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Prozessschutz ist eine Naturschutzstrategie die vom deutschen Forstokologen Knut Sturm gepragt wurde Sie beruht im engeren Sinne auf dem Nicht Eingreifen in die naturlichen Prozesse von Okosystemen Im weiteren Sinne fasst man darunter auch die Integration von Naturschutzbelange in umweltfreundlichen Nutzungsformen von Kulturlandschaften 1 Die Prozessschutz Strategie ist nicht geeignet fur die Erhaltung unveranderlicher Soll Zustande wie es bei verschiedenen Pflegestrategien der Fall ist Der Schwerpunkt liegt stattdessen auf der Erhaltung der naturlich dynamischen Prozesse die zu neuen nicht genau vorhersehbaren Systemzustanden fuhren Urwald von Morgen Prozessgeschutzter Eichen Buchen Hangwald auf dem ehemaligen Wuppertaler Truppenubungsplatz ScharpenackenIn diesem Zusammenhang sind naturliche und nutzungsbedingte Storeinflusse wie Sturm Wildfeuer Uberalterung eines Baumbestandes Schadlinge u a fur eine solche Entwicklungsdynamik von grosser Bedeutung Dabei werden zwar immer wieder einzelne Habitattypen oder Teile davon zerstort zugleich schaffen sie jedoch neuartige Lebenssituationen und verandern das Konkurrenzgefuge zwischen den Arten Die Sukzession beginnt von neuem Regenerationszyklen werden neu realisiert oder modifiziert Die naturliche Selektion wird angeregt so dass sich der Genpool der beteiligten Arten regenerieren kann und das dynamische Gleichgewicht des Okosystems stabilisiert wird Damit ist der Prozessschutz im Grundsatz ein Spiegelbild der naturlichen Prozesse in der Wildnis Man unterscheidet allerdings zwischen segregativem und integrativem Prozessschutz Inhaltsverzeichnis 1 Konzepte 2 Naturschutzfachliche Definition nach Jedicke 3 Entwicklung 4 Kritik und Konflikte 5 EinzelnachweiseKonzepte BearbeitenNur beim segregativen Prozessschutz steht die vollkommen ungesteuerte Naturentwicklung zu wildnisahnlichen Lebensraumen im Mittelpunkt Sie wird vor allem bei der Wiederherstellung wildnisahnlicher Gebiete in Kulturlandschaften angewendet siehe Wildnisentwicklungsgebiete Der segregative Prozessschutz folgt der kulturellen Naturvorstellung dass Wildnis autopoietisch entstunde Europaweit bemuht sich die European Wilderness Society um die Festschreibung des Prozessschutzes fur grosse Wildnis entwicklungs gebiete in den Kernzonen bestehender Nationalparks und anderer Grossschutzgebiete Neben den vorgenannten Wildnisentwicklungsgebieten wird der Ansatz des Prozessschutzes auch in Nationalparks wie im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft Nationalpark Kellerwald Edersee oder Nationalpark Bayerischer Wald als Leitbild verwendet Beim integrativen Prozessschutz findet eine Bewertung und Auswahl der naturlichen Prozesse statt die entsprechend der formulierten Ziele einer bestimmten Landschaftsentwicklung zugelassen oder verhindert werden Allerdings galt dies im ursprunglichen Sinne nur auf begrenzten mosaikartigen Teilflachen in Wirtschaftswaldern Das heisst die naturliche Dynamik von Wildnis sprich Urwald inseln im Wirtschaftswald soll genutzt werden 2 Naturschutzfachliche Definition nach Jedicke BearbeitenDie aktuelle Prozessschutz Definition nach Eckhard Jedicke 1998 3 Prozessschutz bedeutet das Aufrechterhalten naturlicher Prozesse okologischer Veranderungen in Raum und Zeit in Form von dynamischen Erscheinungen auf der Ebene von Arten Biozonosen Bio oder Okotopen Okosystemen und Landschaften Prozessschutz zielt sowohl auf den Erhalt anthropogen ungesteuerter Dynamik auf mindestens aktuell ungenutzten Flachen unter Einfluss von Sukzessionsprozessen auf durch den Menschen veranderten bzw beeinflussten Standorten welche zu naturnaheren Stadien fuhren konnen Prozessschutz im engeren Sinne oder segregativer Prozessschutz als auch von Nutzungsprozessen welche eine Kulturlandschafts Dynamik mit positiven Auswirkungen auf Naturschutzziele des Arten und Biozonosen Biotop abiotischen Ressourcen und Kulturlandschaftsschutzes als Nebeneffekt bedingen ohne dass gezielt betriebene Pflegeeingriffe stattfinden Nutzungsprozessschutz oder integrativer Prozessschutz Entwicklung BearbeitenGrundlage fur die Idee des Prozessschutzes war die Revision des aus den 1970er Jahren stammenden Paradigmas des okologischen Gleichgewichtes Der US Naturschutzbiologe Daniel Botkin wies in seinem 1990 erschienenen Buch Discordant Harmonies das Scheitern vieler wissenschaftlich begrundeter Managementbemuhungen in US Nationalparks und dem Fischereimanagement aufgrund uberholter Naturschutz Mythen nach Er pladierte fur einen Schutz der naturlichen Prozesse Steward Picket schlug dafur 1992 die Begrifflichkeit des flux of nature vor 4 Wichtig fur die neue Sichtweise war das Mosaik Zyklus Konzept von Hermann Remmert Es loste die Vorstellung von einem okologischen Gleichgewicht ab und machte deutlich wie sehr die Wertung eines Okosystems von Stabilitatsdefinition als auch von der Betrachtungsebene und dem Betrachtungszeitraum abhangen nbsp Natur Natur sein lassen ist das Motto des Nationalpark Schleswig Holsteinisches Wattenmeer Die ablaufenden Prozesse zu beobachten ohne einzugreifen gilt als anzustrebendes Ideal wie hier in der Amrumer DunenlandschaftKritik und Konflikte BearbeitenDer Naturschutzbiologe Reinhard Piechocki argumentiert dass auch der Schutz naturlicher Prozesse von menschlichen Vorstellungen dominiert sei vor allem von einem bestimmten Bild der Wildnis Diese Kritik bezieht sich sowohl auf den integrativen Prozessschutz der eine Auswahl zugelassener Prozesse vorgibt als auch auf den segregativen Prozessschutz weil auch dieser in der Ausweisung von Schutzgebieten die Wildnis erstens negativ in Differenz zum Ausgangsstadium das keine Wildnis sei bestimmt und zweitens sie aus bestimmten kulturellen Mustern heraus als erstrebenswert betrachtet Obwohl der Prozesschutz vorgibt primar naturwissenschaftlich zu argumentieren lost er sich nicht von den ganzheitlich organizistischen Naturvorstellungen denn es geht ihm letztlich nicht um den Schutz okologischer Prozesse an sich sondern um die Verwirklichung idealtypischer wildnisgepragter Naturbilder Reinhard Piechocki 2010 5 In der Umsetzung wird Prozessschutz eher angestrebt um damit andere Ziele zu erreichen So ist dies beispielsweise in der 2007 verabschiedeten Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt NBS der damaligen Bundesregierung der Fall Der Schutz der Prozesse wird dort prioritar mit dem Biodiversitatsschutz befurwortet siehe Wildnis Die Hoffnung ist dass sich mit dem Laufenlassen naturlicher Prozesse eine hohere Biodiversitat einstellt was bei einigen in der NBS skizzierten potenziellen Prozesschutzgebieten namentlich Bergbaufolgelandschaften und ehemalige Truppenubungsplatze eher nicht eintreten durfte weil mit dem dann zwangslaufig stattfindenden Ubergang von Offenlandbiotopen zu Wald ein Ruckgang der Artenvielfalt erwartet werden muss Speziell auf bei anthropogen uberpragten Kulturlandschaften konnte der Einsatz von halb wilden Weidetieren z B Koniks Galloway aber auch Rotwild ein effektives Mittel sein um durch naturliche Prozesse Artenvielfalt zu fordern Allerdings wird diese Strategie aktuell von den Akteuren eher abgelehnt was eventuell auf eine andere eher puristischere Vorstellung von Prozessschutz zuruckzufuhren ist 6 Laien bewerten Prozessschutz oft negativ als blosses Nichtstun was manchmal Konflikte hervorrufen kann So fuhrte z B der Prozessschutz im Nationalpark Bayerischer Wald der seit Mitte der 1990er Jahre von starkem Borkenkaferbefall betroffen ist zu heftigen Diskussionen zwischen Befurwortern und Gegnern des Konzepts 7 Ein weiteres Problemfeld ist die Ausbreitung invasiver Arten meist Neobiota in Prozessschutzgebiete zum Beispiel Herkulesstaude Spatbluhende Traubenkirsche Drusiges Springkraut Waschbar Eichen Prozessionsspinner Signalkrebs uvm da nach deutschem Naturschutzrecht 40 3 Satze 1 und 2 BNatSchG und dem vieler anderer Lander vorgeschrieben ist solche Arten zu beseitigen und ihre Ausbreitung zu verhindern Dies widerspricht zum einen dem Prozessschutzgedanken und verhindert zum anderen die Entstehung neuartiger Okosysteme in Zeiten eines fortschreitenden Klimawandels Beim deutschen Wald etwa befurworten Forstwissenschaftler den umsichtigen Anbau einiger fremdlandischer Baumarten im Sinne eines klimaplastischen Waldes die nicht invasiv sind aber etliche wirtschaftliche und okologische Vorteile bieten Von Seiten des Naturschutzes herrscht hier bislang noch vollige Ablehnung die sich bereits in der unterschiedlichen Bewertung bestimmter Arten als invasiv oder nicht invasiv ausdruckt 8 9 Einzelnachweise Bearbeiten Eckhard Jedicke Raum Zeit Dynamik in Okosystemen und Landschaften Naturschutz und Landschaftsplanung 30 1998 S 229 233 Knut Sturm Prozessschutz ein Konzept fur naturgerechte Waldwirtschaft In Zeitschrift fur Okologie und Naturschutz 2 1993 S 181 192 Eckhard Jedicke Raum Zeit Dynamik in Okosystemen und Landschaften In Naturschutz und Landschaftsplanung 8 9 1998 S 233 Zitiert in Hans Jurgen Bohmer Beim nachsten Wald wird alles anders 1999 Webtext Memento des Originals vom 27 Oktober 2007 im Internet Archive nbsp Info Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht gepruft Bitte prufe Original und Archivlink gemass Anleitung und entferne dann diesen Hinweis 1 2 Vorlage Webachiv IABot www waldwildnis de Zitiert nach Reinhard Piechocki Landschaft Heimat Wildnis Schutz der Natur aber welche und warum Beck Munchen 2010 ISBN 978 3 406 54152 0 Becksche Reihe Band 1711 S 108 Reinhard Piechocki Landschaft Heimat Wildnis Schutz der Natur aber welche und warum Beck Munchen 2010 ISBN 978 3 406 54152 0 Becksche Reihe Band 1711 Seite 110 Nicolas Schoof Rainer Luick Herbert Nickel Albert Reif Marc Forschler Paul Westrich Edgar Reisinger Biodiversitat fordern mit Wilden Weiden in der Vision Wildnisgebiete der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt 7 Auflage Nr 93 Natur und Landschaft 2018 S 314 322 researchgate net Robert Liebecke Klaus Wagner u Michael Suda Nationalparke im Spannungsfeld zwischen Prozessschutz traditionellen Werten und Tourismus Das Beispiel Nationalpark Bayerischer Wald in Jahrbuch des Vereins zum Schutz der Bergwelt Munchen 73 Jahrgang 2008 S 125 138 Olaf Schmidt Nichtheimische Baumarten zwischen Naturschutz und Forstwirtschaft in LWF aktuell 4 2019 PDF abgerufen am 10 Marz 2022 S 28 31 Torsten Vor Hermann Spellmann Andreas Bolte Christian Ammer Hrsg Potenziale und Risiken eingefuhrter Baumarten Baumartenportraits mit naturschutzfachlicher Bewertung Gottinger Forstwissenschaften Band 7 Universitatsverlag Gottingen 2015 ISBN 978 3 86395 240 2 PDF abgerufen am 10 Marz 2022 S 5 6 10 22 24 25 30 105 175 178 180 187 188 202 244 249 250 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Prozessschutz amp oldid 221024384