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Die Rachetragodie ist eine spezifische Form der Tragodie in deren Zentrum die Rache des Protagonisten fur ein tatsachliches oder vermeintliches Unrecht steht 1 Der Begriff der Rachetragodie revenge tragedy wurde erstmals um 1900 von dem amerikanischen Shakespeare Forscher Ashley Horace Thorndike verwendet um eine genrespezifische Gruppe von Dramen aus der spatelisabethanischen und jakobaischen Epoche zwischen 1580 und 1620 zu klassifizieren die sich eine spezielle Form der klassischen antiken Tragodie zum Vorbild nehmen 2 Wahrend bei dieser sich das Tragische im Wesentlichen aus der so genannten Fallhohe des adligen tragischen Helden ergibt beschaftigt sich die elisabethanisch jakobaische Rachetragodie vornehmlich mit dem Problem ein Unrecht zu suhnen ohne selbst unrecht zu handeln Der Held scheitert an der Unauflosbarkeit dieses Widerspruchs Um der Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen muss er nun selbst schuldig geworden bei der Ausfuhrung der Rache sterben Die Rachetragodie gehorte zu den beliebtesten Dramentypen auf englischen Buhnen im spaten 16 und fruhen 17 Jahrhundert Dabei wurde die Handlung auf der Grundlage des Rachemotivs konstruiert und der Racher handelt zumeist gegen den Widerstand der Gesellschaft mitunter auch im Konflikt mit dem eigenen Gewissen Die Popularitat dieser Dramenform im elisabethanischen Theater fusst insbesondere auf dem damaligen Publikumsinteresse an den widerspruchlichen Auffassungen zur Problematik der privaten Rache War die Blutrache im anarchischen Zeitalter der Rosenkriege noch weithin ublich und gesellschaftlich allgemein akzeptiert so wuchsen in der Folgezeit die Widerstande von Seiten der Kirche Gleichzeitig wurde die private Rache vom erstarkenden Zentralstaat im 16 Jahrhundert als Verletzung seines Gewaltmonopols und Gefahrdung der offentlichen Ordnung gesehen Im Gegensatz zu der immer eindeutiger werdenden offiziellen Verurteilung der privaten Rache war jedoch vor allem in Adelskreisen die in einer Tradition jahrhundertelanger eigener Rechtsausubung standen und Rache als eine Ehrensache begriffen ein Rachekodex verbreitet in dem in bestimmten Konstellation die Blutrache als eine normative Verpflichtung galt Eine solche Pflicht zur Blutrache bestand nach dieser Vorstellung insbesondere dann wenn staatliche Instanzen sich weigerten oder nicht in der Lage waren ein Verbrechen zu suhnen Auch wenn es nicht moglich war eindeutige Beweise fur ein Verbrechen zu erbringen wurde fur den Racher ein besonderes Verstandnis gezeigt wenn er sich verpflichtet fuhlte den Mord an einem nahen Blutsverwandten seiner Ehefrau seiner Geliebten oder einem engen Freund zu rachen 3 Thomas Kyd The Spanish Tragedy Titelseite des Quarto Nr 7 Q7 von 1615 Das spezifische Handlungsmuster dieser elisabethanischen Form der Rachetragodie mit einer ambivalenten Einschatzung der Rache dem auf Rache sinnenden Geist als Chor und dem Spiel im Spiel zur Entlarvung des Morders wurde erstmals von Thomas Kyd mit seinem Stuck The Spanish Tragedie entwickelt das zwischen 1582 und 1592 entstand Die besondere buhnen und gattungsgeschichtliche Bedeutung dieses Werkes findet ihren Ausdruck nicht nur in den zehn Druckauflagen des Werkes zwischen 1592 und 1633 sondern ebenso in zahllosen Bearbeitungen und intertextuellen Anspielungen Ubernahmen oder Verweisen in anderen Stucken verschiedenster Verfasser der damaligen Zeit Die stilbildende Wirkung von Kyds Modell auf nachfolgende Rachetragodien zeigt sich vor allem in dramatischen Motiven und strukturellen Elementen wie dem Auftritt eines zur Rache mahnenden Geistes der raffiniert eingefadelten Intrige und Tauschung bei der Umsetzung der Rache dem zogerlichen Handeln des Rachers dem Spiel im Spiel dem Wahnsinn aus unertraglichem Schmerz dem nur vorgetauschten Wahnsinn dem Typ des machiavellistischen Schurken als Gegenspieler des Protagonisten oder dem suhnenden Selbstmord des Rachers die von Kyd teilweise aus der italienischen Novellenliteratur ubernommen dann zu etablierten Konventionen der elisabethanischen Rachetragodie wurden Besonders wirkungsvoll ist in Kyds Spanischer Tragodie daruber hinaus der schnelle Wechsel in der Handlung zwischen sensationellen aktionsgefullten Szenen und verweilenden von dusterer Stimmung oder Vorahnung gezeichneten Szenen Auch die Verknupfung des Rachemotivs und der dazu gehorenden Gewalttaten mit dem Motiv der romantischen Liebe kennzeichnet die exemplarische Gestaltungsform der Kydschen Rachetragodie Damit gelingt Kyd im Vergleich zu fruheren Versuchen einer Dramatisierung des Rachemotivs im schematischen Rahmen der Moralitatenstruktur erstmals die volle Ausschopfung des dramatischen Potentials dieser neuen Tragodienform In prototypischer Weise enthalt Kyds Werk bereits alle charakteristischen Elemente des neuen Genres Zu Beginn oder vor Anfang des Handlungsgeschehens wird ein Mord begangen der aus unterschiedlichen Grunden ungesuhnt bleibt Der Protagonist des Dramas steht in einem engen Verhaltnis zum Mordopfer zumeist als einziger erhalt er Kenntnis von dem Verbrechen das in einem Zusammenhang verubt wurde in dem es aus den unterschiedlichsten Grunden nicht moglich ist Suhne fur das Geschehene zu erlangen Auf diesem Hintergrund entsteht fur den Protagonisten die Verpflichtung selber Rache zu uben um die Gerechtigkeit wiederherzustellen Mit dieser Verpflichtung verandert sich sowohl die Personlichkeit des Protagonisten als auch sein Verhaltnis zu den ubrigen Figuren des Dramas Die Racheproblematik kann eine Deformation der psychischen Struktur und Einschrankung bzw Ausserkraftsetzung der kritischen Urteilsfahigkeit des Protagonisten bis hin zum Wahnsinn bewirken da die moralische Verpflichtung zur Blutrache nach den geltenden sozialen Normen und Wertvorstellungen nicht mehr eindeutig ist Mit der Kenntnis der Tat und Entscheidung zur Rache trotz eines Wertekonflikts isoliert sich der Protagonist zunehmend Dies zwingt ihn zu List und Verstellung da er keine soziale Unterstutzung erhalt sondern mit gesellschaftlichem Widerstand rechnen muss Ein solches Grundmuster der Rachetragodie ermoglicht in der weiteren Entwicklung eine ungewohnliche Vielzahl von dramatischen Variationen So kann beispielsweise die Rachehandlung in unterschiedlichste soziale Milieus verlagert und durch Parallelhandlungen nahezu unbegrenzt erweitert werden Ebenso konnen die sozialen oder emotionalen Beziehungen zwischen den handlungsentscheidenden Dramenfiguren des Mordopfers des Rachers und des Racheopfers variiert werden Durch effektvolle Ausgestaltung oder Steigerung der Grausamkeiten in der Racheausubung konnte das bestehende Publikumsbedurfnis nach drastischen Buhnenaktionen befriedigt werden ebenso konnte die Figur des Rachers sowohl als Held wie auch als Schurke gezeichnet werden und die Sympathien des Publikums durch entsprechende Fokussierung wahlweise auf den Racher oder das Racheopfer gelenkt werden In seinem Prototyp der Rachetragodie entwickelt Kyd zugleich ein Repertoire von Buhnenkonventionen wie etwa der Geistererscheinung der Verkleidung des Rachers der Hinauszogerung der Rache oder der Nutzung des Spiels im Spiel fur die Demaskierung des Morders bzw den Vollzug der Rache 4 Der pragende Einfluss von Kyds Grundtypus der Rachetragodie zeigt sich beispielsweise in zeitgenossischen Stucken wie William Shakespeares Titus Andronicus uraufgefuhrt zwischen 1589 und 1592 John Marstons Antonio s Revenge 1599 1601 Thomas Middletons The Revenger s Tragedy 1607 oder George Chapmans Revenge of Bussy d Ambois um 1610 Ein Vorlaufer fur den gemeinsamen Auftritt des Geistes des Ermordeten und der allegorischen Figur der Rache am Anfang der Spanischen Tragodie findet sich in der Seneca zugeschriebenenantiken Tragodie Thyestes Kyd zeigt sich in The Spanish Tragedie ebenso von weiteren Elementen aus Senecas Tragodien inspiriert so etwa in seiner hochstilisierten sprachlichen Rhetorik des Dramas den langen Selbstgesprachen oder den stichomythischen Dialogen bringt aber im Gegensatz zu Seneca die vielen Blut und Graueltaten im Einklang mit der elisabethanischen Theaterpraxis unmittelbar zur Auffuhrung 5 Als wohl bekannteste Rachetragodie die typologisch nicht nur in ihrem zentralen Motiv sondern auch in zahlreichen weiteren dramatischen Details von Kyds Werk beeinflusst wurde gilt Shakespeares Hamlet Die Titelfigur ist verpflichtet den Mord am Vater zu rachen der von seinem Bruder und jetzigen Konig getotet wurde Als direktes Vorbild fur Shakespeares Drama wird in der Forschung ein von Kyd verfasster nicht uberlieferter Ur Hamlet vermutet Trotz der erkennbaren Ubernahme der konventionellen Elemente der Rachetragodie wie Racheauftrag Verzogerung des Vollzugs soziale Isolation des Protagonisten und Spannungsverhaltnis zu den Mithandelnden verandert Shakespeare jedoch deren Anordnung und weist ihnen neue Funktionen zu Der dramatische Fokus ist hier weniger auf die Wandlung des Protagonisten zum Racher und die spektakulare Racheausubung gerichtet sondern primar auf die Prasentation eines sensiblen reflektierenden Menschen der einer emotionalen moralischen und intellektuellen Belastungsprobe unterzogen wird die ihn bis an den Rand seiner volligen psychischen Zerstorung fuhrt In mehreren anderen Werken Shakespeares tritt die Rache als Nebenmotiv auf so etwa in den Dramen Richard III Romeo und Julia Julius Caesar Macbeth Othello oder Coriolanus 6 In der Weiterentwicklung des Typus der Rachetragodie wird die Rache in nachfolgenden Buhnenwerken immer starker mit didaktischer Absicht aus verschiedenen Perspektiven eindeutig verurteilt beispielsweise in Thomas Middletons und William Rowleys A Fair Quarret 1616 oder Philip Massingers Fatal Dowry 1619 Zugleich werden verstarkt romanzenhafte Elemente mit dem Rachemotiv verwoben Das dramatische Interesse an der Rache als konfliktbeladenem Problem nimmt ab sie steht kaum noch als primares Handlungsziel des Protagonisten im Mittelpunkt der Handlung Stattdessen erscheint die Rache zunehmend als ein plausibles Motiv unter anderen zur Gestaltung des Beziehungsgefuges zwischen den Dramenfiguren wobei die Rache als Handlungsmotiv verstarkt der Figur des Schurken zugeschrieben wird durch den ein tragischer Handlungsablauf herbeigefuhrt werden kann Der renommierte Anglist und Literaturwissenschaftler Wolfgang Weiss fuhrt das wachsende Desinteresse des Publikums an der konventionellen Rachetragodie darauf zuruck dass auch in den adligen Kreisen die private Rache in Form des Duells immer weiter durch einen strengen Kodex reglementiert und damit entscharft wurde mithin keine Gefahr fur die staatliche Rechtsausubung mehr darstellte Daruber hinaus konnten laut Weiss die burgerlichen Schichten die aufgrund ihrer christlichen Ausrichtung wenig Verstandnis fur die Rache als Handlungsmotiv zeigten ihre sozialen Normen und Wertvorstellungen immer selbstbewusster durchsetzen 7 Einzelnachweise Bearbeiten Vgl den entsprechenden Eintrag Revenge tragedy in der Encyclopaedia Britannica Abgerufen am 19 April 2020 Vgl John Kerrigan Revenge Tragedy Aeschylus to Armageddon Oxford University Press Oxford 1996 Siehe auch die entsprechende Rezension von Linda Charnes In Shakespeare Quarterly Vol 48 No 4 Winter 1997 S 501 505 hier S 501 online auf jstor unter 1 Abgerufen am 19 April 2020 Vgl ausfuhrlich Wolfgang Weiss Das Drama der Shakespeare Zeit Versuch einer Beschreibung Kohlhammer Verlag Stuttgart et al 1979 ISBN 3 17 004697 7 S 148ff online als PDF Datei 2 Siehe auch Wolfgang Weiss Die Rachetragodie In Ina Schabert Shakespeare Handbuch Die Zeit der Mensch das Werk die Nachwelt Kroner Stuttgart 1972 ISBN 3 520 38601 1 5 durchgesehene und erganzte Auflage ebenda 2009 ISBN 978 3 520 38605 2 S 66 Siehe Wolfgang Weiss Das Drama der Shakespeare Zeit Versuch einer Beschreibung Kohlhammer Verlag Stuttgart et al 1979 ISBN 3 17 004697 7 S 151f online als PDF Datei 3 Vgl eingehend Wolfgang Weiss Das Drama der Shakespeare Zeit Versuch einer Beschreibung Kohlhammer Verlag Stuttgart et al 1979 ISBN 3 17 004697 7 S 150ff online als PDF Datei 4 Siehe auch Wolfgang Weiss Die Rachetragodie In Ina Schabert Shakespeare Handbuch Die Zeit der Mensch das Werk die Nachwelt Kroner Stuttgart 1972 ISBN 3 520 38601 1 5 durchgesehene und erganzte Auflage ebenda 2009 ISBN 978 3 520 38605 2 S 65f Siehe auch den entsprechenden Eintrag Revenge tragedy in der Encyclopaedia Britannica Abgerufen am 19 April 2020 Vgl ebenfalls Lass mich fluchen toben schreien Beitrag von Ruth Fuhner vom 8 November 2008 im Deutschlandfunk Abgerufen am 19 April 2020 Vgl Wolfgang Weiss Die Rachetragodie In Ina Schabert Shakespeare Handbuch Die Zeit der Mensch das Werk die Nachwelt Kroner Stuttgart 1972 ISBN 3 520 38601 1 5 durchgesehene und erganzte Auflage ebenda 2009 ISBN 978 3 520 38605 2 S 66 Siehe auch den entsprechenden Eintrag Revenge tragedy in der Encyclopaedia Britannica Abgerufen am 19 April 2020 Vgl ebenfalls Michael Dobson Stanley Wells Hrsg The Oxford Companion to Shakespeare Oxford University Press Oxford 2001 2 rev Auflage 2015 ISBN 978 0 19 870873 5 S 464 und detailliert Wolfgang Weiss Das Drama der Shakespeare Zeit Versuch einer Beschreibung Kohlhammer Verlag Stuttgart et al 1979 ISBN 3 17 004697 7 S 150 157 online als PDF Datei 5 Vgl zur typologischen Zuordnung von Shakespeares Hamlet zum Genre der Rachetragodie auch Ulrich Suerbaum Shakespeares Dramen Francke Verlag Tubingen und Basel 1996 2 uberarb Aufl 2001 ISBN 3 8252 1907 0 S 177f Vgl Wolfgang Weiss Das Drama der Shakespeare Zeit Versuch einer Beschreibung Kohlhammer Verlag Stuttgart et al 1979 ISBN 3 17 004697 7 S 157 online als PDF Datei 6 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Rachetragodie amp oldid 214764527