss im Juli 1919 3 Die Kompromissformel Reichsschulgesetz 4 Nachbetrachtung 5 Literatur 6 Weblinks 7 EinzelnachweiseVorgeschichte von November 1918 bis Juni 1919 BearbeitenMit der Novemberrevolution wurden auch die kultur und bildungspolitischen Strukturen des wilhelminischen Kaiserreichs in Frage gestellt Sozialdemokratische und linksliberale Krafte in den ortlichen Arbeiter und Soldatenraten und in den sich neu konstituierenden Landerregierungen drangten auf die rasche Prufung und Umsetzung reformpadagogischer und weltlicher Erziehungs und Volksbildungskonzepte die Chancengleichheit im Schul und Hochschulbereich herstellen und Klassenschranken beseitigen sollten Als besonders kritisch wurde der reaktionare Einfluss der mit den gesturzten Herrscherhausern eng verbundenen Kirchen auf die Erziehung und Schulbildung der Heranwachsenden gesehen Unter SPD und USPD Fuhrung veranlasste das preussische Ministerium fur Wissenschaft Kunst und Volksbildung im November 1918 u a dass die kirchliche Ortsschulaufsicht in Preussen mit sofortiger Wirkung aufgehoben wurde und die Schuler nur noch freiwillig am Religionsunterricht teilnehmen sollten Die Regierungen der Stadtstaaten Hamburg und Bremen verbannten den Religionsunterricht per Erlass aus den offentlichen Schulen und planten die Einfuhrung der Einheitsschule Die Ansatze zur Reform des Schulwesens traten aber schon zum Jahreswechsel und im Januar 1919 hinter die Machtkampfe und bewaffneten Auseinandersetzungen der massgebenden Revolutionsparteien SPD USPD und KPD zuruck Die fur den 19 Januar unter SPD Fuhrung anberaumte Wahl zur Nationalversammlung wurde von der USPD teilweise und von der KPD vollstandig boykottiert Das Wahlergebnis sah entsprechend aus Es liess nur Mehrheitskoalitionen aus SPD DDP und oder Zentrum zu was den Spielraum fur Veranderungen im Sinne sozialistischer Programmatik stark einschrankte Am 11 Februar wurde Friedrich Ebert zum Reichsprasidenten gewahlt und Philipp Scheidemann mit der Regierungsbildung beauftragt 1 Die Ernennung der Regierung Scheidemann bildete den Abschluss der eigentlichen Revolutionszeit wobei die vorrevolutionaren Verwaltungsstrukturen im offentlichen Schulwesen im Wesentlichen beibehalten worden waren Die Hoffnungen der Schulreformer konzentrierten sich ab jetzt auf den Verfassungsentwurf in dem der Themenbereich Bildung und Schule relativ ausfuhrlich behandelt wurde In den Verfassungsberatungen verfolgte die SPD die Einfuhrung einer achtjahrigen koedukativen weltlichen Einheitsschule die DDP wollte die konfessionelle Trennung aufheben und christliche Gemeinschaftsschulen bzw Simultanschulen zur allgemein verbindlichen Einheitsschule erklaren und die Zentrumspartei forderte den Einfluss der Kirchen im unverandert bestehenden Schulwesen zu bewahren Diese unterschiedlichen schulpolitischen Auffassungen im Verfassungsausschuss uberdauerten die Regierung Scheidemann die im Juni 1919 zurucktrat weil sich in der Regierungskoalition keine Zustimmungsmehrheit fur den Versailler Friedensvertrag ergab Koalitionsverhandlungen und Schulkompromiss im Juli 1919 BearbeitenNach dem Austritt der DDP aus der Regierung sahen die Vertreter des Zentrums die Chance die fur sie strittigen Schulartikel im Verfassungsentwurf insbesondere im Hinblick auf die konfessionelle Bindung der Schulen in ihrem Sinne zu andern Eine Abordnung des Zentrums wurde beim Reichsprasidenten vorstellig und deutete die Bereitschaft an in ein sozialdemokratisch gefuhrtes Kabinett einzutreten und in der Nationalversammlung dem Versailler Friedensvertrag zuzustimmen wenn in der Verfassung die Beibehaltung der Konfessionsschulen im bisher geordneten Schulbetrieb festgelegt wurde Der Reichsprasident beauftragte Heinrich Schulz entsprechende Verhandlungen mit Vertretern des Zentrums und im Verfassungsausschuss zu fuhren In zweiter Lesung stimmte die Nationalversammlung mit knapper Mehrheit der Abgeordneten aus SPD und Zentrum den Anderungen der Schulartikel zu und im Gegenzug trat das Zentrum dem Kabinett Bauer bei Der Kompromiss stiess erwartungsgemass in breiten Teilen der Offentlichkeit auf heftigsten Widerspruch Der geschaftsfuhrende Ausschuss des Deutschen Lehrervereins drahtete nach Weimar dass er eine verhangnisvolle Preisgabe staatlicher Hoheitsrechte zur Folge habe und dass es ein Unrecht an der Jugend des Volkes sei wenn die Volksschule bekenntnismassig gestaltet wird 2 Der Verband sozialistischer Lehrer und Lehrerinnen protestierte ebenso gegen die Aufgabe der weltlichen Schule 3 Der preussische Lehrerverein drohte mit Ablehnung des Religionsunterrichts wenn der Kirche kunftighin noch irgendwelche Aufsichts und Leitungsbefugnisse uber die Schule im allgemeinen und den Religionsunterricht im Besonderen zugestanden werden sollten 4 Die Delegierten auf dem gleichzeitig stattfindenden DDP Parteitag nahmen fast einstimmig folgenden Antrag an Der neue Schulkompromiss bedeutet die vollige Preisgabe der nationalen Einheitsschule Er verschachert unsere Jugend an die politischen Parteien vergiftet damit das Verhaltnis zwischen Elternhaus und Schule und vernichtet jede Moglichkeit zum organischen Ausbau der Schule auf freiheitlich nationaler Grundlage Der Parteitag fordert von der Fraktion dass sie aus erzieherischen und allgemein politischen Grunden die Durchfuhrung dieser Vereinbarung mit allen verfassungsmassig zulassigen Mitteln und in der scharfsten Form verhindert 4 Der unerwartet heftige Widerstand der DDP Fraktion und die unsicheren Mehrheitsverhaltnisse in der Nationalversammlung veranlassten die beiden Kompromissparteien vor der dritten Lesung des Verfassungsentwurfs Anderungswunsche der DDP in die Schulartikel aufzunehmen Heinrich Schulz gelang es auch in dieser erneuten Verhandlungsrunde nicht sozialdemokratische Positionen im Verfassungstext entschieden zu behaupten Die DDP sah in dem Passus des Artikels 146 der Erziehungsberechtigten die Wahlfreiheit uber die Einrichtung konfessioneller oder weltlicher Schulen zusicherte und in der einleitenden Forderung Das offentliche Schulwesen ist organisch auszugestalten ihre Forderungen erfullt Ausserdem unterlagen die Verhandlungsfuhrer der SPD und der DDP dem grossen Irrtum dass mit dem im Artikel 146 Absatz 2 geforderten Reichsgesetz eine Offnungsklausel ganz in ihrem Sinne wirken wurde Am 31 Juli 1919 wurde der Verfassungstext in dritter Lesung angenommen Die Kompromissformel Reichsschulgesetz BearbeitenNachdem die Weimarer Reichsverfassung am 14 August verkundet war blieb das landerspezifische konfessionelle dreigliedrige Schulwesen laut Verfassung bestehen Mit Verweis auf den parteipolitischen Kuhhandel der SPD mit der Zentrumspartei wegen des Versailler Friedensvertrags bezeichnete Paul Oestreich ein Grundungsmitglied des Bundes Entschiedener Schulreformer den Artikel 146 als ein inneres Versailles 4 Noch hatten die Schulreformer die die Entwicklung einer weltlichen Einheitsschule auch im Sinne einer Lebens und Arbeitsschule anstrebten die Hoffnung mittels des im Artikel 146 Absatz 2 geforderten Reichsgesetzes das Schulwesen sozialer und demokratischer gestalten zu konnen In der Auseinandersetzung der Kirchen mit der preussischen Regierung uber die Rucknahme der sie betreffenden Schulerlasse seit November 1918 wurde aber schon im September 1919 deutlich welche fatale Wirkung der Artikel 174 der verabschiedeten Reichsverfassung in folgendem Wortlaut entfaltete Bis zum Erlass des in Artikel 146 Absatz 2 vorgesehenen Reichsgesetzes bleibt es bei der bestehenden Rechtslage Das Gesetz hat Gebiete des Reichs in denen eine nach Bekenntnissen nicht getrennte Schule gesetzlich besteht besonders zu berucksichtigen Ein von den Kirchen gefordertes Rechtsgutachten der Reichsregierung erklarte das preussische Volksschulerhaltungsgesetz von 1906 zur bestehenden Rechtslage und zwang die preussische Regierung zur Rucknahme der ab November 1918 eingefuhrten Schulerlasse die den Religionsunterricht und die kirchliche Schulaufsicht betrafen Obwohl eine Schul und Hochschulreform langst uberfallig war wurde sie durch andere politische Ereignisse stets aufgehalten verschoben oder vollig verdrangt Auf der im Juni 1920 einberufenen Reichsschulkonferenz zwei Monate nach dem Kapp Putsch und der Niederschlagung des Ruhraufstandes erlitten die Schulreformer eine weitere Niederlage Allerdings blieben die Ergebnisse der Konferenz ohne direkte Umsetzung da in der Reichstagswahl 1920 die Mehrheit der Weimarer Koalition verloren ging Die Kompromissformel Reichsschulgesetz war und blieb bis zum Ende der Weimarer Republik ein leeres Versprechen 1921 1925 und 1927 wurden mehr oder weniger reformfeindliche Gesetzentwurfe in den Reichstag eingebracht fanden dort jedoch keine Mehrheit Die gemeinsame kulturpolitische Energie von Sozialdemokraten Demokraten und Deutschem Lehrerverein war um 1920 schon gebrochen Was davon ubrig blieb und sich um den kulturpolitischen Torso der Republik rankte waren unter anderem reformpadagogische Theorien deren unpolitisches Selbstverstandnis viel von politischer Resignation in sich hatte 5 Nachbetrachtung BearbeitenNach dem Zweiten Weltkrieg lebte in der Adenauer Ara das dreigliedrige konfessionell gepragte Schulwesen der Weimarer Republik wieder auf Viele schul und bildungspolitische Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik Deutschland konnen deshalb historisch mit dem Weimarer Schulkompromiss in Verbindung gebracht werden Die Befurworter des dreigliedrigen Schulsystems und der Deutsche Philologenverband behaupten der Weimarer Schulkompromiss sei insgesamt ein guter Kompromiss gewesen 6 Die Befurworter der Gesamtschule und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft arbeiten wie die Schulreformer der 1920er Jahre beharrlich weiter daran die Dreigliedrigkeit des Schulsystems und die bildungspolitische Kleinstaaterei zu uberwinden 7 Literatur BearbeitenPaul Oestreich Es reut mich nicht Schulpolitische Kampfe zwischen Revolution und Kapp Putsch Entschiedene Schulreform Heft 14 Verlag Ernst Oldenburg Leipzig 1923 Rainer Bolling Volksschullehrer und Politik Der Deutsche Lehrerverein 1918 1933 Verlag Vandenhoeck amp Ruprecht Gottingen 1978 ISBN 3 525 35986 1 Peter Braune Die gescheiterte Einheitsschule Heinrich Schulz Parteisoldat zwischen Rosa Luxemburg und Friedrich Ebert Karl Dietz Verlag Berlin 2004 ISBN 3 320 02056 0 Kristian Klaus Kronagel Religionsunterricht und Reformpadagogik Otto Eberhards Beitrag zur Religionspadagogik in der Weimarer Republik Waxmann Verlag Munster 2004 ISBN 3 8309 1371 0 Hans Georg Herlitz Wulf Hopf Hartmut Titze Ernst Cloer Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart Eine Einfuhrung Juventa Verlag Weinheim u Munchen 2005 ISBN 978 3 7799 1724 3 Weblinks BearbeitenHermann Giesecke Zur Schulpolitik der Sozialdemokraten in Preussen und im Reich 1918 19 PDF 849 kB Das deutsche Schulsystem Entstehung Struktur Steuerung Universitat Duisburg Essen AG Bildungsforschung Bildungsplanung Oktober 2004 PDF 369 kB Einzelnachweise Bearbeiten Heinrich August Winkler Weimar 1918 1933 Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie Beck Munchen 1993 S 72 Hermann Giesecke Zur Schulpolitik der Sozialdemokraten in Preussen und im Reich 1918 19 In Vierteljahrshefte fur Zeitgeschichte Heft 2 1965 S 172f PDF Die Neue Erziehung Heft 15 16 Jahrgang 1 Juli August 1919 S 521 a b c Hermann Giesecke Zur Schulpolitik der Sozialdemokraten in Preussen und im Reich 1918 19 In Vierteljahrshefte fur Zeitgeschichte Heft 2 1965 S 173 Hermann Giesecke Zur Schulpolitik der Sozialdemokraten in Preussen und im Reich 1918 19 In Vierteljahrshefte fur Zeitgeschichte Heft 2 1965 S 176 Ulrich Sprenger Arbeitskreis Schuldebatte e V Der Weimarer Schulkompromiss von 1920 war ein guter Kompromiss PDF 20 kB Es lebe der Foderalismus Sechzehn Lander sechzehn Wege GEW Newsletter vom 4 Januar 2010 Memento vom 3 Mai 2016 im Internet Archive Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Weimarer Schulkompromiss amp oldid 217037713