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Prozessphilosophie ist eine Bezeichnung fur metaphysische Konzeptionen die Ereignisse und Prozesse als die grundlegenden Elemente der Realitat darstellen Damit verbunden ist in der Regel die Ablehnung einer Metaphysik die stabile Substanzen als Grundelemente anfuhrt Letztere sogenannte Substanzmetaphysik dominiert seit der griechischen Antike die Diskussion in der abendlandischen Philosophie und zum Teil auch in anderen Disziplinen Inhaltsverzeichnis 1 Geschichte 2 Nicholas Rescher 3 Weblinks 4 EinzelnachweiseGeschichte BearbeitenDer erste Prozessphilosoph der abendlandischen Geschichte durfte Heraklit sein auch wenn sein Ansatz noch auf der Grenze zwischen Mythos und Theorie im modernen Sinne steht Sein beruhmtes Diktum panta rhei Alles fliesst trifft aber bereits die wesentliche Grundentscheidung der Behauptung eines Primats des Werdens vor dem statischen Sein Unter den grossen philosophischen Autoren werden teilweise auch Aristoteles Nietzsche Leibniz Hegel und Spinoza 1 der Prozessphilosophie zugeordnet Die aristotelische Philosophie weist insofern stark prozessphilosophische Elemente auf und gerade darin unterscheidet sie sich signifikant von ihren platonischen Wurzeln als sie in Umkehrung der sogenannten platonischen Ideenlehre behauptet dass sich alle Dinge auf ein metaphysisch vorbestimmtes Ziel telos hin entwickeln Ihre Entwicklung verlauft folglich nicht zufallig sondern auf einer als ihr Formziel das heisst ihrer definierten Vollendlichkeit entelecheia vorgegebenen Bahn Auf dem Wege dorthin bewegt sich jeder Gegenstand in dem Umfange wie seine Entelechie noch nicht realisiert ist in einer Art Moglichkeitszusammenhang der sogenannten dynamis Der jeweils realisierte Zustand ist seine energeia das heisst wortlich das Arbeitshaltige und kann interpretiert werden als das bereits an ihm Realisierte Prozessphilosophisch ist dieser Ansatz ausserordentlich entwickelt weil er bereits einen konsistenten Zusammenhang von Werden und Sein entwirft Einen grossen Sprung im prozessphilosophischen Denken losten die Philosophen der Romantik und des Deutschen Idealismus aus die angeregt durch das neu entstehende chemische Wissen im 18 Jahrhundert eine Vorstellung der Welt als Organismus entwickelten So etwa Friedrich Schlegel der den Prozess als Zentralbegriff der Wissenschaft kennzeichnete 2 vor allem aber Schelling fur den sich Prozess und Organisation wechselseitig aufeinander beziehen 3 und der schliesslich vom absoluten Prozess sprach 4 In diesem Denken nimmt Hegel eine besondere Bedeutung ein Seine Konzeption der Dialektik ist keineswegs nur eine Methode des Denkens sondern beansprucht ausdrucklich ontologische Geltung Dies fuhrt Hegel geschlossen in seiner Wissenschaft der Logik aus Die Welt ist demzufolge ein riesiger Entwicklungsprozess Allerdings sieht Hegel ein Ziel dieser Entwicklung bei dessen Erreichen der von ihm beschriebene Entwicklungsprozess zumindest theoretisch endet Dieses Ziel stellt er als das Sich selbst Bewusstwerden des objektiven Geistes dar das sich keimhaft bereits in jedem Begriff aussert Das Ziel des hegelschen Weltprozesses ist also immer noch ahnlich wie bei Aristoteles und seiner Konzeption der entelecheia ein gewissermassen idealer Endzustand jeglicher Entwicklung Der Prozess ist auch bei ihm nur Mittel zum metaphysischen Zweck Karl Marx ubertrug das Denken von Prozessen auf gesellschaftliche Verhaltnisse indem er von Lebensprozessen sprach Die Gesamtheit dieser Produktionsverhaltnisse bildet die okonomische Struktur der Gesellschaft die reale Basis worauf sich ein juristischer und politischer Uberbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen politischen und geistigen Lebensprozess uberhaupt Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen das ihr Sein sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein das ihr Bewusstsein bestimmt 5 Hiervon machen die okonomischen Prozesse von Produktion Distribution Austausch und Konsumtion einen wesentlichen Teil aus wie sie bei jedem organischen Ganzen wiederzufinden sind Die Arbeit ist zunachst ein Prozess zwischen Mensch und Natur ein Prozess worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt regelt und kontrolliert Indem er durch diese Bewegung auf die Natur ausser ihm wirkt und sie verandert verandert er zugleich seine eigne Natur 6 In seiner fruhen Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie fur das Leben wandte Friedrich Nietzsche sich entschieden gegen die Vorstellung Eduard von Hartmanns und indirekt damit auch gegen Hegel von einem Weltprozess dem der Mensch unterlegen ist Der Mensch ist nicht der Macht der Geschichte ausgeliefert Seht euch nur die Religion der historischen Macht an gebt Acht auf die Priester der Ideen Mythologie und ihre zerschundenen Kniee Sind nicht alle Tugenden im Gefolge dieses neuen Glaubens Oder ist es nicht Selbstlosigkeit wenn der historische Mensch sich zum objectiven Spiegelglas ausblasen lasst Ist es nicht Grossmuth auf alle Gewalt im Himmel und auf Erden zu verzichten dadurch dass man in jeder Gewalt die Gewalt an sich anbetet 7 Andererseits hat Nietzsche spater seine Auffassung von einer organischen Ontologie der Welt deutlich zum Ausdruck gebracht Er interpretierte das prozesshafte Werden als Kreislaufgeschehen als Ewige Wiederkunft Dabei betrachtete er die Sicht auf die organischen Prozesse als ein Deuten und Werten in dem der Wille zur Macht zum Ausdruck kommt Der Wille zur Macht interpretirt er grenzt ab bestimmt Grade Machtverschiedenheiten Blosse Machtverschiedenheiten konnten sich noch nicht als solche empfinden es muss ein wachsen wollendes Etwas da sein das jedes andere wachsen wollende Etwas auf seinen Werth hin interpretirt Darin gleich In Wahrheit ist Interpretation ein Mittel selbst um Herr uber etwas zu werden Der organische Prozess setzt fortwahrendes Interpretiren voraus Man darf nicht fragen wer interpretirt denn sondern das Interpretiren selbst als eine Form des Willens zur Macht hat Dasein aber nicht als ein Sein sondern als ein Prozess ein Werden als ein Affekt 8 Dies gilt auch fur die Ablehnung der naturwissenschaftlichen Vorstellungen von Substanzen Kampf der Atome wie der Individuen aber bei gewisser Starkeverschiedenheit wird aus zwei Atomen Eins und aus zwei Individuen Eins Ebenso umgekehrt aus Eins werden zwei wenn der innere Zustand eine Disgregation des Macht Centrums bewerkstelligt Also gegen den absoluten Begriff Atom und Individuum Das Atom kampft um seinen Zustand aber andere Atome greifen es an um ihre Kraft zu vermehren Beide Prozesse den der Auflosung und den der Verdichtung als Wirkungen des Willens zur Macht zu begreifen Bis in seine kleinsten Fragmente hinein hat er den Willen sich zu verdichten Aber er wird gezwungen um sich irgendwohin zu verdichten an anderer Stelle sich zu verdunnen usw Weltkorper und Atome nur grossenverschieden aber gleiche Gesetze 9 Im zwanzigsten Jahrhundert hat besonders die Philosophy of Organism des englischen Mathematikers und Philosophen Alfred North Whitehead 10 11 und seines Schulers Charles Hartshorne die heutige Charakterisierung der Prozessphilosophie beeinflusst In einer prozessphilosophischen Denktradition stehen aber auch Henri Bergson Charles Peirce John Dewey William James und Nicholas Rescher Nicholas Rescher BearbeitenIn der Gegenwartsphilosophie ist Nicholas Rescher der prominenteste Vertreter der Prozessphilosophie Er beschreibt Prozessphilosophie als eine allgemeine metaphysische Theorie uber die Realitat und das menschliche Wissen daruber Die grundlegende ontologische Kategorie der Prozessphilosophie ist der Prozess ist die These dass die Natur vorrangig aus Prozessen und Veranderungen besteht und dass Dinge bereits abgeleitete Abstraktionen im Zuge der Erkenntnis sind Dinge sind nicht mehr als eine zeitlich begrenzte stabile Ordnung von Prozessen Rescher hebt vor allem drei Charakteristika von Prozessen hervor 12 Ein Prozess ist ein Komplex eine Einheit aus mehreren Stufen oder Phasen Dieser Komplex hat eine bestimmte zeitliche Verknupfung und Einheit sodass entsprechend Prozesse unverzichtbar eine zeitliche Dimension haben Ein Prozess hat eine Struktur eine eigene generische Form durch die jeder konkrete Prozess eine bestimmte Ordnung oder Form erhalt Wichtige Kategorien sind daher Zeit Wandel Emergenz Fluss Aktivitat oder Innovation Gegenuber der traditionellen vom Substanzdenken gepragten Philosophie nennt Rescher folgende Thesen die mit der Prozessphilosophie zu verbinden sind 13 Substanz kann nicht ohne Bezug auf einen Prozess gedacht werden Eine rigorose Substanzmetaphysik hat keine Erklarung fur Handeln und Wandel Prozesse haben eine naturliche Eigendynamik die zu neuen Prozessen fuhrt Ein Prozessansatz kann mit einer Theorie der Substanzen erfolgreich verbunden werden Die Identitat und Identifikation von Substanzen ist unabweislich an das Vorhandensein von Prozessen gebunden Der Prozessansatz vermeidet oder minimiert das Problem der Universalien Der Prozessansatz kann leichter mit den modernen empirischen Wissenschaften Physik Biologie Sozialwissenschaften verbunden werden Der Prozessansatz vermittelt eine naturlichere Sicht auf Personen und Personlichkeit Der Prozessansatz bietet eine uberlegene Erklarung fur die Entstehung Entwicklung und Handhabung von Informationen Der Prozessansatz bietet einen effektiveren Rahmen fur Verstandnis des Vorgehens und der Ergebnisse rationaler Forschung Prozesstheologie vermeidet eine Reihe von Widerspruchen die mit der Vorstellung von Gott als Substanz entstehen Mit dem Prozessansatz ergibt sich ein leichterer Zugang zur Philosophie und zum Philosophieren Weblinks BearbeitenJ R Hustwit Process Philosophy In J Fieser B Dowden Hrsg Internet Encyclopedia of Philosophy Nicholas Rescher Process Philosophy In Edward N Zalta Hrsg Stanford Encyclopedia of Philosophy Archiv Johanna Seibt Process Philosophy In Edward N Zalta Hrsg Stanford Encyclopedia of Philosophy Einzelnachweise Bearbeiten Francesca di Poppa Spinoza and Process Ontology Southern Journal of Philosophy Band 48 3 Ausg 2010 DOI 10 1111 j 2041 6962 2010 00031 x Friedrich Schlegel Philosophische Lehrjahre III 1796 1806 Kritische Ausgabe 1958ff Band XVIII 148 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Ideen zu einer Philosophie der Natur 2 Aufl 1803 Sammtliche Werke hrsg von K F A Schelling Band I 2 41 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Allgemeine Deduction des dynamischen Prozesses oder der Categorien der Physik in Zeitschrift fur spekulative Physik I 1800 100 142 hier 101 Neuausgabe Meiner Hamburg 2002 Zur Kritik der Politischen Okonomie 1858 59 in Karl Marx Friedrich Engels Werke Karl Dietz Verlag Berlin Band 13 7 Auflage 1971 unveranderter Nachdruck der 1 Auflage 1961 Berlin DDR 8 9 Karl Marx Das Kapital Dietz Verlag Berlin 1972 Bd 1 S 192 Friedrich Nietzsche Unzeitgemasse Betrachtungen II Vom Nutzen und Nachteil der Historie fur das Leben KSA 1 309 Friedrich Nietzsche Nachgelassene Fragment Herbst 1885 Herbst 1886 KSA 12 2 148 2 151 online Friedrich Nietzsche Nachgelassene Fragment Herbst 1885 KSA 11 43 2 Alfred North Whitehead Process and Reality An Essay in Cosmology Macmillan New York 1929 korrigierte Ausgabe hrsg von David Ray Griffin und Donald W Sherburne The Free Press New York 1979 dt Prozess und Realitat Entwurf einer Kosmologie Suhrkamp Frankfurt 1987 ISBN 9783518282908 Siehe Seibt Johanna 2013 Process Philosophy The Stanford Encyclopedia of Philosophy Fall 2013 Edition Edward N Zalta ed Murarca Barbara 2013 Prozessphilosophie Version 1 0 In Naturphilosophische Grundbegriffe Nicholas Rescher Process Philosophical Deliberations ontos Heusenstamm 2006 2 ISBN 978 3 938793 37 4 Nicholas Rescher Process metaphysics an introduction to process philosophy SUNY Press 1996 173 ISBN 978 0 7914 2817 7 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Prozessphilosophie amp oldid 227280296