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Kognitive Poetik cognitive poetics ist die Sammelbezeichnung fur zeitgenossische kognitiv empirische Forschungsansatze in der Literaturtheorie bzw Literaturwissenschaft in denen die Untersuchung der Wirkung narrativer und sprachlich stilistischer Kunstmittel auf den Leser im Vordergrund steht 1 Die Kognitive Poetik versucht Literaturrezeption aufgrund allgemeiner Prozesse der menschlichen Informationsverarbeitung d h Kognition verstehbar zu machen Der Name des Forschungsfeldes setzt sich folgerichtig aus Kognition d h jene die menschliche Erkenntnis strukturierenden Mechanismen und Poetik d h Theorie zum Verstandnis von Literatur zusammen In ihrer methodischen Ausrichtung ist die Kognitive Poetik damit eine Tochterdisziplin des jungen Feldes der sozialen Neurowissenschaften die sich der Untersuchung kognitiver Korrelate sozialer Prozesse im menschlichen Gehirn widmen Innerhalb des genannten Forschungsparadigmas lassen sich aktuell thematische Spezialisierungsfelder ausmachen zumeist verbunden mit einzelnen Forscherpersonlichkeiten obwohl ein integrativer programmatischer Ansatz bislang nicht formuliert worden ist Dominierende Ansatze hierbei sind ein kognitions psychologischer ein linguistischer sowie evolutionsbiologisch orientierter Ansatz Dennoch gehen die verschiedenen Ansatze oder Ausrichtungen von bestimmten gemeinsamen Grundannahmen aus Inhaltsverzeichnis 1 Historische Entwicklung 2 Grundannahmen 2 1 Generelle Gultigkeit menschlicher Kognition 2 2 Korperliche Verankerung der Kognition 2 3 Interdisziplinaritat 3 Spezialisierungsfelder 3 1 Evolutionsbiologischer Ansatz 3 2 Kognitionslinguistischer Ansatz 3 3 Produktionsasthetischer Ansatz 4 Kritik 5 Quellen 6 Weiterfuhrende LiteraturHistorische Entwicklung BearbeitenDie Erforschung sprachlicher Besonderheiten im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf den Rezipienten war bereits Thema der klassischen Rhetorik und Poetik wurde jedoch von den russischen Formalisten in den 1920er Jahren erneut aufgegriffen So wies vor allem Sklovskij Die Kunst als Verfahren 1917 auf die Zusammenhange zwischen den Abweichungen von linguistischen oder erzahlerischen Konventionen und den Effekten der Entfremdung und Deautomatisierung hin Das Gedankengut des Formalismus wurde nach dessen Verbot durch Stalin 1930 von den Strukturalisten weiterentwickelt und von den Exilanten in andere Lander uberliefert In seinem grundlegenden Aufsatz Closing Statement Linguistics and Poetics 1960 fuhrt Jakobson die poetische Sprachwirkung auf Aquivalenzstrukturen zuruck die die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die Sprache bzw das sprachliche Medium selbst lenken Die Prinzipien der Deautomatisierung und Verfremdung wurden im angelsachsischen Raum beispielsweise im Rahmen der Analyse von found poems auch unter dem Begriff des foregrounding weiterverfolgt In den Ansatzen zur strukturellen Poetik werden zumeist Konzepte des Lesers sowie die Rezeptionsanalyse mit einbezogen oder aber zumindest wenngleich nicht immer in expliziter Form mitgedacht Beispielsweise sieht J Culler eine linguistische Analogie auf Seiten des Lesers im Sinne einer literarischen Kompetenz J Cullers Structuralist Poetics 1975 Kapitel 6 2 Im Verlauf der 1970er Jahre wurden zunehmend Konstrukte und Modelle aus der Kognitionswissenschaft richtungweisend die sich in den sozial und informationswissenschaftlichen Disziplinen mit den mentalen Prozessen der Wahrnehmung des Verstehens sowie des Lernens beschaftigen Der Begriff cognitive poetics wurde in Analogie zum Terminus cognitive linguistics kognitive Linguistik eingefuhrt R Tsur verwendete den Ausdruck im Zusammenhang mit der Analyse und Interpretation poetischer Texte R Tsur What is Cognitive Poetics 1983 Dabei entwickelte er einerseits aus Beobachtungen am Text Annahmen uber mentale Prozesse beim Leser bezog andererseits jedoch ebenso Uberlegungen und Vermutungen ein uber Reprasentationen menschlicher Kognition und Erfahrung in den Texten 3 Grundannahmen BearbeitenGenerelle Gultigkeit menschlicher Kognition Bearbeiten nbsp Schematische Darstellung der Kognitiven PoetikEin zentraler Grundsatz der Kognitiven Linguistik ist die Verallgemeinerbarkeit der kognitiven Grundleistungen des Menschen d h die das menschliche Erkennen strukturierenden Mechanismen auf alle Arten von zu verarbeitenden Informationen und damit auch auf die Verarbeitung literarischer Werke So werden im Verlauf einer Textanalyse Konzepte der Kognitionsforschung auf literarische Werke angewandt Kognitive Literaturanalyse versucht also die besondere Wirkung literarischer Stilmittel oder Textformen beim Rezipienten unter Ruckgriff auf kognitive Grundmechanismen menschlichen Verstehens i e Informationsverarbeitung zu erklaren Kognitionspsychologische Konzepte die dabei besondere Beachtung finden sind Figur Grund Wahrnehmung Aufmerksamkeitssteuerung Kognitives Framing Prototypentheorie Script TheorieIllustration der generellen Gultigkeit menschlicher KognitionDie Fahigkeit des kognitiven Framings beispielsweise das Verstehen neuer Umweltinformation durch deren Einbettung in einen kognitiven Interpretationsrahmen frame lasst sich in vielfaltigen menschlichen Sinnesleistungen beobachten so werden beispielsweise Noten im Verhaltnis zu einer gewissen Tonart auditiven frame interpretiert und als tonal atonal bewertet optische Tauschungen unterliegen gewohnlich einem frame Konflikt zwischen konkurrierenden Interpretationsrahmen vgl Kippfigur und menschliche Ausserungen im Gesprachsfluss werden generell im Rahmen des bisherigen Gesprachs interpretiert vgl Triff mich hier heute in einer Woche mit einem Stock der diese Grosse hat ohne adaquates Framing kann dem Satz keinerlei Bedeutung zugemessen werden In Bezug auf literarische Texte schlagt beispielsweise Emmot 4 vor plotzliche Handlungsumbruche am Ende einer Short Story als kognitives Re framing zu betrachten in dessen Licht vorherigen Handlungselementen eine vollig neue und schlussige Bedeutung zukommt Korperliche Verankerung der Kognition Bearbeiten Die Kognitive Poetik berucksichtigt dabei besonders die grundlegende Verankerung menschlicher Kognition in der artspezifischen Korperlichkeit Diesem Ansatz zufolge hat der Mensch im Laufe seiner evolutionaren Entwicklung spezifische Mechanismen herausgebildet um seine Wahrnehmung von Wirklichkeit zu strukturieren die vor allem von seinem korperlichen Erleben abhangen 5 Solche korperlich determinierten Kognitionskonzepte lassen sich in der Folge auch im literarischen Rezeptionsvorgang aufzeigen Illustration der korperlichen Verankerung sowie kognitiver LeistungenIn diesem Sinne lasst sich beispielsweise die Figur Grund Unterscheidung als eine zentrale kognitive Fertigkeit betrachten die der Mensch im Laufe seiner korperlichen Phylogenese entwickelt hat zweifellos zu einem fruhen evolutionaren Zeitpunkt da er diese Fahigkeit mit zahllosen Schwesterspezies teilt Die spezifische Korperlichkeit des Homo sapiens seine Situiertheit in einer physischen Umgebung voller beweglicher und starrer Objekte die es erfolgreich zu manipulieren gilt fuhrte demnach zur Ausbildung der primar visuellen Unterscheidung zwischen Vordergrundobjekten Figur und einem starren Hintergrund Grund Diese Fertigkeit hat im Laufe der Evolution im Menschen eine besondere Entwicklungsstufe erreicht vgl tarnendes Mimikry betreibende Falter welche von hochspezialisierten Raubvogeln nicht als separate Objekte identifiziert werden konnen wahrend dem Menschen diese Unterscheidung ohne Schwierigkeiten gelingt In Bezug auf Literaturrezeption ermoglicht diese kognitive Fahigkeit dem Menschen beispielsweise Protagonisten in grosseren Textteilen als separate Handlungstrager zu identifizieren eine Haupt von einer Hintergrundhandlung zu unterscheiden oder die Isolierung bestimmter semantischer Felder vorzunehmen Interdisziplinaritat Bearbeiten Die Kognitive Poetik ist per Definition interdisziplinar angelegt Die geisteswissenschaftliche Literaturforschung steht dabei im Austausch mit zahlreichen Schwesterdisziplinen aus den Naturwissenschaften Kognitive Psychologie Neuropsychologie Kognitive Linguistik BiologieSpezialisierungsfelder BearbeitenEvolutionsbiologischer Ansatz Bearbeiten Erste Uberlegungen zur Biologie der Literatur finden sich schon bei Wilhelm Scherer in seiner Poetikvorlesung im Abschnitt Ursprung der Poesie Im 20 Jahrhundert war die Literaturwissenschaft von einem weitgehend kulturalistischen Menschenbild gepragt und selbst Forschungen zu literarischen Universalien kamen ohne explizit biologische Argumentation aus Erst in den 1990er Jahren gab es wieder vereinzelte Uberlegungen zur Biologie der Poesie und Versuche einer systematischen Einbeziehung der biologischen Evolutionstheorie 6 Im deutschen Sprachraum wurde die biologische Perspektive vor allem von dem Germanisten Karl Eibl vertreten der schon 1995 in seinem Buch Die Entstehung der Poesie die Grundlagen menschlichen Kunstverhaltens mit evolutionsbiologischen und ethologischen Argumenten zu erhellen suchte In Animal poeta 2004 Kultur als Zwischenwelt 2009 und zahlreichen Aufsatzen erweiterte Eibl seinen Ansatz mit Argumenten der Soziobiologie und der Evolutionaren Psychologie Ebenfalls 1995 initiierte der amerikanische Literaturwissenschaftler Joseph Carroll mit seinem Buch Evolution and Literary Theory eine Forschungsrichtung die sich unter dem Namen des Literary Darwinism etablierte 7 Die inzwischen recht zahlreichen Ansatze einer solchen Anthropologie der Literatur widmen sich insbesondere emotionalen Wirkungen von Literatur evolutionsbiologisch ableitbaren Gestalterwartungen des Lesers dem Erzahlen als menschlichem Verhalten und dem Phanomen der Fiktionalitat 8 Kognitionslinguistischer Ansatz Bearbeiten In diesem Feld finden sich vor allem Arbeiten die Konzepte und Ansatze der Kognitiven Linguistik auf die Kognitive Poetik ubertragen Besondere Bedeutung wird dabei dem begrifflichen Blending nach Fauconnier und Turner zugemessen das jedoch bislang nicht durch neurokognitive Evidenz zu belegen ist Ein anderer Schwerpunkt wurde an der FU Berlin verfolgt Die von Peter Stockwell theoretisierte gestaltpsychologische Interaktion von foregrounding und backgrounding wurde unter Bezugnahme auf die Theorie des fringe neurokognitiv erklart Demnach lasst sich dieses Zusammenspiel von Figur und Grund durch das auf William James zuruckgehende Konzept der Umrandung fringe von fokalen Bewusstseinsinhalten Kerne oder Nuclei durch nur dunkel erinnerte Kontextinformationen erklaren und somit auch auf literarische Texte etwa Lyrik anwenden 9 Produktionsasthetischer Ansatz Bearbeiten In der deutschen Literatur hat sich vor allem der Lyriker Durs Grunbein mit den Beziehungen zwischen Gehirn und schopferisch schriftstellerischer Tatigkeit beschaftigt In den Gedichtbanden Schadelbasislektion 1991 Gehirn und Denken 2000 oder in Der cartesische Taucher Drei Meditationen 2008 aber auch in Gesprachen mit Neurowissenschaftlern 10 reflektiert Grunbein uber das Verhaltnis zwischen Kognition und Kunst Kritik BearbeitenMethodologisch ist die Kognitive Poetik zum jetzigen Zeitpunkt eine reine Korrelationswissenschaft Danach werden gewisse narratologisch poetologische Phanomene mit kognitiven neuronalen Mustern in Verbindung gesetzt eine schlichte Korrelation zweier Datensatze jedoch liefert weder eine Erklarung der beobachteten Phanomene noch weiterreichende oder ubertragbare Erkenntnisse Die Argumentation man erforsche auf diesem Wege die neuronale Funktions und Arbeitsweise des Gehirns verschiebt die Frage nach funktionalen Erklarungsmustern dieser Phanomene auf andere Forschungsfelder speziell die Neurowissenschaften Aus Sicht der Erzahltheorie kritisiert der Narratologe Sternberg dass die Modelle und Verfahren der Kognitiven Poetik mit Hilfe derer Texte und mentale Prozesse in Einzelheiten zerlegt werden zu starr und reduktionistisch seien um der Beweglichkeit und Veranderlichkeit des lesenden Geistes gerecht zu werden 11 Ebenso wird von den empirisch vorgehenden Literaturwissenschaftlern die fehlende Beweiskraft der Aussagen der kognitiv ausgerichteten Narratologen und Poetologen bemangelt 12 Quellen Bearbeiten Els Andringa Cognitive Poetics In Gerhard Lauer und Christine Ruhrberg Hrsg Lexikon Literaturwissenschaft Hundert Grundbegriffe Philipp Reclam jun Verlag Stuttgart 2011 ISBN 978 3 15 010810 9 S 50 53 hier S 50 Els Andringa Cognitive Poetics In Gerhard Lauer und Christine Ruhrberg Hrsg Lexikon Literaturwissenschaft Hundert Grundbegriffe Philipp Reclam jun Verlag Stuttgart 2011 ISBN 978 3 15 010810 9 S 50f Els Andringa Cognitive Poetics In Gerhard Lauer und Christine Ruhrberg Hrsg Lexikon Literaturwissenschaft Hundert Grundbegriffe Philipp Reclam jun Verlag Stuttgart 2011 ISBN 978 3 15 010810 9 S 51 Emmott Catherine 2003 A cognitive poetic analysis of twists in the tale and other plot reversals in narrative texts Ed Steen Gerard Cognitive Poetics in Practice London Routledge Vgl Wenn wir ganz andere neuronale Adaptionsprozesse durchlaufen hatten wie etwa der Octopus hatten wir auch ein anderes Weltbild Ernst Poppel Neurowissenschaftler In Katja Thimm Gerald Traufetter Schauder des Schaffens In Der Spiegel Nr 51 2000 S 220 online 18 Dezember 2000 Interview mit dem Lyriker Durs Grunbein und dem Neurowissenschaftler Ernst Poppel uber die Vorgange im menschlichen Gehirn die zum Schopferischen fuhren Vgl Katja Mellmann Literatur In Benjamin P Lange Sascha Schwarz Hrsg Die menschliche Psyche zwischen Natur und Kultur Pabst Publishing Lengerich 2015 ISBN 978 3 95853 023 2 S 105 113 hier S 105f Vgl Katja Mellmann Mimetistische Tendenzen im Literary Darwinism Uber Sinn und Unsinn in gegenwartigen Versuchen einer evolutionsbiologischen Literaturbetrachtung In literaturkritik de 02 2009 http www literaturkritik de public rezension php rez id 12715 Karl Eibl Literaturwissenschaft In Philipp Sarasin Marianne Sommer Thomas P Weber Hrsg Evolution Ein interdisziplinares Handbuch Metzler Stuttgart und Weimar 2010 S 257 267 hier S 258f Katja Mellmann Zum Stand des Literary Darwinism Gesammelte Aufsatze von Joseph Carroll In JLTonline de http www jltonline de index php reviews article view 601 1432 31 Oktober 2013 Vgl Katja Mellmann Literatur In Benjamin P Lange Sascha Schwarz Hrsg Die menschliche Psyche zwischen Natur und Kultur Pabst Publishing Lengerich 2015 ISBN 978 3 95853 023 2 S 105 113 hier S 107 110 Burkhard Meyer Sickendiek Arthur Jacobs und Jana Ludtke Bausteine einer Neurokognitiven Poetik Foregrounding Backgrounding lyrische Stimmung und asthetisches Gefallen in Stimmung und Methode hg v Friederike Reents und Burkhard Meyer Sickendiek Tubingen Mohr Siebeck 2013 S 63 94 Katja Thimm Gerald Traufetter Schauder des Schaffens In Der Spiegel Nr 51 2000 S 214 220 online 18 Dezember 2000 Interview mit dem Lyriker Durs Grunbein und dem Neurowissenschaftler Ernst Poppel uber die Vorgange im menschlichen Gehirn die zum Schopferischen fuhren Vgl dazu auch Zu Durs Grunbeins Poetik PDF 692 kB Sternberg Universals of Narrative and Their Cognitivist Fortunes Tl 1 und 2 in Poetics Today 24 2 und 3 2003 Siehe auch Els Andringa Cognitive Poetics In Gerhard Lauer und Christine Ruhrberg Hrsg Lexikon Literaturwissenschaft Hundert Grundbegriffe Philipp Reclam jun Verlag Stuttgart 2011 ISBN 978 3 15 010810 9 S 53 Vgl Els Andringa Cognitive Poetics In Gerhard Lauer und Christine Ruhrberg Hrsg Lexikon Literaturwissenschaft Hundert Grundbegriffe Philipp Reclam jun Verlag Stuttgart 2011 ISBN 978 3 15 010810 9 S 53 Weiterfuhrende Literatur BearbeitenEibl Karl Die Entstehung der Poesie Frankfurt 1995 ISBN 3 458 16696 3 Eibl Karl Animal poeta Bausteine zur biologischen Kultur und Literaturtheorie Paderborn 2004 ISBN 3 89785 450 3 Eibl Karl Kultur als Zwischenwelt Eine evolutionsbiologische Perspektive Frankfurt 2009 ISBN 978 3 518 26020 3 Stockwell Peter Cognitive Poetics An Introduction London Routledge 2002 Vandaele Jeroen und Brone Geert Hrsg Cognitive Poetics Goals Gains and Gaps Berlin 2009 ISBN 978 3 11 020560 2 Online Begriff im Filmlexikon der Uni Kiel Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Kognitive Poetik amp oldid 225492655