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Mit Musikgrafik auch Musikalische Grafik wird eine fur die klangliche Realisation bestimmte Partitur bezeichnet bei welcher die Angaben fur den die Interpreten nicht in herkommlicher Notation sondern in Form eines Zeichensystems gegeben werden welches entweder funktional d h im Sinne der grafischen Notation auf den Handlungsverlauf bezogen sein kann oder als freie Grafik nach Regeln der Bildenden Kunst gestaltet ist Unklarheiten hinsichtlich der Verwendung des Begriffs musikalische Grafik konnen auftreten wenn damit auch Bilder und Collagen aus dem Bereich von Grafik und Malerei bezeichnet werden wo einzelne musikalische Zeichen oder ganze Partitur Ausschnitte collagenhaft in das Gesamtbild einbezogen sind Entscheidend ist dass eine Musikgrafik von ihrem Urheber fur die Auffuhrung bestimmt ist und in klangliche Gestaltung umgesetzt werden soll Abzugrenzen sind Musikgrafiken auch von Musik Nachzeichnungen die gelegentlich recht genaue Bildwiedergaben von zuvor gehorten akustischen Ereignissen liefern und die auch von Computern durchgefuhrt und dokumentiert werden konnen Das beruhmteste Beispiel hierfur ist die im Jahr 1970 von Rainer Wehinger erarbeitete Horpartitur zu Gyorgy Ligetis elektronischer Komposition Artikulation 1 Mischformen und Ubergange zwischen den beiden Richtungen sind moglich und machen die Bandbreite moglicher kunstlerischer Ansatze und Losungen aus So sind die Zeichen nur mehr oder weniger eindeutig festgelegt d h die prazise Notation und Exaktheit der Zeichen ist zugunsten einer erweiterten Interpretationsfreiheit aufgegeben Dabei spielt Improvisation eine grosse Rolle Je beliebiger und freier die Musikzeichen werden desto wichtiger wird die assoziative Komponente und umso grosser werden die Freiraume die dem Interpreten bei der Realisierung der Grafik eingeraumt werden Die visuelle Komponente kann so weit gehen dass Gestaltung der Grafik und Anordnung der Zeichen vollkommene Selbstandigkeit erlangt und die musikalisch akustische Funktion zugunsten der optisch visuellen mehr oder weniger im Extremfall sogar ganz zurucktritt In ihrer musikalischen Unverbindlichkeit konnen solche Grafiken den Rang von Werken der Bildenden Kunst beanspruchen die in gewissen Grenzen beliebig und immer wieder neu interpretiert werden Im Sinne der Grenzgangerei entwickelte Dieter Schnebel eine Zwischenform bei der die von ihm als Visuelle Musik bezeichneten Blatter im Betrachter akustische Assoziationen auslosen ohne dass tatsachlich ein Ton erklingt Das Aufgezeichnete braucht nicht mehr zu erklingen es lebt bereits in der Imagination des Betrachters Horbilder Hortexte Die Dauer sowie die instrumentale Besetzung solcher grafisch notierter Werke ist in der Regel variabel Positiv ist zu verzeichnen dass sich normativ immer mehr typische Zeichenmuster durchsetzten Einen grossen Anteil daran hatte die Verbreitung von Erhard Karkoschkas Lexikon Das Schriftbild der Neuen Musik 2 Indem verschiedene Beispiele aus der musikgrafischen Praxis erlautert werden lasst Karkoschka eine Art Basiskatalog moglicher Chiffren entstehen der inzwischen auch weite Verbreitung gefunden hat So bedeuten um nur einige Zeichen zu nennen schwarze Farben durchweg grosse Lautstarken im Gegensatz zu Weiss Verdichtungen bedeuten ein Schnellerwerden bzw eine grossere Impulsdichte Kreise und Punkte sind als punktuelle Aktionen Einzeltone auszufuhren wahrend Linien und Bander als Melodien umzusetzen sind Rechtecke definieren Klang Flachen An der Verbreitung einer solchen musikalischen Zeichensprache war massgeblich auch der polnische Komponist Krzysztof Penderecki beteiligt der fur Partituren wie Anaklasis und Fluorescences 1961 62 in derartigen Notations Chiffren eine adaquate Darstellungsform fur seine vom Sonorismus gepragten Klangvorstellungen gefunden hatte Musikalisch war die Musikgrafik der 60er und 70er Jahre ein Hauptzweig der kunstlerischen Aleatorik und eine Gegenreaktion auf den seriellen Konstruktivismus der funfziger Jahre Dessen Material Strukturierung beschrankte sich namlich vorrangig auf Kunstgriffe in betont mathematisch abstrakter Weise und eine wesentliche Aufgabe des Zuhorers war es bei dieser Art musikalischer Gestaltung die Kunstfertigkeit der konstruktiven Werkgestaltung im Lesen und Horen intellektuell nachzuvollziehen Zu kurz kam haufig dabei das emotionale Mit und Nacherleben der Aussage eines Menschen welcher sich in der Gesamtheit seiner Existenz nicht nur mit Zahlen und abstrakten Formproblemen auseinandersetzen will So kamen mit der Musikgrafik dank der improvisatorischen Elemente wieder Spontaneitat und Ausdruckswille des Interpreten zur Geltung die zwar gemessen an dem traditionellen Horverstandnis immer noch abstrakt und subjektiv vermittelt vom Publikum aber dennoch leichter nachzuvollziehen waren Geschichte BearbeitenNeue Notationsformen sind ohne dass es sich hier bereits um Musikgrafiken handeln konnte schon vor dem Ersten Weltkrieg entstanden So forderte die Farborgel die Alexander Nikolajewitsch Skrjabin 1911 in seiner 5 Sinfonie Promethee Poeme du feu einsetzte den Komponisten zur Erfindung passender Spielanweisungen geradezu heraus 1916 notierte der italienische Futurist Luigi Russolo in Risvelgio di una citta mit Hilfe von gezackten und schrag verlaufenden Linien innerhalb des herkommlichen Funfliniensystems den Einsatz der von ihm erfundenen sogenannten Intonarumori einer Serie ungewohnlicher Klangerzeuger Neue Klangerzeuger wie z B Theremin und Ondes Martenot liessen sich ebenso wenig mit der klassischen Notenschrift notieren Andere Ansatze fur das Aufbrechen der herkommlichen Schreibweise sind bei Marcel Duchamp zu finden der im Sinne grosserer Unbestimmtheit in seinem Erratum musical von 1913 Notenkopfe ohne Hals d h ohne rhythmische Determination uber seinen Text gesetzt hat und damit der nachschopferischen Willkur gewissermassen Tor und Tur geoffnet hat Die Wurzeln einer im engeren Sinn als Musikgrafik zu bezeichnenden Notationsform liegen in New York Erstmals verwendete sie der amerikanische Komponist Morton Feldman dessen Projections 1951 vollstandig auf herkommliche Notierung verzichten Der Zeitverlauf einer Komposition wird durch die raumliche Anordnung von Kastchen definiert wobei der Kastcheninhalt lediglich aus Hinweisen zur Instrumentation zum jeweils auszuwahlenden Register zur Anzahl sowie Dauer von Klangereignissen besteht 3 Die Musikgrafik fand rasche Verbreitung in der Kunstlergruppe um John Cage zu der neben Feldman auch Earle Brown gehorte Dessen Blatter November 1952 und Dezember 1952 aus der Mappe Folio 1952 galten lange Zeit als die fruhesten Beispiele fur Musikgrafik Nicht weniger beruhmt sind in ihrer Unverwechselbarkeit der Zeichensprache die Blatter von John Cage vor allem Variations I 1958 die als Gegenposition zur seriellen Musik zu verstehen sind In Europa machte vor allem der Osterreicher Roman Haubenstock Ramati die Musikgrafik bekannt Historisch scheint indessen die Musikgrafik seit dem Ende der 80er Jahre ein abgeschlossenes Phanomen zu sein Eine Endstufe markieren solche Formen der Visuellen Musik die im Sinne der musikalischen Concept Art eine Musik erfinden welche nicht mehr aufgefuhrt werden kann um so die Materialisierung der Idee auszuschliessen Auch meldeten sich Musiker wie Mauricio Kagel oder Sylvano Bussotti zu Wort die das Erreichte wieder ironisch in Frage stellten wenn sie an bestimmten Stellen der Partitur bildnerische oder sprachliche Elemente zersetzend einbauten Fur die Befreiung der Musik aus ihren konstruktiven Zwangen war die Musikgrafik jedoch wichtig und damit richtungweisend bei der Entwicklung einer Musik die wieder mehr auf den Horer zugeht Und nicht nur auf den Horer wie etliche Ausstellungen beweisen wo Musiker ihre Werke in Galerien oder Kunsthausern prasentierten So geschehen erstmals im Oktober 1980 im Stuttgarter Kunsthaus Schaller Erhard Karkoschka und Reinhold Urmetzer zeigten in Zusammenarbeit mit dem Amerika Haus und dem Kulturamt der Stadt Stuttgart Werke von Earle Brown Roman Haubenstock Ramati John Cage Anestis Logothetis Erhard Karkoschka Reinhold Urmetzer Klaus Fessmann u a die auch in Konzertveranstaltungen in Musik umgesetzt wurden Ahnlich umfassend und von Konzerten begleitet war auch die von Klaus Hinrich Stahmer kuratierte Ausstellung Musikalische Grafik die 1983 in der Stadtischen Galerie Wurzburg und im Karmeliterkloster Frankfurt neben den bereits genannten Grafiken auch Blatter von Leon Schidlowsky Cornelius Cardew Klaus Hinrich Stahmer und Boguslaw Schaeffer prasentierte Eine Zuordnung von Musikgrafik zum Gesamtphanomen polyasthetischer Kunstwerke erfolgte in der von Karin von Maur initiierten Ausstellung Vom Klang der Bilder Stuttgart 1985 deren Katalog einen umfassenden Grundsatzartikel von Peter Frank enthalt 4 Einzelnachweise Bearbeiten Veroffentlicht im Verlag B Schott s Sohne Mainz ED 6378 10 Erhard Karkoschka Das Schriftbild der Neuen Musik Moeck Celle 1966 DNB 457137940 Paul Griffiths Modern Music and After Oxford University Press 1995 ISBN 0 19 974050 X Peter Frank Zwischen Bild und Partitur Visuelle Partituren In Vom Klang der Bilder Katalog der gleichnamigen Ausstellung Prestel Munchen 1985 ISBN 3 7913 0727 4 S 444 ff Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Musikgrafik amp oldid 237116373