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Offene Form ist ein Begriff mit dem in erster Linie Kunstwerke aus dem Bereich der Literatur Bildenden Kunst und Musik bezeichnet werden deren formale Konzeption sich von herkommlichen Vorstellungen einer geschlossenen Form entfernt und losgesagt hat Im Bereich der musikalischen Komposition sind damit Werke mit veranderlicher ausserer Gestalt gemeint 1 Das sind Kompositionen deren Elemente bzw Formteile in ihrer Abfolge austauschbar sind und wo die interpretatorische Beliebigkeit an die Stelle eines linearen und zielgerichteten Verlaufs getreten ist Fur die kunstgeschichtliche Betrachtungsweise ist vor allem ein Standardwerk Heinrich Wolfflins zu nennen in dem der Begriff zur Analyse der Stilentwicklung der neueren Kunst eingefuhrt wird 2 wahrend in der Literaturwissenschaft Volker Klotz das Gegensatzpaar von offener und geschlossener Form zur Interpretation von Dramen aus verschiedenen Epochen eingefuhrt hat 1960 3 Richtungweisend fur die weitere Verbreitung und begriffliche Klarung war nicht zuletzt der italienische Philosoph und Schriftsteller Umberto Eco der in seiner Schrift Opera aperta 4 den Gedanken interpretativer Pluralitat als Phanomen von Kunstwerken beschrieb An der Dichtung u a von James Joyce exemplifizierte Eco einen Gedanken der im ubertragenen Sinn gerade fur das Auffuhren und Horen von Musik von zentraler Bedeutung ist Jeder Rezipient tragt seinen eigenen Anteil zur Sinnhaftigkeit eines literarischen Textes bei indem er diesen nicht als Gegebenheit hinnimmt und gewissermassen passiv zu verstehen versucht sondern ihm durch seine personliche Interpretation den jeweils speziellen Sinn erst verleiht Inhaltsverzeichnis 1 Merkmale 2 Zur Geschichte 2 1 Vorgeschichte 2 2 Nach 1945 3 Literatur 4 Siehe auch 5 EinzelnachweiseMerkmale BearbeitenAuf dem Sektor der Musik war es Konrad Boehmer der die Diskussion um den Begriff der offenen Form angestossen und anhand von Schlusselwerken der Musik des 20 Jahrhunderts diskutiert hat Er kam allerdings zu dem Schluss dass der Sammelbegriff Offene Form unter welchem sich Mobilitat Variabilitat Mehrdeutigkeit und weitere voneinander recht verschiedene Prinzipien vereinigen Form nur vortauscht 5 Anders jedoch als bei improvisierter Musik wo das klangliche Ergebnis aus mehr oder weniger zufallig ablaufenden Ereignissen besteht wird in den Werken der Offenen Form ein gewisser Rahmen fur eine Vielzahl moglicher Ablaufe abgesteckt so dass sich wie bei einem Mobile von Alexander Calder scheinbar unendlich viele unterschiedliche Erscheinungsbilder ein und desselben Ausgangsmaterials ergeben Die Identitat des jeweiligen Werks besteht nicht in seinem jeweils einzelnen Klangverlauf sondern in der Gesamtkonzeption aller verschiedenen Moglichkeiten Da hierbei der Zufall eine grosse Rolle spielt kommt es zu begrifflicher und inhaltlicher Nahe zur sogenannten aleatorischen Musik Bei der Auffuhrung solcher Kompositionen sind dem Interpreten vollkommen neue und bis dahin unbekannte Kompetenzen zuerkannt worden Wahrend der Interpret im klassischen Sinne sich wie ein Dienstwalter am Kunstwerk verhalten und um eine moglichst partiturgetreue Darstellung bemuht hat ist er nunmehr vom Komponisten autorisiert in die Form und Spieldauer eines Werks einzugreifen und weitreichende Entscheidungen zu treffen wie das Werk im jeweiligen Moment zu klingen habe Es scheint kein Zufall zu sein dass derartige Gestaltungsprinzipien in den Kunsten zu einem Zeitpunkt in Mode kamen als sich mit der 68er Bewegung ein modernes und weniger starres Gesellschaftskonzept herauszubilden begann So kann man das neuartige Rollenverstandnis des Interpreten im sozialpolitischen Sinne durchaus im Zusammenhang mit dem Leitbild einer anti autoritaren und Offenen Gesellschaft sehen wie es von Karl Popper 6 entwickelt wurde Zur Geschichte BearbeitenVorgeschichte Bearbeiten Beispiele einer Musik deren Formverlauf in dem oben genannten Sinn als offen bezeichnet werden kann gibt es im Abendland seit dem spaten Mittelalter 7 Hierbei handelt es sich zunachst nur um Grossformen deren Einzelteile von den Ausfuhrenden je nach Anlass und Gelegenheit nach eigenem Ermessen zusammengestellt werden Beispiele hierfur finden sich in der Praxis von Spielleuten mehrere Tanzsatze zu Suiten zusammenzustellen wobei im Ubrigen auch die Improvisation eine grosse Rolle spielt Auch im Sakralbereich gibt es hinlanglich Beispiele fur eine freiheitliche und lediglich durch den liturgischen Kontext geregelte Zusammenstellung von kleineren in sich abgeschlossenen Musikstucken Offen im engeren Sinn wurde die Form nach Bohmers Einschatzung erst mit der Missa Prolationum des Reinassance Meisters Johannes Ockeghem Die in diesem Werk experimentell auskomponierte Mehrdeutigkeit ist Ausdruck erstmaligen umfassenden Eingriffs kompositorischer Idee in die Struktur des Materials 8 In dem Zusammenhang ist anzumerken dass die Vorstellung einer musikalischen Komposition als originares und von einem namentlich genannten Komponisten geschaffenes Kunstwerk ohnehin erst spat in der abendlandischen Geschichte festzumachen ist und an das dort aufgekommene Selbstverstandnis des Kunstlers gebunden ist In diesem zuletzt genannten Sinne ist auch die Vorstellung vom Kunstwerk zur Voraussetzung der musikalischen Klassik geworden Das hatte eine Normierung und lehrbuchartige Kanonisierung der musikalischen Formen zur Folge die fortan als feste Formen angesehen wurden Hierfur ist die Sonatensatzform das wohl beste Beispiel Eine solche Erstarrung im Formdenken fuhrte dazu dass spielerisch veranlagte Geister wie beispielsweise Wolfgang Amadeus Mozart so etwas wie eine Anleitung zum Componieren von Walzern vermittels zweier Wurfel erfinden konnten Nach 1945 Bearbeiten Mitte des 20 Jahrhunderts kam es zu einer bemerkenswerten Entwicklung was die Offnung von festen Formen und deren Befreiung aus normativen Zwangen betrifft Die hierzulande bekanntesten Protagonisten waren Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez Der hohe Bekanntheitsgrad ihrer als Offene Form deklarierten Kompositionen s u geht zum einen auf die Darmstadter Ferienkurse zuruck wo Beide ihre neuartigen Formmodelle prasentierten und diskutierten 1957 1958 zum anderen ist er aber wohl auch die Folge einer am Fortschrittsdenken und an Kontinuitat orientierten Musikgeschichtsschreibung welche die offene Form als eine konsequente Weiterentwicklung der seriellen Musik interpretiert Phanomenologisch ist hingegen festzustellen dass schon 1935 der amerikanische Komponist Henry Cowell geleitet von Vorstellungen einer elastic form 9 in seinem 3 Streichquartett Mosaic den Interpreten die Reihenfolge der Satze dem Belieben anheimgestellt hatte und dass auch der amerikanische Komponist Morton Feldman 1953 mit Intermission 6 fur ein oder zwei Klaviere ein Werk geschaffen hatte bei dem 15 Fragmente auf einem einzelnen Notenblatt verteilt sind mit der Massgabe diese nach Belieben anzuordnen Die Komposition beginnt mit irgendeinem Klang und geht mit irgendeinem anderen weiter 10 In zeitlicher Nahe hierzu experimentierten weitere Komponisten der USA mit der offenen Form wobei trotz grundverschiedener gedanklicher Ausgangslage durchaus vergleichbare Ergebnisse erzielt wurden So beabsichtigte John Cage seine personliche Rolle als Urheber einer Komposition in den Hintergrund treten zu lassen und die Autonomie des Interpreten zu starken Ausgehend von Werken wie Music of Changes 1951 und 4 33 1952 entwickelte er Partituren bei denen der Interpret wie ein Co Komponist viele wichtige Entscheidungen hinsichtlich der klanglichen Realisierung zu treffen hat Bereits die Klavierstimme des Concert for Piano and Orchestra 1957 58 weist in diese Richtung Die Partitur des ganzen Werks besteht aus 63 Einzelblattern von denen jede Auswahl in beliebiger Kombination gespielt werden kann auch was die Anzahl und Typen der Orchester Instrumente betrifft Noch grosser ist der schopferische Eigenanteil des der Interpreten in der graphischen Partitur von Fontana Mix 1958 die aus zehn Seiten mit jeweils sechs unterschiedlich geschwungenen Linien und zehn durchsichtigen Folien mit frei angeordneten Punkten besteht Von diesem Werk fuhrt ein direkter Weg zu den Variations I 1958 von John Cage Wie gross der Einfluss des von Alexander Calder entwickelten Prinzips der Mobiles auf die Herausbildung offener Formablaufe in der Musik war geht bei keinem anderen Komponisten deutlicher hervor als bei Earle Brown 1953 entstanden unterliegen seine Twenty Five Pages fur ein bis 25 Klaviere einer Offenheit in der Form fur die Brown den Begriff der mobile compositions einfuhrte Die Reihenfolge der einzelnen Seiten dieses Werks bleibt dem den Interpreten ebenso uberlassen wie die Entscheidung in welcher Leserichtung das Blatt auf dem Instrument steht Fur jede Notenzeile sind bei freier Wahl des Tempos eine maximale sowie eine minimale Auffuhrungsdauer vorgegeben Ich glaube nicht an eine endgultig beste Form Ich indessen ziehe es vor das Werk und seine formale Zukunft auf die direkten und spontanen Reaktionen zu grunden die den Dirigenten in Beziehung auf das komponierte Grundmaterial einfallen sagt Brown im Hinblick auf die Available Forms II fur Grosses Orchester 1962 11 Nach einer Reihe weiterer ahnlich angelegter Kompositionen schrieb Brown in enger Zusammenarbeit mit Calder das Calder Piece fur vier Schlagzeuger deren Aktionen statt von einem Dirigenten von einem speziell fur diesen Zweck geschaffenen Mobile gesteuert wurden 1966 Mitte der 1950er Jahre hatte auch Karlheinz Stockhausen damit begonnen die bis dahin gultigen Vorstellungen von musikalischer Form aufzubrechen und an die Stelle der Zielgerichtetheit klassisch romantischer Formtypen bei denen ich weiss dass ich von A nach B komme 12 einen Typus zu setzen versucht den er in Abgrenzung gegenuber der in den USA mittlerweile zum festen Begriff gewordenen Bezeichnung open form als variable Form bezeichnete Zeitgleich prasentierte auch Pierre Boulez Stucke bei denen das klangliche Ausgangsmaterial eine quasi unendliche Zahl moglicher Ausformungen zulasst So bot er in seiner Dritten Klaviersonate 1955 57 dem Interpreten eine grossere Zahl kurzerer Abschnitte an bei deren Verknupfung der Spieler gewisse Spielregeln einzuhalten hat In der bisher umfassendsten Darstellung des kompositorischen Sachverhalts dieses Schlusselwerks weist Manfred Stahnke allerdings auf die Probleme der analytischen Durchdringung der Partikel in ihrem grossformalen Zusammenhang hin 13 1956 entstand Stockhausens Klavierstuck XI das aus einem einzigen Notenblatt besteht auf dem sich 19 Gruppen befinden die vom Pianisten in einer vom Augen Blick abhangigen Weise miteinander zu verknupfen sind 14 Sowohl bei Boulez als auch bei Stockhausen handelt es sich um Formkonzeptionen die man mit einem Stadtplan vergleichen kann auf dem alle Wege grafisch genau erkennbar sind wo indessen die jeweiligen Ausgangs und Zielpunkte und vor allem die Wahl der Wege vom Benutzer selbst festgelegt werden Deutlich hoher entwickelt hinsichtlich einer Kongruenz des zu spielenden Tonmaterials und dessen formaler Ausbreitung ist dann Stockhausens Zyklus fur einen Schlagzeuger aus dem Jahr 1959 Hierbei handelt es sich um 16 beschriebene Blatter die seitlich an einer Spirale befestigt sind Wie in dem wohl beruhmtesten Beispiel aus der Literatur dem Livre von Stephane Mallarme gibt es weder einen Anfang noch ein Ende Der Spieler kann mit an einer beliebigen Stelle auf irgendeiner Seite beginnen spielt dann allerdings in der gegebenen Reihenfolge den ganzen Zyklus Dabei kann er das Buch durchaus auch auf den Kopf stellen und das Notenmaterial gewissermassen spiegelbildlich lesen Und die dem Interpreten eingeraumten Freiheiten gehen noch weiter indem es auf jeder Seite mehrere Strange gibt wo der Schlagzeuger sich fur die eine oder andere Losung zu entscheiden hat Das Paradoxe an dieser Komposition ist dass die grosstmogliche Unbestimmtheit des jeweils Erklingenden eingebunden ist in eine grosstmogliche Geschlossenheit der Form Die Auffuhrung endet namlich in dem Moment wo der Spieler alle Seiten gespielt hat und an seinem Ausgangspunkt wieder angekommen ist Die wenige Wochen nach der Urauffuhrung in New York April 1957 erfolgte Auffuhrung von Stockhausens Klavierstuck XI im Rahmen der Darmstadter Ferienkurse sowie die Urauffuhrung eines Kernsatzes aus der 3 Klaviersonate von Boulez Darmstadt 1958 machten rasch die Runde und wirkten in ihrer plakativen Lizenz zur jeweils beliebigen Anordnung von ansonsten festgefugten Formteilen wie ein Startsignal fur weitere Komponisten So fuhlte sich der polnische Komponist Roman Haubenstock Ramati zu einer als Mobile for Shekespeare fur Stimme und sechs Instrumentalisten 1960 bezeichneten Partitur inspiriert Dem war auch ahnlich wie bei Brown das Erleben der Kunstwerke Alexander Calders vorangegangen wobei festzuhalten ist dass Haubenstock Ramati grundsatzlich eine grosse Affinitat zur visuellen Kunst hat und seine musikalischen Klangvorstellungen nicht selten in Form von musikalischen Grafiken zu Papier gebracht hat Von ihm ist der Ausspruch uberliefert Am schonsten sind die Ratsel die verschiedene Losungen zulassen 15 Auffuhrungen von Werken wie Jeux II Mobile fur zwei Schlagzeuger 1966 oder Miroirs Mobile fur 16 Pianisten 1984 91 sind in erster Linie improvisierte Aktionen der Interpreten Nach Aussage des Komponisten stellen seine Miroirs die ausserste Grenze eines Mobile dar beinhalten potentiell alle moglichen Varianten alle Ver und Zerspiegelungen des gegebenen Materials das auf diese Weise zu einer neuen Form wird die zur gleichen Zeit geschlossen und offen ist zu einer neuen Form der Musik die ich als Prinzip der dynamisch geschlossenen Form verstanden und bezeichnet habe 16 nbsp Klaus Hinrich Stahmer Mobile Aktionen Ausschnitt Die formal in diesem Sinne organisierten Musikstucke lassen lassen sich auch als Labyrinthe interpretieren So sehen sich ahnlich wie in einem Irrgarten Dirigent und Musiker bei der Auffuhrung der Mobilen Aktionen fur Streichorchester 1974 17 von Klaus Hinrich Stahmer immer wieder vor Entscheidungen gestellt welchen Abschnitt sie als nachsten spielen wollen Die meisten Seiten lassen sich untereinander problemlos verbinden So steht beispielsweise am Ende der Seite 9 s Abb durch das Symbol des offenen d h zahlenlosen Quadrats den Spielern der Weg zu jeder beliebigen anderen Seite offen Andere Verbindungshinweise wie z B die Ziffer 6 am linken Bildrand sind hingegen verbindlich und fuhren sofern sich die Spieler fur einen Wechsel an dieser Stelle entscheiden zu determinierten Werkabschnitten Im ubrigen sind auch Irrwege eingebaut die dadurch entstehen dass sie an Punkte fuhren wo ausschliesslich eine Ruckkehr zu dem gerade verlassenen Wechselpunkt moglich ist So kann es bei einer Auffuhrung durchaus passieren dass nicht alle Abschnitte erklingen denn es gibt weder einen festgelegten Ausgangspunkt noch ein eindeutiges Ziel Nach den Gesetzmassigkeiten der Stochastik erweist sich indessen dass es sich trotz aller Zufalligkeit des jeweils erklingenden Formorganismus um eine nicht unbegrenzte Anzahl moglicher Konstellationen handelt Hinsichtlich der Unbestimmtheit der klanglichen Ereignisse und der Freiheiten die dem bzw den Interpreten bei der Realisation von solchen Kompositionen seitens des Komponisten eingeraumt und zugestanden werden gibt es Parallelen zu grafisch notierten Musikstucken Solche nach Kriterien der visuellen Kunst gestalteten musikalischen Grafiken verlangen vom Spieler ein hohes Mass an Vorstellungskraft und kunstlerischer Eigenverantwortung bei der Umsetzung der bildhaften Gestalten wobei die Grenzen zu Musikstucken mit offener Form fliessend sind Nicht von ungefahr stammen die ersten Versuche einer musikalischen Grafik von dem bereits erwahnten Earle Brown dessen Blatter November 52 und December 52 zu den beruhmtesten Beispielen dieses Genres gehoren Nicht weniger originell was die grafischen Qualitaten betrifft sind die Sette Fogli 1959 des Italieners Sylvano Bussotti Dass das Verfahren die Geschlossenheit musikalischer Formen aufzusprengen auch eine gesellschaftskritische Komponente hat wird besonders eindrucklich erkennbar an einem Formexperiment des Komponisten Mauricio Kagel Dieser demontiert in seinem rund 100 Minuten dauernden Werk Staatstheater 1971 einen Opernabend auf samtlichen Ebenen und offeriert stattdessen einen neunteiligen Katalog isolierter oder rudimentar verknupfter Opern Elemente die kaum von eingrenzenden Direktiven begleitet ausgewahlt kombiniert und gereiht werden durfen 18 Kagels kompositorisches Denken erscheint hier als vom tradierten Partiturbegriff losgelost 19 Kagel komponiert mit zunachst isolierten dann aleatorisch auf neue Weise wieder zusammengefugten Versatzstucken der Operngeschichte und ist dabei in der Umfunktionierung des Traditionellen an die Grenzen dessen gegangen was sich in traditionsgebundenen musikalischen Institutionen noch realisieren lasst 20 Indem samtliche Theaterelemente einschliesslich des Rezeptionsverhalten der Opernbesucher zur Disposition gestellt werden erlebt das Opernpublikum etwas vollig Neuartiges Das Prinzip offener Formen wird in diesem wohl revolutionarsten Werk der Operngeschichte des 20 Jahrhunderts aus seinem innermusikalischen Zusammenhang herausgeholt und vom Opernbesucher als sozialkritisches Moment einer Enthierarchisierung erfahren Wie oben dargestellt gab es zwei Zentren in denen mit einer in offener Form komponierten Musik experimentiert wurde New York Cowell Cage Feldman Brown und Darmstadt Stockhausen Boulez Die Werke der amerikanischen Komponisten trafen in Deutschland auf offene Ohren Hierbei lasst sich beobachten dass die Euphorie mit der die Befreiung vom Kanon altbewahrter Formen begrusst wurde Spuren eines Aufbruchswillen und Neuanfangs tragt In die Diskussion die vor allem in Darmstadt gefuhrt wurde mischten sich indessen nicht nur aus dem Lager der Reaktionare kritische Stimmen So wies der grundsatzlich fur alle Neuerungen der zeitgenossischen Musik aufgeschlossene Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus darauf hin dass ein Konzertbesucher die Offenheit der musikalischen Form horend uberhaupt nicht erfassen und nachvollziehen konne Anders als beim erlebenden Betrachten eines der Mobiles von Calder werde in der Musik namlich die auf dem Papier variable Form bei der Auffuhrung zu einem fixierten Ablauf infolgedessen die Variabilitat asthetisch eine Fiktion sei 21 Einige Jahre spater wurde er noch deutlicher und behauptete dass die Hinwendung zu offenen Formen nichts anderes als eine Verlegenheit sei die der Formbegriff den Theoretikern der neuesten Musik bereitet eine Verlegenheit die der Ausdruck offene Form eher verrat als beschwichtigt 22 Als abschliessendes Resume ist seine Argumentation zu interpretieren wonach das Komponieren unter dem Stichwort offene Form oder work in progress zu einem Prozess geworden sei in dem es weniger auf isolierbare Resultate in der Gestalt abgeschlossener Werke als auf Konzeptionen ankam und das Interesse welches solche Musikstucke gefunden hatten sei darauf zuruckzufuhren dass sie lediglich durch ungeloste Schwierigkeiten einen Fortgang des musikalischen Denkens provoziert als die Schwierigkeiten wirklich gelost hatten 23 Generell lasst sich beobachten dass das Interesse der Komponisten an offenen Formen seit den 1980er Jahren merklich nachgelassen hat was darauf schliessen lasst dass es sich wohl doch eher um experimentelle Gestaltungsansatze und Prototypen als um die Erfindung eines unbegrenzt reproduzierbaren Modells gehandelt hat Literatur BearbeitenChristoph von Blumroder Offene Form In Handworterbuch der musikalischen Terminologie Loseblattausgabe 12 Auslieferung Steiner Stuttgart 1984 85 Nachdruck auch in Hans Heinrich Eggebrecht Hrsg Terminologie der Musik des 20 Jahrhunderts Handworterbuch der musikalischen Terminologie Sonderband I Steiner Stuttgart 1995 Konrad Boehmer Zur Theorie der offenen Form in der Neuen Musik Tonos Darmstadt 1967 Clemens Kuhn Form In Die Musik in Geschichte und Gegenwart Sachteil Band 3 dort insbesondere Kap VII Auflosung und Restauration Barenreiter Metzler Kassel u a 1995 ISBN 3 7618 1100 4 S 607 643 Siehe auch BearbeitenGeschlossene und offene Form im Drama Informelle Kunst Aleatorik Improvisation Musik Musikgrafik Notation Musik Graphische NotationEinzelnachweise Bearbeiten Blumroder 1984 85 Heinrich Wolfflin Kunstgeschichtliche Grundbegriffe Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst Bruckmann Munchen 1915 DNB 364051590 2 Auflage 1917 online Volker Klotz Geschlossene und offene Form im Drama Hanser Munchen 1960 14 Auflage 1999 ISBN 3 446 12027 0 Umberto Eco Opera aperta Bompiani Mailand 1962 deutsch Das offene Kunstwerk ubs von Gunter Memmert Suhrkamp Frankfurt 1973 Boehmer 1967 S 5 Karl R Popper Die offene Gesellschaft und ihre Feinde The Open Society and Its Enemies Teil 1 The Spell of Plato Routledge London 1945 deutsch Der Zauber Platons Francke Verlag Munchen 1957 Boehmer 1967 S 9 ff Boehmer 1967 S 22 Nicole V Gagne Historical Dictionary of Modern and Contemporary Classical Music Scarecrow Washington DC 2011 S 85 Hans Emons Komplizenschaften zur Beziehung zwischen Musik und Kunst in der amerikanischen Moderne In Kunst Musik und Theaterwissenschaft Band 2 Frank amp Timme Berlin 2006 ISBN 3 86596 106 1 S 87 Earle Brown Vorwort der Partitur Available Forms II zitiert nach Hans Vogt Neue Musik seit 1945 Reclam Stuttgart 1972 S 300 Karlheinz Stockhausen Texte zur Musik 1970 1977 Band IV DuMont Koln 1978 S 578 Manfred Stahnke Struktur und Asthetik bei Boulez Wagner Hamburg 1979 2 durchgesehene Auflage Books on Demand Norderstedt 2017 Karlheinz Stockhausen Texte zu eigenen Werken zur Kunst Anderer Aktuelles Band II Koln 1964 S 69 Zit nach einem Nachruf auf Haubenstock Ramati von Josef Herbort in Die Zeit 11 1994 Roman Haubenstock Ramati in Vorwort zur Partitur Miroirs Universal Edition Wien o J Klaus Hinrich Stahmer Mobile Aktionen Verlag Neue Musik Berlin 2017 ISBN 978 3 7333 1927 4 Erik Fischer Zur Problematik der Opernstruktur Das kunstlerische System und seine Krisis im 20 Jahrhundert Archiv fur Musikwissenschaft Band XX Steiner Wiesbaden 1982 S 178 Thomas Kuchlbauer Komponieren mit Schauspielern Tassen Tischen Omnibussen und Oboen Mauricio Kagels materialubergreifende und entgrenzende Kompositionsverfahren in Staatstheater In SYN Magazin fur Theater Film und Medienwissenschaft 12 2016 S 42 Rudolf Frisius Horen und Sehen Sichtbare Musik Diesseits und jenseits der Oper Horen und Sehen als unbewaltigte Konfliktsituation gesehen am 3 November 2017 Carl Dahlhaus in Form in der Neuen Musik Darmstadter Beitrage zur Neuen Musik Band X Mainz 1966 S 74 Carl Dahlhaus Uber offene und latente Traditionen in der neuesten Musik In Die neue Musik und die Tradition Veroffentlichungen des Instituts fur Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt Band XIX Mainz 1978 S 17 Carl Dahlhaus Die Krise des Experiments In Komponieren heute Veroffentlichungen des Instituts fur Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt Band XXIII Mainz 1983 S 83 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Offene Form Musik amp oldid 233691846