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Symptomwandel oder Symptomwechsel bedeutet den manchmal paradox anmutenden Wandel psychopathologischer Symptome oder Syndrome Syndromverschiebung innerhalb des nosologischen Systems und unabhangig von diesem in einem symptomatisch objektiv beschreibenden Sinne Dieser oft unerwartete und ohne naheliegende Erklarung auftretende Wandel im zeitlichen Ablauf eines Beschwerdebildes durch das Auftreten eines zweiten nosologisch andersartigen pathologischen Geschehens ist ein grundlegendes Charakteristikum psychischer Beschwerden und gibt daher Anlass zu grundlegender Theoriebildung im Sinne moglicher Ursachen Es handelt sich somit um noch weitgehend offene Theorien der Psychiatrie und der Psychosomatischen Medizin und seit ca 1950 auch um ein Forschungskonzept Es hat bisher zu zahlreichen weiteren Begriffsbildungen in der Medizin gefuhrt wie etwa dem des Zielsymptoms Symptomwandel beschreibt eine haufige und sehr konkrete Beobachtung bei Krankheitsverlaufen Mit der aktuellen Entwicklung oder Entstehung eines neuen korperlichen Symptoms bessert sich ein schon vorher bestehendes anderes seelisches Symptom und umgekehrt nach Besserung eines korperlichen Symptoms tritt ein seelisches wieder auf 1 Die nahezu gesetzmassigen Wandlungen geben sogar zu symptomatischer Therapie Veranlassung siehe Kap Beispiele Inhaltsverzeichnis 1 Erklarungskonzepte 1 1 Konversionsmodell 1 2 Topologische Interpretation 1 3 Schichtenlehre 2 Praktische Beispiele des Symptomwandels 2 1 Bekanntes Beispiel von Symptomwandel 3 Schlussfolgerungen hinsichtlich der medizinischen Systematik 4 EinzelnachweiseErklarungskonzepte BearbeitenDie beschreibende rein empirisch wissenschaftliche Dimension von Symptomwandel ermoglicht unterschiedliche Interpretationsmoglichkeiten Konversionsmodell Bearbeiten Dieses Konzept geht auf den von Sigmund Freud 1856 1939 zur Erklarung der Auslosung psychischer und korperlicher Krankheiten gebildeten Begriff der Konversion zuruck und besagt dass sich zunachst einfache und harmlos erscheinende Affekte bei Wiederholung im zeitlichen Verlauf ahnlich wie Energiebetrage summieren konnen und schliesslich die Schwelle der individuellen Anpassung uberschreiten Damit sei die Voraussetzung fur das Entstehen von psychischen Symptomen gegeben Die Auslosung eines korperlichen Symptoms setze voraus dass die Erregungssumme dieser Affekte ins Korperliche umgesetzt werde lat conversio Umwandlung Freud unterschied eine totale und eine partielle Konversion je nachdem die traumatisierenden Affekte ganz oder teilweise ins Korperliche umgesetzt werden 2 nbsp 1 Aussere Psychophysik 2 Innere Psychophysik 3 Neurophysiologie WahrnehmungsphysiologieAnsatzmoglichkeiten psychischer Krafte nach Gustav Theodor Fechner 1801 1887 Freuds Konzept der Erregungssummen beruht auf seinen psychodynamischen Vorstellungen und der vektoriellen Summierbarkeit von Affekten als psychische Krafte ahnlich der von Kraftbetragen als physikalische Grossen Damit waren analoge raumliche Vorstellungen namlich vom innerseelischen Raum logisch zwingend verbunden Freuds Konzept der Topik wurde durch Kurt Lewin und die Fortentwicklung der Vektorpsychologie aufgegriffen Thure von Uexkull entwickelte das Konzept des Integrationsraums siehe den folgenden Abs Topologische Interpretation Freuds Unterscheidung zwischen vollstandiger totaler und unvollstandiger partieller Konversion lasst darauf schliessen dass er auch in dynamischer Hinsicht korperliche und seelische Symptomatik voneinander unterschied Hieran anknupfend hat Alexander Mitscherlich das Konzept der zweiphasigen Verdrangung aufgestellt Es besagt dass mit zunehmender Verdrangung konflikttrachtiger Motive zwar die subjektiv empfundene Angst abnimmt dafur aber die objektiv wahrnehmbaren korperlichen Symptome zunehmen 1 Die Verlagerung der konflikthaften Auseinandersetzung innerhalb der psychophysischen Topik im Verlauf der Zeit ist auch aufgrund der Modellvorstellung der psychophysischen Korrelation verstandlich Mit der Unterscheidung totaler und partieller Konversion folgte Freud der Unterscheidung Gustav Theodor Fechners zwischen ausserer und innerer Psychophysik siehe Abb 1 3 Freuds Konversionsmodell bietet noch heute einen Grund fur systemtheoretische und nosologische Auseinandersetzungen wie z B die Unterscheidung zwischen Neurosen und Psychosen Es ist namlich eine Tatsache dass bei Neurosen Phanomene des Symptomwandels haufiger als bei Psychosen beobachtet werden 1 Im Zusammenhang mit dem Begriff Symptomwandel lasst sich festhalten dass Freud glaubte bestimmte Krankheitssymptome seien auf wandlungsfahige Affekte zuruckfuhrbar die ihrerseits als Reaktionen auf bestimmte traumatische Erlebnisse aufzufassen sind Ob es aufgrund des freudschen Konversionsmodells gelingt den Zusammenhang zwischen psychischem Erleben einerseits und korperlichen Vorgangen wie Reizen und neuronalen Vorgangen andererseits erschopfend zu erklaren erscheint weiter fraglich siehe dazu auch das von der Philosophie des Geistes behandelte Qualiaproblem des Bewusstseins Topologische Interpretation Bearbeiten Die Trennung korperlicher und seelischer Symptomatik verlangt danach dass sowohl Bedingungen als auch Folgen der von Freud beschriebenen Umsetzung psychischer Erregungssummen ins Korperliche beachtet werden Thure von Uexkull hat zum Verstandnis genannter Phanomene des Symptomwandels sein Modell des Integrationsraums vorgeschlagen Er wies darauf hin dass das anatomische Bild des menschlichen Korpers mit seinen Geweben Organen und Organsystemen beim Einbau in das umfassendere Bild des Integrationsraums eine Veranderung erfahre Dieses Bild diene als Grundlage fur unsere Orientierung 1 4 Dabei trete die feste raumliche Struktur zuruck und werde wechselnden Funktionseinheiten bereitgestellt Diese wechselnden Funktionseinheiten dienen wiederum den bereits zum Abs Konversionsmodell genannten alltaglichen Aufgaben der Anpassung 1 Schichtenlehre Bearbeiten Die Schichtenlehre ist von verschiedenen Autoren aufgegriffen worden Hier vereinigen sich biologische und dynamische Gesichtspunkte die u a in der Schockbehandlung und der Somatotherapie von Bedeutung sind Unterschieden werden meist eine basale vitale korperliche und eine hohere geistige Schicht Auch eine Skala gleitender Ubergange von den funktionellen Syndromen zu den Ausdruckskrankheiten zu den Bereitstellungsleiden ist in der Krankheitssystematik zu bedenken 1 Praktische Beispiele des Symptomwandels BearbeitenParadebeispiel der Wandlungsfahigkeit von Symptomen war seit Jean Martin Charcot die Hysterie mit ihrer vorubergehenden Buntheit und undurchschaubaren Vielfalt der Storungen Belle indifference des hysteriques La hysterie imite les maladies 5 Die Symptomatik von Asthmaanfallen oder epileptischen Anfallen wird durch das Auftreten einer Psychose gebessert Nach Abklingen der Psychose treten die entsprechenden korperlichen Symptome wieder auf 1 Bei den Epilepsien wurde dieses Phanomen besonders unter der Bezeichnung Alternativpsychose untersucht 6 Es ist als erwiesene Tatsache anzusehen dass sich psychiatrische Erkrankungen je nach sozialem und kulturellem Umfeld verandern Diese Erkenntnis ist das Ergebnis der vergleichenden Psychiatrie Es ist bekannt dass hirnorganische oder andere korperliche Krankheiten u U zu Abschwachung oder Unterbrechung psychischer Symptomatik fuhren siehe auch Schocktherapie 7 Die bis heute nicht vollstandig geklarte therapeutische Wirkung von Neuroleptika wurde bisweilen damit verstandlich gemacht dass diese primar zu einem reversiblen organischen Durchgangssyndrom fuhrt das dann sekundar zum Symptomwandel der Besserung psychotischer Symptomatik beitragt bzw zur Unterbrechung einer Prozesspsychose fuhrt vgl auch das vorgenannte Beispiel der Schocktherapie 8 Bekanntes Beispiel von Symptomwandel Bearbeiten Franz Kafka 1883 1924 ist als Schriftsteller fur seine Selbstbeobachtungen und Selbstanalysen bekannt In seinem Brief an den Vater geht er auf seine Lungenerkrankung ein 9 In Briefen an Milena Jesenska vom April 1920 schrieb Kafka Es war so dass das Gehirn die ihm auferlegten Sorgen und Schmerzen nicht mehr ertragen konnte Es sagte ich gebe es auf ist hier aber noch jemand dem an der Erhaltung des Ganzen etwas liegt dann moge er mir etwas von meiner Last abnehmen und es wird noch ein Weilchen gehn Da meldete sich die Lunge viel zu verlieren hatte sie ja wohl nicht Die Verhandlungen zwischen Gehirn und Lunge mogen schrecklich gewesen sein und speziell zu seinem durch die Tuberkulose bedingten Blutsturz naturlich auch erschreckt gieng zum Fenster lehnte mich hinaus gieng zum Waschtisch gieng im Zimmer herum setzte mich aufs Bett immerfort Blut Dabei war ich gar nicht unglucklich denn ich wusste allmahlich aus einem bestimmten Grunde dass ich nach 3 4 fast schlaflosen Jahren vorausgesetzt dass die Blutung aufhort zum erstenmal schlafen werde Es horte auch auf kam auch seitdem nicht wieder und ich schlief den Rest der Nacht Auch Max Brod berichtet in seinem Tagebuch Massnahmen wegen Kafkas Krankheit Er stellt sie als psychisch dar gleichsam Rettung vor der Heirat Er nennt sie seine endgultige Niederlage Doch schlaft er seither gut Gequalte Seele Schlussfolgerungen hinsichtlich der medizinischen Systematik BearbeitenSymptomwandel kommt keineswegs ausschliesslich der Hysterie zu Daher hat Thure von Uexkull hier nicht von Hysterie sondern von Ausdruckskrankheit gesprochen 1 Dieser Begriff erscheint den Autoren Hoffman und Hochapfel glucklich gewahlt 5 Auch Karl Jaspers hat eine Ausdruckspsychologie beschrieben 10 Weiterhin ist das Konzept der funktionellen Syndrome als eine diagnostische Gruppierung zu nennen bei der die Wandlung von Symptomen eine grosse Rolle spielt Bei den Bereitstellungskrankheiten handelt es sich um eine Gruppe von Storungen deren korperliche Komplikationen haufig zu irreversiblen Schaden oder zum Tod fuhren 1 Einzelnachweise Bearbeiten a b c d e f g h i Thure von Uexkull Grundfragen der psychosomatischen Medizin Rowohlt Taschenbuch Reinbek bei Hamburg 1963 a zu Stw Wandel in zwei verschiedene Richtungen S 48 b zu Stw Zweiphasige Verdrangung S 204 c zu Stw Vergleichende Haufigkeit psychosomatischer Symptomatik bei Neurosen und Psychosen S 47 d zu Stw Integrationsraum S 234 f e zu Stw Anpassung Seite 235 f f zu Stw Schichtenlehre und Systematik S 205 f g zu Stw psychosomatische Wechselwirkungen auch bei Psychosen S 48 h zu Stw Ausdruckskrankheit S 203 i zu Stw Bereitstellungsleiden S 206 Sigmund Freud Die Abwehr Neuropsychosen 1894 In GW Band I Fischer S 63 Dynamik 1 In Uwe Henrik Peters Worterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie 3 Auflage Urban amp Schwarzenberg Munchen 1984 S 141 f Weitere Quellenangaben Korperschema und die damit verbundene Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Vorstellung des eigenen Korpers a b Sven Olaf Hoffmann G Hochapfel Neurosenlehre Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin 1999 6 Auflage CompactLehrbuch Schattauer Stuttgart 2003 ISBN 3 7945 1960 4 a zur Hysterie Seiten 221 230 b Seite 202 Walter Christian Klinische Elektroenzephalographie Lehrbuch und Altlas 2 Auflage Georg Thieme Stuttgart 1977 ISBN 3 13 440202 5 S 174 Klaus Dorner Ursula Plog Irren ist menschlich oder Lehrbuch der Psychiatrie Psychotherapie 7 Auflage Psychiatrie Verlag Rehburg Loccum 1983 ISBN 3 88414 001 9 Seite 377 f Walter Ritter von Baeyer Uber Prinzipien der korperlichen Behandlung seelischer Storungen Nervenarzt 30 l 1959 zu Stw Duchgangssyndrom Franz Kafka Brief an den Vater Reclam Universal Bibliothek Nr 9674 Stuttgart 1995 ISBN 3 15 009674 X Seite Zeile 43 28 und 46 14 vgl auch die dazu und auf Seite 93 der Ausgabe enthaltenen Anmerkungen mit Briefauszugen Kafkas die hier im Anschluss an die Fussnote zitiert werden Zum Begriff der Selbstanalyse siehe das Nachwort dieser Ausgabe Seite 104 Karl Jaspers Allgemeine Psychopathologie 9 Auflage Springer Berlin 1973 ISBN 3 540 03340 8 Seiten 130 153 190 214 ff 231 259 f 630 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Symptomwandel amp oldid 226714684