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Als Schneiderrevolution gelegentlich auch Schneiderkrawall oder Schneideraufruhr werden lokale Unruhen zwischen dem 16 und 20 September 1830 in Berlin bezeichnet Auch wenn es sich eher um einen Aufruhr handelte hat sich in der historischen Literatur der Begriff Schneiderrevolution etabliert Ausgelost durch die Julirevolution in Frankreich kam es zu politisch motivierten Massenversammlungen mit der Forderung nach Freiheit und Gleichheit die durch Einsatz des Militars gewaltsam niedergeschlagen wurden und zu zahlreichen Verhaftungen fuhrten Neben den politischen spielten soziale Elemente wie Ansatze zur Maschinensturmerei und fiskalische Grunde eine Rolle Der uberforderte Magistrat von Berlin kritisierte zwar die Willkur und Harte des Militars stand den Ursachen des Konflikts jedoch verstandnislos gegenuber und betrachtete ihn in erster Linie als Unfug beziehungsweise Storung der offentlichen Ordnung Zeitgenossische Liberale wie der spater in der Marzrevolution involvierte Adolf Streckfuss belachelten die Unruhen als kleinliches und erbarmliches Revolutionchen das jammerlich verpufft sei 1 Nach Einschatzung heutiger Historiker spiegeln sie wie auch die funf Jahre spater folgende Feuerwerksrevolution die zunehmende Politisierung breiter Bevolkerungsschichten in der Zeit des Vormarz wider Inhaltsverzeichnis 1 Polizeiwillkur als Ausloser des Aufruhrs 1830 2 Aufruhr und Militareinsatz 3 Aufforderung des Berliner Magistrats zur Aufrechterhaltung der Ordnung 4 Sozialer Hintergrund 5 Folgen und Feuerwerksrevolution 1835 6 Literatur 7 EinzelnachweisePolizeiwillkur als Ausloser des Aufruhrs 1830 Bearbeiten nbsp Breite Strasse um 1890 mit dem 1670 erbauten Alten MarstallAnlass des Aufruhrs war eine willkurliche Polizeiaktion In der Herberge der Schneidergesellen in der Breiten Strasse rief der Geselle Daniel Schupp am 14 September aus Bruder es lebe die Freiheit Es lebe die Gleichheit Kommt Bruder ich werde euch anfuhren die Revolution bricht aus mit der Breiten Strasse wollen wir den Anfang machen und dann geht es weiter Der Aufruf blieb zwar folgenlos dennoch wurde Schupp am 15 September vom Polizeikommissar Seidel verhaftet Einen Tag spater verhaftete Seidel acht weitere Schneidergesellen weil sie angeblich arbeits und brotlos waren Das erwies sich spater als Irrtum und selbst die Behorden mussten zugeben dass die Verhaftungen ohne gehorige Prufung erfolgt seien Nachdem mehrere tausend Zunftgenossen vor der Kollnischen Wache die Freilassung der willkurlich Inhaftierten gefordert hatten wurden weitere 17 Personen arretiert Zu den Verhafteten gehorten drei Steinsetzer zwei Schneider sowie je ein Kaufmann Seidenwirker Konditorgehilfe Werkmeister Predigtamtskandidat Lederzurichter Tafeldecker Buchdrucker Maurerlehrling Schlachter Geldarbeiter und Handelsmann 1 Aufruhr und Militareinsatz BearbeitenAm 17 September kam es zu einer Massenversammlung uberwiegend jungerer Arbeiter auf dem Schlossplatz Nachdem Steine geflogen waren und nach einem Handgemenge zwischen dem Pobel und Grenadieren zerstreuten Dragoner und Ulanen die Menge mit gezogenem Sabel und teilweise scharfen Hieben Der Militareinsatz wurde in der Polizeinotiz verschwiegen Es folgten 73 weitere Verhaftungen Dem Einsatz und den Militarpatrouillen in den Strassen am folgenden Tag bescheinigte der Stadtrat Carl Knoblauch schlechtes Betragen die uberall fliehende Haufen verfolgten und auf einzelne ohne dass sie sich zur Wehr setzten und die teils sich ruhig vor ihren Hausern hielten einhieben 2 Ein Anschlagzettel der mit Brutus unterzeichnet war zeigte zwar den tiefen Riss zwischen Konig Friedrich Wilhelm III und seiner Hauptstadt machte laut Ilja Mieck aber auch deutlich dass man weniger den Konig sondern eher die reaktionare Clique um Wittgenstein und Kamptz fur die Nichteinhaltung der koniglichen Verfassungsversprechen verantwortlich machte 3 Auf auf ihr Teutsche Schuttelt das Joch ab welches seit 15 Jahren immer druckender geworden ist Blickt nach Suden und Westen da seht ihr ein ruhmvolles Beispiel wie sich andere Nationen mit Gewalt ihre Freiheit erkampfen Wollen wir diesen nachstehen Wollen wir noch langer Sklaven bleiben Nein brave teutsche Mitbruder Fort mit der absoluten Gewalt Nieder mit den Handen der Tyrannei den Gendarmen Es lebe die Nation es lebe eine reprasentative Verfassung Es lebe der konstitutionelle Konig Brutus Anschlagzettel 17 oder 18 September 1830 4 Trotz eines Aufrufs der Behorden zu Ruhe und Ordnung siehe Folgekapitel setzten sich die Unruhen am 19 September fort Pflastersteine flogen und Fensterscheiben gingen zu Bruch Erneut griff das Militar ein und die Menge wich erst zuruck als eine Eskadron in starkstem Galopp in die Ansammlung hineinritt Eine Kompanie Infanterie ergriff die Niedergerittenen und schleppte sie zur Wache Am 20 September war die Ruhe weitgehend wiederhergestellt 200 der 208 Verhafteten wurden spater verurteilt 3 Davon wurden 25 den Gerichten uberstellt 175 Verhaftete erhielten Polizeistrafen darunter zwischen 10 und 20 Peitschenhiebe 2 bis 8 Tage Arrest bei Wasser und Brot 14 Tage Arbeitshaus die hochste Polizeistrafe Drei Lehrlinge im Alter von 14 und 15 Jahren erhielten 20 Peitschenhiebe 5 Aufforderung des Berliner Magistrats zur Aufrechterhaltung der Ordnung BearbeitenAm 18 September 1830 hatten die Stadtbehorden die Berliner Bevolkerung in einem Zirkular zu Ruhe und Ordnung aufgefordert Aufforderung an die Einwohner Berlins Die Verhaftung einiger Handwerks Gesellen in der Abendstunde des vorgestrigen Tages hat die Veranlassung gegeben dass eine Menge Menschen sich zu derselben Zeit in der Breitenstrasse versammelte um ihre Neugier zu befriedigen Diess Zusammenkommen hat sich am gestrigen Tage wiederholt Unter einer solchen Zahl von Menschen finden sich naturlich auch immer mehrere die einen Zusammenlauf benutzen um Unfug zu treiben und wenn dieser entsteht so vermehrt sich die Zahl der Neugierigen noch mehr Die Personen welche von den betreffenden Behorden beauftragt sind auf Ordnung zu halten um jedem etwanigen Unfug zu steuern konnen dabei nicht untersuchen welche von den auf den Strassen befindlichen Leuten nur aus Neugier oder welche eines zu treibenden Unfugs wegen dort sind Es ist daher nothwendig dass bei einer solchen Veranlassung sich Jeder zu Hause halte nicht durch unzeitige Neugier den Zulauf vermehre oder ihn eigentlich erst dadurch veranlasse und sich selbst in dieser Art vor Schaden bewahre der unvermeidlich ist sobald man sich unter die Menge begiebt Wenn alle wohlgesinnten Einwohner nicht nur fur ihre Person hiernach verfahren sondern auch die von ihnen abhangigen vornamlich die bei ihnen in Lohn und Brod stehenden Leute dazu veranlassen so hort der Zusammenlauf von selbst auf durch welchen nur Unordnung begunstigt wird Wer sich dann noch an solchen Orten ohne sehr dringende Geschafte zu haben einfindet oder aufhalt der erregt den Verdacht dass er sich nur eines zu veranlassenden Unfugs wegen dahin begeben habe Gegen solche Leute konnen diejenigen Personen welche zur Aufrechterhaltung der Ordnung bestimmt sind alsdann die erforderlichen Maassregeln leicht und nothigenfalls mit allem Ernste ergreifen ohne dass dadurch andere gut gesinnte Personen Gefahr laufen Wir finden uns veranlasst durch dies Circular die sammtlichen Haus Eigenthumer hierauf aufmerksam zu machen mit dem Ersuchen auch den Bewohnern ihres Hauses dasselbe mittzutheilen und mit ihnen gemeinschaftlich dafur zu sorgen dass sowohl die Erwachsenen als besonders auch die Jungeren sich vom Finsterwerden an zu Hause halten und nicht aus Neugier oder aus Lust an solchem Unfug den Zulauf vermehren Unser theurer Konig den wir Alle so innig lieben muss mit Missfallen dies unbedachte Zusammenlaufen bemerken Die Ehre der hiesigen Einwohner welche sich immer durch Ordnung und gesetzmassiges Benehmen auszeichneten wurde leiden wenn dasselbe noch langer fortdauerte auch die eigene Sicherheit der Einwohner verlange es dass jede Storung der Ordnung vermieden werde Aufforderung an die Einwohner Berlins Ober Burgermeister Burgermeister und Rath hiesiger Koniglichen Residenzien Berlin den 18 September 1830 6 Dem amtierenden Oberburgermeister Johann Stephan Gottfried Busching der aus einer Familie von Handwerkern Beamten und Pfarrern stammte und der sich fur das stadtische Armenwesen eingesetzt hatte waren die drangenden Probleme der Stadt nach Darstellung des Historikers Gunther Hildebrandt zu dieser Zeit bereits teilweise entglitten er nahm eher die Rolle eines Altersprasidenten ein Die Aufforderung der Berliner Behorden zeige dass sie den Aufruhr in erster Linie als Unfug beziehungsweise Storung der offentlichen Ordnung betrachteten Den politischen und sozialen Ursachen hatten sie verstandnislos gegenubergestanden 7 Uber die Willkur und Harte des Militars beschwerte sich der Magistrat von Berlin anschliessend beim Innenminister Dem Konig versicherte er gleichzeitig seine und der Stadt gute Gesinnung und erklarte Neugier und Lust am Unfug hatten die Unruhen herbeigefuhrt Ilja Mieck merkt dazu an dass wohl selten ein Konig so dreist belogen worden sei 8 Sozialer Hintergrund Bearbeiten nbsp Webmaschine 1855Nach Ilja Mieck lag den Unruhen mit dem Ruf nach Freiheit und Gleichheit zwar eine eminent politische Motivation zugrunde 1 doch hatten auch soziale und fiskalische Motive eine grosse Rolle gespielt So habe es bei dem weitgehend von Handwerkern getragenen Aufruhr deutliche Elemente der Maschinensturmerei gegeben Die Vorboten der Industriellen Revolution und die damit einhergehenden Strukturveranderungen hatten im Handwerk zu einem hohen Anpassungsdruck gefuhrt Drei Viertel aller Handwerker gehorten um die Jahrhundertmitte zur Gruppe der bedurftigen oft proletaroiden Kleinmeister am Rande des Existenzminimums Das Schneiderhandwerk befand sich durch seine erhebliche personelle Ubersetzung in einer besonders harten okonomischen Krise Viele mussten ihre Selbstandigkeit aufgeben und rund 10 Jahre spater waren fast alle Schneider von Kleiderladen abhangig fur die sie bis zu 14 Stunden taglich arbeiteten Die Verunsicherung gegenuber den neuartigen aus England importierten Maschinen die Arbeitsplatze zu gefahrden und das ohnehin schon grosse soziale Elend zu verscharfen drohten war 1830 entsprechend gross So hiess es die Maschinenweberei Gebr Cockerill richte die Weber zugrunde Die Fabrik wurde vorsichtshalber unter Polizeischutz gestellt doch blieben Angriffe aus Die Demonstranten verlangten zudem die Aufhebung der verhassten Mietsteuer Selbst die vom Magistrat von Berlin am 1 Juli 1830 eingefuhrte Hundesteuer trug zu der explosiven Lage bei 9 Folgen und Feuerwerksrevolution 1835 Bearbeiten nbsp Sturm auf die Kartoffelstande Lithografie von Vinzenz Katzler 1847Die massgebenden Kreise kamen zu dem Schluss dass gegenuber den vermeintlichen Demagogen eine scharfere Gangart eingeschlagen werden musse Zu den Massnahmen gehorte eine deutliche Erhohung der Gefangniskapazitaten 1832 hatte sich die Zahl der Gefangnisplatze verdreifacht Das Hambacher Fest im Mai 1832 verscharfte das Misstrauen der staatlichen Organe gegen jede nationale und liberale Regung weiter Der Druck auf die Presse und die Universitaten wurde erhoht politische Vereine und Versammlungen wurden untersagt und die Post uberwacht Eine neue Welle der Demagogenverfolgung setzte ein 1835 kam es in Berlin zu einem zweiten intensiven Militareinsatz gegen Demonstranten als die Berliner das beliebte Fest zum koniglichen Geburtstag am 3 August wie in den Vorjahren unter stillschweigender Duldung der Behorden lautstark und mit Feuerwerkskorpern feiern wollten Als die ersten Raketen gezundet wurden und die Behorden die gesetzlichen Bestimmungen strikt anwenden wollten entwickelte sich nach ersten Handgreiflichkeiten eine Strassenschlacht Das herbeigerufene Militar trieb die Menge vom Tiergarten durch das Brandenburger Tor zuruck in die Stadt Da das Militar scharf einhieb wurden zahlreiche Aufruhrer verwundet und verhaftet Am 4 August dehnten sich die Strassenschlachten dennoch aus und konnten erst am 5 August erstickt werden als die Menge das Cafe Kranzler sturmen wollte Unter den 100 Schwerverwundeten dieser Unruhen waren 40 Soldaten 32 Gendarmen und 25 Aufruhrer von denen zwei verstarben Zwar war die sogenannte Feuerwerksrevolution auf den ersten Blick weniger politisch motiviert als die Unruhen funf Jahre zuvor doch gab es laut Mieck deutliche Indizien dass einige politische Kopfe an die Spitze der Bewegung traten mit der Hoffnung sie zu einer allgemeinen Revolution ausweiten zu konnen So spiegele auch die Feuerwerksrevolution wie schon die Schneiderrevolution die zunehmende Politisierung breiter Bevolkerungsschichten in der Zeit des Vormarz wider Am Vorabend der Marzrevolution 1848 49 folgte in Berlin ein Streik der Kattundrucker die unter der Mechanisierung der Produktion besonders litten und nur noch ein Viertel ihres bisherigen Einkommens erhielten 10 Im April 1847 folgten die Tumulte der Kartoffelrevolution aus Anlass stark uberhohter Lebensmittelpreise aufgrund vorangegangener Missernten die nach drei Tagen vom Militar beendet wurden Literatur BearbeitenErnst Frensdorff Der Berliner Schneideraufruhr im Jahre 1830 Ungedruckte Tagebuchaufzeichnungen eines preussischen Gardeoffiziers In Mitteilungen des Vereins fur die Geschichte Berlins Nr 11 1907 S 208 212 zlb de Gunther Hildebrandt Johann Stephan Gottfried Busching In Wolfgang Ribbe Hrsg Stadtoberhaupter Biographien Berliner Burgermeister im 19 und 20 Jahrhundert Berlinische Lebensbilder Band 7 Einzelveroffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin Band 60 Stapp Berlin 1992 ISBN 3 87776 212 3 S 52 65 Ilja Mieck Von der Reformzeit zur Revolution 1806 1847 In Wolfgang Ribbe Hrsg Geschichte Berlins Band 1 Von der Fruhgeschichte bis zur Industrialisierung C H Beck Munchen 1987 ISBN 3 406 31591 7 S 405 602 Einzelnachweise Bearbeiten a b c Ilja Mieck Von der Reformzeit zur Revolution 1987 S 526 Ilja Mieck Von der Reformzeit zur Revolution 1987 S 526 f a b Ilja Mieck Von der Reformzeit zur Revolution 1987 S 527 f Wiedergegeben aus Ilja Mieck Von der Reformzeit zur Revolution 1987 S 527 Karl Obermann Die Volksbewegung in Berlin in den Jahren 1830 1832 In Berliner Heimat Bd 4 1956 ZDB ID 547799 2 S 12 18 Hier wiedergegeben aus Ilja Mieck Von der Reformzeit zur Revolution 1987 S 528 Fussnote 27 Wiedergabe nach dem Originalabdruck des Aufrufs in Ilja Mieck Von der Reformzeit zur Revolution 1987 S 529 Gunther Hildebrandt Johann Stephan Gottfried Busching S 51 61 63f Ilja Mieck Von der Reformzeit zur Revolution 1987 S 528 Ilja Mieck Von der Reformzeit zur Revolution 1987 S 528 543 ff 593 Ilja Mieck Von der Reformzeit zur Revolution 1987 S 528 530 f 588 ff 599 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Schneiderrevolution amp oldid 235499271