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Wahrlich ist eines der wenigen Widmungsgedichte der osterreichischen Schriftstellerin Ingeborg Bachmann Vermutlich entstand das Gedicht Ende 1964 nach der Begegnung mit Anna Achmatova der es gewidmet ist Es wurde von Ingeborg Bachmann bei der Verleihung des Premio Etna Taormina an die russische Dichterin am 12 Dezember 1964 im antiken Theater von Taormina vorgetragen Ingeborg Bachmanns Gedicht Wahrlich auf einer Hauserfront in Leiden Vers 1 musste heissen Wem es ein Wort nie verschlagen hat Inhaltsverzeichnis 1 Einordnung in Bachmanns Biografie 2 Aufbau und Stil 2 1 Wortebene 2 2 Satzebene 3 Thematik 3 1 Sprachkritik 3 2 Die Aufgabe des Dichters 4 Stellung des Gedichts im Werk 5 Textausgaben 6 Sekundarliteratur 7 Weblinks 8 EinzelnachweiseEinordnung in Bachmanns Biografie BearbeitenIngeborg Bachmann reiste Anfang Dezember 1964 nach Sizilien wo der von ihr sehr verehrten Dichterin Anna Achmatova der Premio Etna Taormina verliehen werden sollte 1 Bachmann war Mitglied der Jury fur diese Auszeichnung 1 Bei der Preisverleihung am 12 Dezember 1964 im antiken Theater in Taormina bei der sie das Gedicht erstmals der Offentlichkeit prasentierte uberraschte Ingeborg Bachmann mit ihrem Auftritt Nicht gehemmt und stockend wie sonst hatte sie ihre Verse vorgetragen sondern selbstbewusst und klar Anna Achmatowa und die sie begleitende russische Delegation waren begeistert 2 Die Erstveroffentlichung erfolgte im Januar 1965 in der Zeitschrift L Europa Letteraria Artistica Cinematografica Rom Nummer 1 3 Mit Anna Achmatova verband Bachmann mehr als nur dieses Gedicht Ihre Entscheidung 1967 den Piper Verlag zu verlassen war ein Protest dagegen dass der Verlag bei dem ehemaligen HJ Fuhrer Hans Baumann die Ubersetzung von Anna Achmatowas Gedichten in Auftrag gegeben hatte 4 Aufbau und Stil BearbeitenDas Gedicht 5 besteht aus elf reimlosen Versen die in vier Strophen gegliedert sind Die erste Strophe wird von vier Versen gebildet die zweite von drei und die beiden letzten Strophen jeweils von zwei Versen Die zweite bis vierte Strophe werden jeweils mit einem Punkt beendet Am Ubergang von der ersten zur zweiten Strophe steht ein Gedankenstrich da die mit Vers 1 begonnene Satzkonstruktion Wem es ein Wort nie verschlagen hat 6 in Vers 5 mit dem ist nicht zu helfen 7 fortgefuhrt und erst danach mit einem Punkt abgeschlossen wird Der Gedankenstrich 8 ersetzt das fehlende Verb als ob es zu schrecklich ware daruber zu sprechen was mit den Worten passiert die nicht dem wahren Sprechen dienen 9 Wortebene Bearbeiten Zwei sprachliche Ebenen verschranken sich in diesem Gedicht die Sprache der Bibel und die banale Alltagssprache Zum einen lasst sich das Gedicht namlich als Verkundigung mit Wahrheitsanspruch 10 lesen Dieser hohe Anspruch ist legitimiert durch seine der biblischen Verkundigungsrede aquivalente Gestaltung 10 Diese klingt bereits im Titel des Gedichts und in Vers 2 an Wahrlich und und ich sage es euch 11 lassen an Vers 6 47 aus dem Johannesevangelium denken Wahrlich wahrlich ich sage euch Wer an mich glaubt der hat das ewige Leben Die zweite Sprachebene im Gedicht ist die Alltagssprache die wortreich nichtssagend ist 10 Ihre Floskeln und verblassten Metaphern wie jemand verschlagt es die Sprache uber kurz oder lang oder das unterschreib ich dir stehen im Kontrast zur biblischen Sprache die beiden Sprachebenen gehen eine oxymorale Verbindung ein 10 Satzebene Bearbeiten Die beiden Sprachebenen sind syntaktisch so verschrankt dass sie sich nicht mehr ohne Weiteres trennen lassen sie erscheinen ineinandergeschoben 10 was den Eindruck von Zweistimmigkeit 10 entstehen lasst Dieser ist auf die zwei alternierenden Parallelismen 10 zuruckzufuhren Der eine wird durch Pronomen wie wem wer und dem eingeleitet der andere beginnt jeweils mit der Konjunktion und 10 Dabei hat diese Konjunktion nur auf den ersten Blick die gewohnte beiordnende Funktion Vers 3 und 4 zum Beispiel wer bloss sich zu helfen weiss und mit den Worten 12 dd zeigen nicht die erwartete logische Abfolge von Wortern sondern machen die Aussage ungewohnt und damit vieldeutig So erhalten die hier verwendeten Metaphern ihre verschuttete ursprungliche Semantik zuruck und damit nicht etwa ihren alten sondern einen neuen Sinn 13 Thematik BearbeitenDas Gedicht ist der Gedankenlyrik zuzuordnen Sprachkritik Bearbeiten Zum einen zeigt der Text wie die banale Alltagssprache den Dichter daran hindert die wahre Hilfe und letztlich Erlosung bringende Sprache 13 zu benutzen um die Wahrheit zu sagen Wem es ein Wort nie verschlagen hat 14 dd In dieser ungewohnlichen Formulierung ist die alltagssprachliche Wendung es verschlagt mir die Sprache zwar noch zu erkennen doch ruckte mit der Ersetzung von Sprache durch Wort der Vorgang des Sprachverlusts in den Vordergrund 13 Das wahre Wort wird verschlagen weggeschlagen auch durch die Glocke der banalen Alltagsrede deren Klang Bachmann in Zeile 9 onomatopoetisch und mit Kindersprache Bimbam nennt Dem Dichter steht damit die Sprache in der sich Wesentliches sagen lasst nicht mehr oder nicht mehr so einfach zur Verfugung 13 er muss um sein Medium ringen die Texte entstehen nur gegen Widerstande Horst Bienek 15 verweist zu diesem Vers auf die biografische Situation Anna Achmatovas Man kann davon ausgehen dass Bachmann von dem Publikationsverbot wusste das uber 20 Jahre lang fur Achmatova in ihrem Heimatland bestand Unter diesen Bedingungen ist es nicht verwunderlich dass es in Achmatovas Werk Verse gibt die als Entstehungszeitraum 1936 1960 angeben also eine sehr lange Zeit in der sie aussere Widerstande aushalten musste auszuhalten in dem Bimbam von Worten 16 dd Hierin steckt die Erkenntnis dass Sprache fur den Dichter kein selbstverstandliches Werkzeug ist sondern dass er immer wieder gezwungen ist um eindeutige inhaltliche und sprachliche Positionen zu ringen und unausweichlich an ihnen festzuhalten 17 Den eigenen Klang muss man horbar unuberhorbar machen 18 Die Aufgabe des Dichters Bearbeiten Das Gedicht beschrankt sich aber nicht auf Sprachkritik Es verlangt dem Dichter der Dichterin die Niederschrift wenigstens eines ewigen Satzes ab und verspricht dafur die Errettung 13 Es schreibt diesen Satz keiner der nicht unterschreibt 19 dd Hier vermutet Horst Bienek es handle sich um das Unterschreiben des eigenen Urteils 18 Christine Golz sieht in diesen Schlussversen des Gedichts eine Art Burgschaft des Dichters fur eine Art des Sprechens die die Banalitat ubersteigt 20 In den Schlussversen findet sich keine Alltagssprache mehr wie in den vorausgehenden Zeilen Dies legt nahe dass die Sprachlosigkeit zur Voraussetzung fur die sprachlich artikulierte Kunst der Dichtung wird 20 die in den Schlussversen zumindest moglich erscheint Indem das Gedicht die Verkundigungssprache der Bibel dem Dichter zuschreibt ruckt es dessen Rolle in die Nahe Gottes 10 was sich auch an der Sprechsituation festmachen lasst Nur an einer einzigen Stelle namlich in Vers 2 11 findet sich ein lyrisches Ich Dort redet es mehrere Zuhorer mit einer Formulierung an Und ich sage es euch 11 die in der Bibel mehrfach benutzt wird wenn Jesus Christus zu einer Gruppe von Menschen spricht Stellung des Gedichts im Werk BearbeitenNach 1957 erreichten nur noch sehr wenige Bachmann Gedichte die Offentlichkeit und wenn dann eher in Lesungen oder im Rundfunk kaum je im Druck Wahrlich ist eines der sechs Gedichte aus dieser Zeit die Bachmann noch zu Lebzeiten fur die Veroffentlichung freigegeben hat An den Gedichten die in dieser Zeit publiziert wurden fallt auf dass Bachmann die Halfte davon mit einer Widmung oder einer personlichen Adressierung versehen hat Neben Wahrlich waren das Ihr Worte 1961 an Nelly Sachs und Enigma 1966 fur Hans Werner Henze 21 In das Bachmannsche Gesamtwerk lasst sich das Gedicht uber zwei Themenstrange einordnen Zum einen durchzieht das Anliegen der Sprachkritik Bachmanns Schreiben von Beginn an es findet sich etwa im Gedicht Reklame Zweitens werden Rolle und Aufgabe des Dichters wie in Wahrlich auch in einer ganzen Reihe anderer Texte thematisiert etwa in den Frankfurter Poetikvorlesungen von 1959 1960 Bachmanns Biografin Andrea Stoll bezeichnete Wahrlich als sehr personliches poetologisches Bekenntnis der Dichterin 1 Textausgaben BearbeitenErstveroffentlichung in L Europa Letteraria Artistica Cinematografica Rom Nummer 1 Ingeborg Bachmann Werke I Piper Verlag Munchen 1978 ISBN 3 492 02774 1 S 166 Sekundarliteratur BearbeitenHorst Bienek Wem es das Wort verschlagt In Marcel Reich Ranicki Frankfurter Anthologie Vierter Band Gedichte und Interpretationen 3 Auflage Insel Verlag Frankfurt am Main 1991 ISBN 3 458 15348 4 S 198 200 Christine Golz Vom Sprechen und Schweigen in der russischen Lyrik des 20 Jahrhunderts In Heinz Hillmann Peter Huhn Hrsg Europaische Lyrik seit der Antike Vierzehn Vorlesungen University Press Hamburg 2005 ISBN 3 937816 14 3 S 309 350 Sigrid Weigel Ingeborg Bachmann Paul Zsolnay Verlag Wien 1999 ISBN 3 552 04927 4 Weblinks BearbeitenUbersetzung des Gedichts ins Italienische von Davide Racca abgerufen am 29 Marz 2015 Niederlandische und italienische Ubersetzung des Gedichts abgerufen am 29 Marz 2015 Einzelnachweise Bearbeiten a b c Andrea Stoll Ingeborg Bachmann Der dunkle Glanz der Freiheit Bertelsmann Gutersloh 2013 ISBN 978 3 570 10123 0 S 280 Andrea Stoll Ingeborg Bachmann Der dunkle Glanz der Freiheit Bertelsmann Gutersloh 2013 ISBN 978 3 570 10123 0 S 281 Sigrid Weigel Ingeborg Bachmann Paul Zsolnay Verlag Wien 1999 ISBN 3 552 04927 4 S 571 Andrea Stoll Ingeborg Bachmann Der dunkle Glanz der Freiheit Bertelsmann Gutersloh 2013 ISBN 978 3 570 10123 0 S 295 Ingeborg Bachmann Werke I Piper Verlag Munchen 1978 ISBN 3 492 02774 1 S 166 Ingeborg Bachmann Werke I Piper Verlag Munchen 1978 ISBN 3 492 02774 1 S 166 Vers 1 Ingeborg Bachmann Werke I Piper Verlag Munchen 1978 ISBN 3 492 02774 1 S 166 Vers 5 Ingeborg Bachmann Werke I Piper Verlag Munchen 1978 ISBN 3 492 02774 1 S 166 Vers 4 Cindy K Renker Lampensuchenderweise Paul Celans und Ingeborg Bachmanns Suche nach Wahrheit In Gernot Wimmer Hrsg Ingeborg Bachmann und Paul Celan Historisch poetische Korrelationen Untersuchungen Zur Deutschen Literaturgeschichte De Gruyter Berlin 2014 ISBN 978 3 11 033144 8 S 24 41 S 34 a b c d e f g h i Christine Golz Vom Sprechen und Schweigen in der russischen Lyrik des 20 Jahrhunderts In Heinz Hillmann Peter Huhn Hrsg Europaische Lyrik seit der Antike Vierzehn Vorlesungen University Press Hamburg 2005 ISBN 3 937816 14 3 S 313 abgerufen am 29 Marz 2015 a b c Ingeborg Bachmann Werke I Piper Verlag Munchen 1978 ISBN 3 492 02774 1 S 166 Vers 2 Ingeborg Bachmann Werke I Piper Verlag Munchen 1978 ISBN 3 492 02774 1 S 166 Vers 3 und 4 a b c d e Christine Golz Vom Sprechen und Schweigen in der russischen Lyrik des 20 Jahrhunderts In Heinz Hillmann Peter Huhn Hrsg Europaische Lyrik seit der Antike Vierzehn Vorlesungen University Press Hamburg 2005 ISBN 3 937816 14 3 S 314 abgerufen am 29 Marz 2015 Ingeborg Bachmann Werke I Piper Verlag Munchen 1978 ISBN 3 492 02774 1 S 166 Vers 1 Horst Bienek Wem es das Wort verschlagt In Marcel Reich Ranicki Frankfurter Anthologie Vierter Band Gedichte und Interpretationen 3 Auflage Insel Verlag Frankfurt 1991 ISBN 3 458 15348 4 S 198 Ingeborg Bachmann Werke I Piper Verlag Munchen 1978 ISBN 3 492 02774 1 S 166 Vers 9 Walter Helmut Fritz Ingeborg Bachmanns Gedichte In Heinz Ludwig Arnold Hrsg Text Kritik Zeitschrift fur Literatur edition Text und Kritik Heft 6 5 Auflage Munchen 1995 ISSN 0040 5329 S 29 35 a b Horst Bienek Wem es das Wort verschlagt In Marcel Reich Ranicki Frankfurter Anthologie Vierter Band Gedichte und Interpretationen 3 Auflage Insel Verlag Frankfurt 1991 ISBN 3 458 15348 4 S 199 Ingeborg Bachmann Werke I Piper Verlag Munchen 1978 ISBN 3 492 02774 1 S 166 Vers 10 und 11 a b Christine Golz Vom Sprechen und Schweigen in der russischen Lyrik des 20 Jahrhunderts In Heinz Hillmann Peter Huhn Hrsg Europaische Lyrik seit der Antike Vierzehn Vorlesungen University Press Hamburg 2005 ISBN 3 937816 14 3 S 315 abgerufen am 29 Marz 2015 Sigrid Weigel Ingeborg Bachmann Paul Zsolnay Verlag Wien 1999 ISBN 3 552 04927 4 S 355 Werke von Ingeborg Bachmann ProsaDas Honditschkreuz Die Fahre Im Himmel und auf Erden Das Lacheln der Sphinx Die Karawane und die Auferstehung Der Kommandant Auch ich habe in Arkadien gelebt Ein Geschaft mit Traumen Portrait von Anna Maria Der Schweisser Der Hinkende Das dreissigste Jahr Erzahlband Malina Roman Der Fall Franza Simultan Erzahlband LyrikDie gestundete Zeit Gedichtband u a mit den Gedichten Alle Tage und Die gestundete Zeit Anrufung des grossen Baren u a mit den Gedichten Erklar mir Liebe und Reklame Wahrlich Letzte unveroffentlichte Gedichte Ich weiss keine bessere WeltHorspieleEin Geschaft mit Traumen Die Zikaden Der gute Gott von Manhattan Die RadiofamilieLibrettiEin Monolog des Fursten Myschkin Der Prinz von Homburg Der junge LordEssays Probleme zeitgenossischer Dichtung Ein Ort fur Zufalle Romische Reportagen 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