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Die sprachliche Situation in Belarus zeichnet sich durch ein historisch bedingtes Nebeneinander verschiedener sprachlicher Kodes aus Die heute verbreitetsten sind Belarussisch Russisch und die sogenannte Trassjanka eine Form gemischter Rede in der sich belarussische und russische Elemente und Strukturen in schneller Folge abwechseln 1 Inhaltsverzeichnis 1 Geschichte 2 Entwicklung seit dem Zerfall der Sowjetunion 3 Siehe auch 4 EinzelnachweiseGeschichte BearbeitenDie fruhesten Texte aus den ethnisch belarussischen Gebieten die bekannt sind datieren aus dem 12 Jahrhundert 2 Dies sind auf Kirchenslawisch verfasste Schriftdenkmaler meist Heiligenlegenden und Predigten Im 13 und 14 Jahrhundert mehren sich Texte vor allem Urkunden die heute als typisch belarussisch geltende Merkmale in Phonetik Grammatik und Lexik aufweisen 3 Der Anteil von Elementen des Kirchenslawischen und autochthoner ostslawischer Mundarten darunter auch den belarussischen in den fruhen ostslawischen Texten ist im Einzelfall umstritten Generell kann jedoch gesagt werden dass in hoch bewerteten Textgattungen vor allem religiosen Texten das Kirchenslawische uberwog wahrend auf der anderen Seite in Alltagstexten deutlich die Volkssprache dominierte 4 Im spaten 14 sowie im 15 Jahrhundert erfolgte eine als Rebulgarisierung bekannte Archaisierung der kirchenslawischen religiosen Schriften um der vermeintlichen Verfalschung des gottlichen Wortes durch volkssprachliche Einflusse entgegenzuwirken 5 Dies vergrosserte erneut die Verstandlichkeitsbarriere des Kirchenslawischen fur die breite Bevolkerung Dies und der politische Aufstieg des Grossfurstentums Litauen das uber eine mehrheitlich slawische Bevolkerung verfugte trugen zur Entstehung einer Schriftsprache auf autochthoner ostslawischer Basis bei Diese entwickelte sich als Koine aus Mundarten die an die administrativen Zentren des Grossfurstentums angrenzten 6 Sie war Staatssprache des Grossfurstentums Litauen und wurde vor allem in Behorden Kanzleien und dem diplomatischen Schriftverkehr verwendet drang aber im Laufe der Zeit immer mehr auch in Domanen des Kirchenslawischen vor In zeitgenossischen Quellen wurde sie als ruskij jazyk bezeichnet was dazu gefuhrt hat dass sie von der vaterlandischen russischen Sprachgeschichtsschreibung bis heute als Teil der russischen Sprachgeschichte reklamiert wird 7 Die national orientierte belarussische Sprachgeschichtsschreibung hingegen beansprucht die genannte Sprache als Altbelarussisch fur sich was ebenfalls insofern problematisch ist als sich zur damaligen Zeit noch keine separate belarussische Identitat im heutigen Sinne herausgebildet hatte 8 Im Deutschen ist daruber hinaus der Begriff Ruthenische Sprache in Gebrauch der oft jedoch eher auf die sudliche aus heutiger Sicht ukrainische Variante der Staatssprache im Grossfurstentum Litauen abhebt Nach der Union von Lublin sowie der Kirchenunion von Brest verstarkte sich der Einfluss der polnischen Sprache und Kultur im Grossfurstentum Litauen was zum Bedeutungsverlust des Ruthenischen und schliesslich Verbot 1696 seiner Verwendung in amtlichen Dokumenten fuhrte Der Fortbestand belarussischer sprachlicher Elemente wurde in der Folge vor allem durch die Dialekte und mundlich uberlieferte Folklore gesichert Nach den Teilungen Polens blieb zunachst noch das Polnische die sozial dominante Sprache im heutigen Belarus wurde dann jedoch insbesondere nach dem Novemberaufstand durch das Russische abgelost Im Zuge der Romantik liessen sich im 19 Jahrhundert Dichter und Intellektuelle mit Abstammung aus den heutigen belarussischen Gebieten vom Sprachgebrauch der dortigen landlichen Bevolkerung inspirieren und schufen damit eine neue nicht an die Staatssprache des Grossfurstentums Litauen anknupfende Basis fur die moderne belarussische Schriftsprache 9 Die Sprachpolitik des Russischen Kaiserreichs betrachtete das Belarussische als Dialekt des Russischen und verbot nach dem Januaraufstand von 1863 an dem auch Belarussen beteiligt gewesen waren alle vorerst noch zaghaften Bestrebungen sprachlich kultureller Eigenstandigkeit 10 Intensiver wurden die Bemuhungen zur Schaffung einer modernen belarussischen Schriftsprache nach den Liberalisierungen infolge der Russischen Revolution 1905 als unter anderem das Druckverbot fur belarussische Schriften aufgehoben wurde 11 Eine herausragende Rolle fur die Entwicklung von Sprachnormen spielte die von 1906 bis 1915 erschienene Zeitung Nascha Niwa in der die Vordenker der damaligen belarussischen Nationalbewegung publizierten Einzug in das Schulwesen erhielt das Belarussische erstmals unter deutscher Besatzung im von 1915 bis 1918 bestehenden deutschen Besatzungsgebiet Ober Ost 6 In der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik wurde gemass der Leninschen Nationalitatenpolitik zunachst eine Politik zur Belarussifizierung des offentlichen Lebens sowie zum terminologischen Ausbau der belarussischen Sprache betrieben 11 Anfang der 1930er Jahre jedoch begann die sowjetische Staats und Parteifuhrung ihren ideologischen Kampf gegen den vermeintlichen lokalen Nationalismus was zum Ende der Belarussifizierungspolitik und im Verlauf der 1930er und 1940er Jahre zu schweren Repressionen bis hin zu physischer Vernichtung der national gesinnten belarussischen Intelligenz fuhrte 12 1934 wurde das Russische in der gesamten Sowjetunion zur uberregionalen Verkehrssprache erklart 1938 wurde fur die Schuler aller Schulen in den nicht russischen Sowjetrepubliken die Pflicht eingefuhrt das Russische zu lernen 6 Die Politik in Westbelarus hingegen das in der Zwischenkriegszeit zum polnischen Staat gehorte war auf eine langfristige Assimilation der belarussischen Bevolkerung durch das polnische Schulwesen und den romischen Katholizismus gerichtet 13 Entscheidenden Einfluss auf die sprachliche Entwicklung in den Nachkriegsjahrzehnten hatte die Industrialisierung und Verstadterung Sowjetbelarus das nach 1945 auch die zuvor polnischen Gebiete umfasste So wurden die Belarussen in den vormals russisch judisch und polnisch gepragten Stadten erstmals zur vorherrschenden Nationalitat 14 Zugleich aber entwickelte sich Belarus zur Sowjetrepublik mit dem hochsten Zuzug von Russen die oft berufliche Fuhrungspositionen einnahmen und damit zur Rolle des Russischen als Sprache des sozialen Aufstiegs beitrugen Dies fuhrte dazu dass vom Land in die Stadt ziehende Dialektsprecher des Belarussischen um Anpassung an die russischsprachige Umgebung bemuht waren Auf diese Weise verbreitete sich die intensive belarussisch russische Sprachmischung Trassjanka die auch an die folgende Generation weitergegeben wurde 15 Ein Gesetz das der Oberste Sowjet der Belarussischen Sowjetrepublik 1959 erliess ermoglichte es Schulern russischsprachiger Schulen sich vom Belarussisch Unterricht befreien zu lassen 1978 beschloss der Ministerrat der UdSSR bereits in allen ersten Klassen der nicht russischsprachigen Schulen Russischunterricht einzufuhren was die Position des Belarussischen weiter schwachte 16 Im Zuge der Perestroika wurde die Aufwertung der belarussischen Sprache zu einer entscheidenden Forderung der national gesinnten Intelligenz die sich in der Belarussischen Volksfront und enger sprachbezogen der Gesellschaft fur belarussische Sprache zu organisieren begann Unter dem Druck dieser Bewegung beschloss der Oberste Sowjet der Belarussischen Sowjetrepublik 1990 ein Sprachengesetz das Belarussisch zur einzigen Staatssprache erklarte Entwicklung seit dem Zerfall der Sowjetunion BearbeitenMit der Auflosung der Sowjetunion im Dezember 1991 blieb das belarussische Sprachengesetz in Kraft und es wurde eine Belarussifizierungspolitik betrieben deren Ziel es war innerhalb von zehn Jahren die wichtigsten Bereiche des offentlichen Lebens sprachlich ins Belarussische zu uberfuhren Ein besonderes Augenmerk wurde dabei auf das Schulwesen gelegt 17 Weite Teile der Bevolkerung lehnten die Belarussifizierungspolitik jedoch ab was Aljaksandr Lukaschenka 1994 in seiner ersten Prasidentschaftskampagne aufgriff Nach seiner Wahl initiierte er 1995 unter demokratisch fragwurdigen Umstanden ein Referendum in dem nach offiziellen Angaben 88 3 der Teilnehmer dafur pladierten das Russische dem Belarussischen rechtlich gleichzustellen 17 In der Neufassung des Sprachengesetzes wurde das Russische neben dem Belarussischen als Staatssprache genannt In der Praxis endete damit die Politik einer positiven Diskriminierung zugunsten des Belarussischen da in der Folge in allen wesentlichen Bereichen des offentlichen Lebens entweder das Russische oder das Belarussische benutzt werden konnte Aufgrund der jahrzehntelangen Dominanz des Russischen lief dies de facto auf eine ganz uberwiegende Verwendung des Russischen hinaus Vor allem in der zweiten Halfte der 1990er und der ersten Halfte der 2000er Jahre wurde die offentliche Verwendung des Belarussischen ausserhalb von Bildung und Kultur zum Symbol oppositioneller Gesinnung was durch geringschatzige Ausserungen Lukaschenkas uber die belarussische Sprache noch verstarkt wurde Angesichts einiger politisch okonomischer Konflikte mit Russland seit Mitte der 2000er Jahre und der Rolle Russlands in der Ukraine Krise ist jedoch in jungerer Zeit eine gewisse rhetorische Aufwertung der belarussischen Sprache feststellbar die sich allerdings bisher noch nicht in einer Anderung der faktischen Sprachpolitik widerspiegelt 14 In den bisherigen belarussischen Volkszahlungen von 1999 und 2009 wurde zum einen nach der Muttersprache zum anderen nach der ublicherweise zu Hause verwendeten Sprache gefragt Von den Burgern belarussischer Nationalitat nannten 1999 85 6 das Belarussische und 14 3 das Russische als Muttersprache 2009 60 8 das Belarussische und 37 0 das Russische Auf die Frage nach der ublicherweise zu Hause verwendeten Sprache nannten 1999 41 3 der Belarussen das Belarussische 58 6 das Russische 2009 waren die Werte 26 1 fur das Belarussische und 69 8 fur das Russische 14 Ein jungeres an der Universitat Oldenburg angesiedeltes soziolinguistisches Forschungsprojekt zur Situation in Belarus hat auf die Unzuverlassigkeit der Fragestellung in den Volkszahlungen hingewiesen und in Befragungen die Trassjanka als zusatzliche Antwortkategorie neben Belarussisch und Russisch hinzugefugt mit der Benennung als belarussisch russische Mischsprache Ausserdem wurden Mehrfachnennungen zugelassen Dabei ergaben sich auf die Frage an Belarussen nach der Muttersprache den Muttersprachen rund 49 Nennungen fur Belarussisch 38 fur die Trassjanka und 30 fur Russisch 18 Als ihre Erstsprache n nannten rund 50 die Trassjanka 42 das Russische und 18 das Belarussische Als hauptsachlich verwendete Sprache hier war keine Mehrfachnennung moglich gaben 55 der befragten Belarussen Russisch an 41 die Trassjanka und 4 Belarussisch Neben Russisch Belarussisch und der Trassjanka sind in Belarus in deutlich geringerem Masse Sprachen nationaler Minderheiten verbreitet Laut Volkszahlung von 2009 verwendet die uberwiegende Mehrheit der Nicht Belarussen im Alltag das Russische Gewohnlich zu Hause gesprochene Sprache der Bevolkerung der jeweiligen ethnischen Gruppe laut Volkszahlung 2009 19 Nationalitat Bevolkerung in Tausend Belarussisch RussischGesamt 9 504 23 4 70 2Belarus nbsp Belarussen 7 957 26 1 69 8Russland nbsp Russen 0 785 0 2 1 96 5Polen nbsp Polen 0 295 40 9 50 9Ukraine nbsp Ukrainer 0 159 0 6 1 88 4 nbsp Juden 0 0 13 0 2 0 95 9Siehe auch BearbeitenBelarussische Sprache Gesellschaft fur belarussische Sprache TrassjankaEinzelnachweise Bearbeiten G Hentschel Belarusian and Russian in the Mixed Speech of Belarus In J Besters Dilger u a Hrsg Congruence in Contact Induced Language Change Language Families Typological Resemblance and Perceived Similarity Berlin Boston 2014 S 93 121 A McMillin Belorussian In A Schenker E Stankiewicz Hrsg The Slavic literary languages Formation and development New Haven 1980 S 105 117 M Pryhodzic Z historyi belaruskaj movy i jaje vyvucennja In A Lukasanec u a red Belaruskaja mova Opole 1998 S 13 24 B Uspenskij Istorija russkogo literaturnogo jazyka XI XVII vv Munchen 1987 H Birnbaum On the significance of the second south Slavic influence for the evolution of the Russian literary language In International Journal of Slavic Linguistics and Poetics 21 1975 S 23 50 a b c H Cychun Weissrussisch In M Okuka Hrsg Lexikon der Sprachen des europaischen Ostens Klagenfurt 2002 S 563 579 M Bruggemann Unentbehrliches Russisch entbehrliches Weissrussisch Russophone zur Sprachgeschichte und Sprachverwendung in Weissrussland In S Kempgen u a Hrsg Deutsche Beitrage zum 15 Internationalen Slavistenkongress Minsk 2013 Munchen u a 2013 S 89 98 S Plokhy The origins of the Slavic nations Premodern identities in Russia Ukraine and Belarus Cambridge 2006 J Dingley Sprachen in Weissrussland bis zum Ende des 19 Jahrhunderts In D Beyrau R Lindner Hrsg Handbuch der Geschichte Weissrusslands Gottingen 2001 S 437 450 M Bruggemann Die weissrussische und die russische Sprache in ihrem Verhaltnis zur weissrussischen Gesellschaft und Nation Ideologisch programmatische Standpunkte politischer Akteure und Intellektueller 1994 2010 Studia Slavica Oldenburgensia 23 Oldenburg 2014 a b K Gutschmidt Sprachenpolitik und sprachliche Situation in Weissrussland seit 1989 In B Panzer Hrsg Die sprachliche Situation in der Slavia zehn Jahre nach der Wende Frankfurt am Main u a 2000 S 67 84 B Plotnikaŭ Aussere Ursachen fur die begrenzte Verwendung der weissrussischen Sprache In Die Welt der Slaven 45 2000 S 49 58 Hermann Bieder Konfession Ethnie und Sprache in Weissrussland im 20 Jahrhundert In Zeitschrift fur Slawistik 45 2000 S 200 214 a b c M Bruggemann Zwischen Anlehnung an Russland und Eigenstandigkeit Zur Sprachpolitik in Belarus In Europa ethnica 3 4 2014 S 88 94 G Hentschel u a Trasjanka und Surzyk gemischte weissrussisch russische und ukrainisch russische Rede Sprachlicher Inzest in Weissrussland und der Ukraine Frankfurt am Main u a 2014 S Zaprudski In the grip of replacive bilingualism the Belarusian language in contact with Russian In International Journal of the Sociology of Language 183 2007 S 97 118 a b S Zaprudski Language policy in the Republic of Belarus in the 1990s 2000 G Hentschel B Kittel Weissrussische Dreisprachigkeit Zur sprachlichen Situation in Belarus auf der Basis von Urteilen von Belarusen uber die Verbreitung ihrer Sprachen im Lande In Wiener Slawistischer Almanach 67 2011 S 107 135 belstat gov by Memento des Originals vom 18 Oktober 2013 im Internet Archive nbsp Info Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht gepruft Bitte prufe Original und Archivlink gemass Anleitung und entferne dann diesen Hinweis 1 2 Vorlage Webachiv IABot belstat gov by Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Sprachen in Belarus amp oldid 236961269