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Die Kirschen der Freiheit Ein Bericht ist eine 1952 veroffentlichte autobiografische Erzahlung von Alfred Andersch die die Jahre 1919 bis zu seiner Fahnenflucht am 6 Juni 1944 umfasst Inhaltsverzeichnis 1 Inhalt 1 1 Der unsichtbare Kurs 1 2 Die Fahnenflucht 1 3 Die Wildnis 2 Erzahlerische Mittel 3 Rezeption 4 Literatur 5 AnmerkungenInhalt BearbeitenDer Bericht abgefasst zwischen Januar 1951 und Juni 1952 steht unter dem Motto Ich baue nur noch auf die Deserteure aus dem Tagebucheintrag von Andre Gide vom 11 Mai 1941 und umfasst drei Teile 1 Der unsichtbare Kurs Bearbeiten Der Ich Erzahler beginnt mit einer Erinnerung an das Ende der Munchner Raterepublik als er als 5 Jahriger vom Fenster der elterlichen Wohnung aus Kolonnen verhafteten Gesindels so sein Vater zum Munchner Oberwiesenfeld ziehen sieht Dort wurden alle wie er sich mit 14 oder 15 Jahren vergegenwartigt an der Garagenwand des Unternehmens Kraftverkehr Bayern erschossen Es bewegt ihn die Frage wie jemandem zumute ist der einen anderen erschiesst und warum er ihn nicht auf dem Weg zum Erschossenwerden zur schnellen Flucht in einen Hauseingang auffordert Das sind aber Gedanken die ihn in seiner ansonsten wie ein Uhrwerk ablaufenden Kindheit und fruhen Jugend wenig beschaftigen In der Erinnerung verschwimmen Vorortmietshauser Kasernen und das in der Untertertia Klasse 8 wegen schlechter Leistungen in Griechisch abgebrochene Gymnasium in einem Gefuhl von Langeweile Die Konfirmation wird fur ihn zu einer rein mechanischen Handlung die an ihm vollzogen wird Darauf fuhrt er zuruck dass er spater die lutherische Kirche verlasst und sich keiner anderen Glaubensgemeinschaft mehr anschliesst Seinen Vater erlebt er als einen im Krieg und von der Raterepublik Geschlagenen der sich am wohlsten in seiner Rolle als Hauptmann fuhlen wurde und die Familie in Schulden geraten lasst Gluhender Anhanger Hitlers und Ludendorffs und am Hitlerputsch beteiligt vernachlassigt er seinen Kaufmannsberuf Nachdem eine Kriegsverletzung aufbricht und zunachst ein Bein amputiert werden muss erlebt der Erzahler das sich uber zwei Jahre hinziehende Sterben seines Vaters Uber die Lekture von Werken Lenins Upton Sinclairs und der KPD Zeitung Die Rote Fahne gerat er in den Bann revolutionaren Denkens und des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus Als er Jugendfunktionar und Organisationsleiter in der KPD geworden ist bemerkt er zunehmend wie sich seine Begeisterung in den Arbeiterwirtschaften und Zellenlokalen der Partei auflost Die Partei scheint ihm in Burokratie zu erstarren Willensfreiheit zu unterbinden und lahmt so auch ihn der spontan frei lebendig und revolutionar S 38 sein und gegen die SA losschlagen will Tatenlos ungetarnt und ohne Deckadresse wird er 1933 schnell Opfer von Verfolgung durch die Nationalsozialisten und fur drei Monate bis Mai im KZ Dachau interniert wo er die ersten Schusse von Erschiessungen hort die die SS Manner mit dem Satz Auf der Flucht erschossen kommentieren S 43 In Zusammenhang mit dem Ausheben einer kommunistischen Druckerei wird er im September 1933 erneut verhaftet Der verhorende Beamte glaubt aber seinem Alibi so dass er das Munchner Polizeiprasidium gegen Abend wieder verlassen kann Er weiss dass er nicht mehr fur die Partei arbeiten wird Die berufliche Tatigkeit des Erzahlers besteht aus Tatigkeiten auf kleineren Angestellten Posten in Buros der Buchhandelsbranche Er hasst sie und fuhlt sich beeintrachtigt von einer versteckten Verfolgungsneurose und tiefer Depression Seinen Ausweg sieht er in der Kunst oder in Radausflugen die ihn schon als Jugendlichen vor der Langeweile retteten Als dem Erzahler der Brigadefuhrer Theodor Eicke androht er werde ihn bei einer erneuten Internierung in Dachau erschiessen reagiert der Erzahler mit der totalen Introversion S 46 Er liebt Rainer Maria Rilkes Gedichte aus dem Buch der Bilder schreibt selbst Lyrik und macht die Bekanntschaft von Dr Herzfeld der seine Gedichte und sein Kunstverstandnis einer harten Kritik unterzieht und den Erzahler ermahnt zunachst einmal mehr und vielfaltiger zu lesen Kunst sei nicht bloss Asthetik sondern stehe fur einen Zustand von Gespanntheit der Stimmungen erzeuge S 49 1938 arbeitet er in Hamburg in einer Fabrik fur fotografische Papiere und entwirft Anzeigen Im technischen Direktor der das wissenschaftliche Labor leitet findet er fur kurze Zeit einen Gesprachspartner Der Mann stirbt an einem Herzschlag als er erfahrt dass er als Halbjude die Fabrik verlassen muss Die Fahnenflucht Bearbeiten Am 6 Juni 1944 findet fur den Erzahler mein ganz kleiner privater 20 Juli statt S 74 Es will ihm scheinen als sei sein Leben auf den Punkt zugelaufen auf den es seinen fur mich unsichtbaren Kurs gehalten hatte S 59 namlich seine Einheit die fur Italien zum Einsatz gegen die von Rom anruckenden Amerikaner aufgestellt wurde im Suden Umbriens in der Nahe des Arno zu verlassen Er fuhlt sich durch seine Kameraden zu nichts verpflichtet Kameradschaft binde ihn nicht er furchte sie vielmehr weil sie ihn um sein Alleinsein bringt So stellt er fest dass die Kameraden sein anarchistisches Gefuhl verstarken was ihm den Abschied leicht werden lasst Er halt sie fur Gebannte nicht durch Eid Verpflichtete S 101 Auch sei der zu bekampfende Gegner nicht seiner sondern ihrer Er selbst habe 1940 innerlich beim Leisten des Eides gelacht obwohl er da noch an einen deutschen Sieg unter Hitler geglaubt habe Ich gab damals der Kanalratte eine Chance S 90 In der Desertion sieht er die angemessene Antwort auf den Zwang der Wehrpflicht und den befohlenen Eid Ausloser seiner Fahnenflucht sei jedoch nicht minder die Angst sterben zu mussen im Kampf gegen einen Gegner der nicht seiner sondern der der Kameraden ist Dass die Desertion selbst ein Akt des Mutes sei der ihn in anderer Weise bedroht sei fur ihn nebensachlich Es gehe ihm darum kein lebender Leichnam zu sein und das Geflecht von Mut Angst Vernunft und Leidenschaft auszuhalten und in der Stimmung als Atemluft unseres Geistes S 84 ff fur sich und nur fur sich eine richtige Entscheidung zu treffen Eine Stutze sucht er in einem Gott den er bittet ihn zu sich in die Wildnis entkommen zu lassen S 114 Die Wildnis Bearbeiten Wegen einer angeblichen Panne seines Militarfahrrades bleibt der Erzahler hinter der Truppe zuruck und beschreibt im sehr kurzen Schlusskapitel die Erregung des 6 Juni 1944 Er schlagt sich seitwarts in die Felder und begegnet einem jungen italienischen Bauern der ihm die Moglichkeit skizziert wie er sich den Amerikanern von der Flanke her nahern konne um sich in deren Gefangenschaft zu begeben Er schenkt ihm sein Fahrrad wirft unterwegs seinen Karabiner in ein Getreidefeld und findet einen wilden Kirschbaum Er pfluckt und isst die ciliege diserte die verlassenen Kirschen die Deserteurs Kirschen die wilden Kirschen meiner Freiheit muss aber am nachsten Tag vom Lager aus mit anderen Gefangenen die seit Tagen herumliegenden Leichen der Bombenabwurfe und Kampfe in der Umgebung einsammeln und auf dem Friedhof von Nettuno in Gruben werfen Erzahlerische Mittel BearbeitenDie ersten beiden Teile zeigen in den Uberschriften der Kapitel die beiden Schwerpunkte um die es dem Autor geht Der unsichtbare Kurs untergliedert sich in Der Park zu Schleissheim Verschuttetes Bier In der Tasche geballt und Das Fahrboot zu den Halligen Wahrend vordergrundig die Handlung voranschreitet die sich der Erzahler in kurzem Berichtstil zusammenzufassen bemuht indem er sich als Subjekt in der Grammatik des Satzes wegzulassen bemuht die ersten Satze lauten Weiss nicht mehr genau in welche Jahreszeit die Munchner Raterepublik fiel Ist ja leicht festzustellen Fruhjahr glaub ich War glaub ich ertappt sich der Erzahler selbst immer wieder dabei dass er das nicht durchhalt Denn es geht ihm auch immer um die Wiedergabe seiner Stimmungen und Reflexionen wo er weiter ausholen muss Sie sprengen die Absicht des puren Berichts So umreissen die aufgezahlten Uberschriften des ersten Teils den unsichtbaren Kurs als dessen Ziel der Erzahler im zweiten Teil die Fahnenflucht ausgibt Der Park zu Schleissheim wird zu seinem Fluchtpunkt wenn er es in der Enge der kleinburgerlichen Familie mit dem leidenden Vater nicht mehr aushalt Das verschuttete Bier und die Bierflecke auf den Tischen in den Versammlungslokalen von Arbeitern und KPD Funktionaren werden zum Ausdruck truben Wartens damit etwas geschehe In seinen Ausbruchsversuchen mit dem Fahrrad ins Voralpenland die er immer allein unternimmt ahnt er die Moglichkeiten des Lebens wusste dass hinter dem Leben das ich im Augenblick lebte noch tausend andere Leben auf mich warteten S 32 In Hamburg flieht er mit den Augen dem Fahrboot auf die Halligen folgend aus der Zeit als sein Gesprachspartner in der Fabrik gestorben ist Im zweiten Teil Die Fahnenflucht ist das Konzept des chronologischen Berichtens an das sich der Erzahler zu halten versucht aufgegeben Der Bericht macht einen Sprung ins Jahr 1944 als dem Erzahler zu Pfingsten eine Woche vor dem Datum seiner Desertion und der gleichzeitigen Landung der Alliierten in der Normandie am 6 Juni das Ziel seines unsichtbaren Kurses deutlich wird namlich endgultig allein zu sein Allein und frei Ausser Gesetz und Befehl Aufgenommen von der Nacht und der Wildnis der Freiheit S 60 f Von diesem Punkt her umkreist er im Wechsel zwischen Reflexion und Bericht die seit seinem Eintritt in die Wehrmacht 1940 enger werdenden Kreise um seinen Entschluss zur Fahnenflucht Zu diesen Kreisen gehoren Reflexionen uber Die Kameraden Die Angst und Der Eid so die Kapiteluberschriften An zwei Stellen tritt der Erzahler ausdrucklicher aus seiner Erzahlerrolle als Autor selbst heraus wenn er von der Aufgabe meines Buches spricht namlich einen einzigen Augenblick der Freiheit zu beschreiben S 71 hier S 84 In einer Besprechung im Spiegel hiess es dass eine neuartige Mischung von autobiographischem Bericht atzender Zeitkritik und existentialistischer Freiheitsmeditation den Stil ausmache 2 Der kurze dritte Teil mochte den Nu der Freiheit umreissen in dem die Harte des Bewusstseins sich gegen das Schicksal wendet und neues Schicksal setzt S 126 Zur Hervorhebung dieses Freiheitsaugenblicks bedarf es erneut eines Bruches der Chronologie wenn der Erzahler den Akt des Kirschenessens als Erfullung des Augenblicks der Freiheit in die letzten Satze verschiebt Vorher jedoch unterstreicht er wie kurz dieser Augenblick der absoluten verantwortungslosen Gott und dem Nichts sich anheimgebenden Freiheit S 127 des Kirschenessens war indem er ausfuhrlich auf die Ereignisse des nachsten Tages vorgreift da er als Kriegsgefangener von schwarzen US Soldaten zusammen mit anderen Gefangenen zum Begraben der zahllosen Leichen auf das Schlachtfeld eskortiert wird Rezeption BearbeitenDer Rezensent des Magazins Der Spiegel geht davon aus dass das Buch Furore machen werde 3 Der Lektor Zeitschriftenredakteur und Literaturforderer Hans Georg Brenner 4 halt das Buch fur die wesentlichste menschliche Aussage die Krieg und Vorkrieg in Deutschland gezeitigt haben der souverane Mensch im Kreuzfeuer gesellschaftlicher Zwange unter deren Kettenreaktion wir anscheinend fortgesetzt leiden sollen 5 Und Heinrich Boll sieht in dem Buch fur jeden eine Wohltat der nach 1933 das Denken nicht vergass 6 Diese uberaus positiven Ausserungen verstehen sich vor dem Hintergrund dass Fahnenflucht oder Desertion ein lange umstrittenes Thema war und Deserteure lange als Kameradenschweine Verrater und Feiglinge galten und sich nur ganz wenige Deserteure wie Anderschs Ich Erzahler offentlich zu bekennen wagten 7 Claus Leggewie berichtet in der Wochenzeitschrift Die Zeit vom 4 Dezember 1981 vom Toben eines Denkmalstreits um das Anbringen einer zusatzlichen Tafel am Denkmal fur die Opfer des Faschismus in Kassel mit dem Satz Wir schliessen alle Soldaten unserer Heimat die sich nicht mehr am Krieg beteiligen wollten und deshalb von den Nationalsozialisten zum Tode verurteilt wurden in unsere Trauer mit ein Auch sie sind es wert nicht vergessen zu werden Am 1 Mai 1987 wird ebenfalls in der Zeit unter der Uberschrift Ehrlos immer noch uber den Bremer Versuch geschrieben Dem unbekannten Deserteur ein Denkmal zu setzen Erst in der als postheroisches Zeitalter charakterisierten Gegenwart 8 scheint eine gelassenere Diskussion moglich Wolfram Wette folgert aus dem schwierigen Umgang mit Deserteuren und Wehrkraftzersetzern dass ihre Anerkennung durch die Mehrheit der Gehorsamen bedeutet hatte dass sie ihr eigenes ausschliesslich am militarischen Gehorsam und Pflichtgefuhl orientiertes Verhalten als problematisch hatten in Frage stellen mussen 9 Der Erzahler ist sich dieses Zusammenhangs bewusst denn im Kameraden Kapitel spricht er uber General Hans Speidel im neuesten historischen Augenblick und verwahrt sich gegen dessen Feststellung als Speidel uber Rommels Waffenstillstandsangebot an die Westmachte spricht dass zu solchem Handeln fur Andersch Desertion in metaphysischer Verantwortung nur der oberste militarische Fuhrer befahigt berechtigt und verpflichtet sein konnte nicht der einzelne Soldat und Offizier der solch hohe Einsicht nicht besitzen konnte Des Erzahlers kurzer ironischer Kommentar zu seiner eigenen hohen Einsicht als einzelner Soldat in seinem Wildnis Gefuhl Ich hatte beschlossen davonzulaufen Es war eine klare Sache S 74 Literatur BearbeitenAlfred Andersch Die Kirschen der Freiheit Ein Bericht Zurich 1968 Winfried Stephan Hrsg Materialien zu Die Kirschen der Freiheit Zu einem Buch und seiner Geschichte Diogenes Taschenbuch 23345 Zurich 2002 ISBN 3 257 23345 0 Wolfram Wette Die Wehrmacht Feindbilder Vernichtungskrieg Legenden Frankfurt am Main 2002 Roland Mager Hrsg Documents Revue mensuelle des questions allemandes Nr 4 Rottweiler Verlagsdruckerei Rottweil April 1953 S 289 416 in Franzosisch Beate Brenner Als der Krieg aus war Annaherungen an deutsche Befindlichkeit nach Kriegsende 1945 Facherubergreifende kontextuell angelegte Unterrichtsmodelle zu ausgewahlten epischen Texten Sprach und Literaturwissenschaften Band 5 Utz Wissenschaft Munchen 1998 ISBN 3 89675 411 4 Dissertation Universitat Munchen 1998 262 Seiten Anmerkungen Bearbeiten Im Folgenden wird die Taschenbuch Ausgabe bei Diogenes 1968 zugrunde gelegt Materialien 2002 S 60 Materialien 2002 S 58 Vgl Gruppe 47 und Helmut Heissenbuttel Meine oder die funfziger Jahre Memento vom 17 Marz 2008 im Internet Archive Materialien 2002 S 68 Materialien 2002 S 128 Recherchen von 1991 bestatigten die vom Erzahler angegebenen Personen Daten und Orte als ubereinstimmend mit Anderschs eigener Desertion Materialien 2002 S 23 36 Vgl Herfried Munkler Heroische und postheroische Gesellschaften Wolfram Wette Deserteure und Wehrkraftzersetzer S 166 in Wolfram Wette Die Wehrmacht Feindbilder Vernichtungskrieg Legenden Frankfurt a M 2002 S 165 168 Normdaten Werk GND 4345090 8 lobid OGND AKS VIAF 204607646 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Die Kirschen der Freiheit amp oldid 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