Ludwig Gumplowicz (auch: Ludwig Gumplowitsch; polnisch Ludwik Gumplowicz; * 9. März 1838 in der Republik Krakau (heute Polen); † 19. August 1909 in Graz, Österreich) war ein polnischer Jurist und Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Graz. Er gilt als einer der Gründerväter der europäischen Soziologie. In seinem Werk „Der Rassenkampf“ entwarf er eine sozialdarwinistisch begründete Rassentheorie.
Leben Bearbeiten
Gumplowicz wurde als Sohn des Krakauer Rabbiners Simon Gumplowicz in eine alteingesessene Familie galizischer Rabbiner hineingeboren. Der Karriere wegen hatte er sich taufen lassen, behielt aber zeitlebens ein lebhaftes Interesse an jüdischen Angelegenheiten, etwa an der Frage nach einer „jüdischen Nationalität“.
Gumplowicz studierte Jura an der Jagiellonen-Universität in Krakau und wurde dort Anwalt und Publizist. Als glühender polnischer Patriot nahm er 1863 am Januaraufstand der Polen gegen Russland teil. Infolge des Scheiterns dieses Aufstandes und aufgrund fortwährender nationalistischer Agitation musste Gumplowicz Krakau verlassen.
1876 begann er seine akademische Lehrtätigkeit in Graz als Privatdozent für Verwaltungslehre und er wurde dort 1882 außerordentlicher, 1893 ordentlicher Professor (lehrte bis 1908).
Von seinen Söhnen spielte Władysław in der sozialistischen Partei eine Rolle, während Maximilian (Max Gumplowicz, Wien), sich der Erforschung der mittelalterlichen polnischen Geschichte widmete und in einem Werk über die Anfänge der jüdischen Religion in Polen (Początki religii żydowskiej w Polsce, 1903) die zweifelhafte These vom chazarischen Ursprung der polnischen Juden vertrat.
Der Sohn Maximilian starb bereits 1894. Ludwig Gumplowicz schrieb eine Widmung in dem in Innsbruck veröffentlichten Buch aus dem Nachlass Max Gumplowicz' über die Geschichte Polens. 1909 nahm Ludwig Gumplowicz sich, seit langem unheilbar an Zungenkrebs erkrankt, zusammen mit seiner fast erblindeten Frau das Leben. Diese Nachricht wurde in Kreisen des sehr beliebten Professors mit großer Erschütterung vernommen.
Lehre Bearbeiten
Seine Herkunft aus der alsbald vom Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn annektierten Republik Krakau und aus jüdischer Familie machte ihn mit der Problematik unterdrückter Ethnien früh vertraut und beeinflusste sein lebenslanges Eintreten für die Sache vor allem der slawischsprachigen Minderheiten im Habsburgerreich.
Soziologisch ein früher Vertreter der späteren Konfliktsoziologie, nahm er zunächst die „Rassen“, nach seiner „soziologischen Wende“ die „Gruppen“ zum Ausgangspunkt und sah den Staat als Unterwerfungs-Institution jeweils bestimmter herrschender Gruppen (vgl.: Elite). Theodor Geiger sah in ihm wie in Émile Durkheim einen Vertreter des Soziologismus, d. h. der Auffassung, dass die Gesellschaft als solche eine Art von Über-Persönlichkeit darstelle, die eine von ihren Gliedern unabhängige Existenz lebe. Gumplowicz Theorie lässt sich generell dem sozialwissenschaftlichen Positivismus unterordnen, demzufolge soziale Entwicklungen natürlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, die aufzudecken die Aufgabe der Soziologie sei.
Seine politischen Standpunkte und sein polemisches Temperament führten ihm zahlreiche polnische und italienische Studenten zu, so dass seine Theorien in Polen und Italien, aber auch in den Kronländern Kroatien und Böhmen Einfluss gewannen, während er von Seiten deutscher Soziologen weniger Beachtung fand. Unter den beeinflussten Gelehrten ragt Gustav Ratzenhofer hervor.
Im Jahr 1959 wurde in Wien-Donaustadt (22. Bezirk) die Gumplowiczstraße nach ihm benannt.
„Rassenkampf“ Bearbeiten
In seinem Buch „Der Rassenkampf“ (1883/1909) behauptete Gumplowicz, der Mensch habe sich „seiner Natur, seinen Trieben und Bedürfnissen, seinen Fähigkeiten und geistigen Eigentümlichkeiten nach“ seit der Urzeit nicht geändert. Gumplowicz folgerte aus Naturgesetzen, dass „die Masse der Organismen auf der Erde immer die gleiche bleiben muss und dass dieselbe durch kosmische Verhältnisse unseres Erdballs bedingt ist ... Vermehren sich die einen, dann müssen die anderen zugrunde gehen.“ Es sei die Aufgabe der Soziologie, Darwins allgemeine Entwicklungsgesetze auf den Menschen auf sein soziales Handeln anzuwenden. Die Soziologie ist nach Gumplowicz eine „Lehre von den sozialen Gruppen, ihrem gegenseitigen Verhalten und ihren dadurch bedingten Schicksalen“. Der einzelne Mensch gilt Gumplowicz als soziales Atom, als passives Glied einer Gruppe und Produkt seiner Umwelt. Die Gruppe ist das die Menschen verbindende soziale Element. Soziale Erscheinungen sind nach Gumplowicz „Verhältnisse, die durch das Zusammenwirken von Menschengruppen und Gemeinschaften zustande kommen“. In den Gruppen herrschen definierte Regeln. Die „soziale Tätigkeit“ ist nach Gumplowicz die „Selbsterhaltung der Gruppe, [die] die Mehrung ihrer Macht, Begründung und Kräftigung ihrer Herrschaft oder doch ihrer sozialen Stellung in Staat und Gesellschaft zum Zwecke hat“. Im Gegensatz zu Karl Marx’ historischem Materialismus nahm Gumplowicz an, dass eine stetige historische Weiterentwicklung nicht existiere. Der einzige konstante Faktor der Geschichte sei der „Rassenkampf“. Das „soziale Naturgesetz“ besagt nach Gumplowicz: „[…] jedes mächtigere ethnische oder soziale Element strebt danach, das in seinem Machtbereich befindliche oder dahin gelangende schwächere Element seinen Zwecken dienstbar zu machen“. Kampf und Krieg, Unterjochung und Ausbeutung seien durchgängige Motive der sozialen Bewegung, die nicht ausgelöscht werden könnten.
Antizionismus Bearbeiten
Gumplowicz war erklärter Gegner des Zionismus, obwohl er nicht gegen ihn auftrat. Seine Einstellung geht aus einer interessanten Briefkorrespondenz hervor, die er mit Herzl im Dezember 1899 führte. Brief Herzls an Ludwig Gumplowicz in Graz (11. Dezember 1899):
Gumplowicz' Antwort vom 12. Dezember 1899:
Schriften (Auswahl) Bearbeiten
- Jüdische Zustände in Krakau einst und jetzt, 1859
- Prawodawstwo polskie względem Żydów, Krakau 1867 (über die Geschichte der Judengesetzgebung in Polen)
- Raçe und Staat, 1875 (2. überarb. Aufl. als „Rasse und Staat“ 1909 im Anhang zur 2. Aufl. von Der Rassenkampf)
- Philosophisches Staatsrecht, 1877 (2. Aufl. unter dem Titel Allgemeines Staatsrecht, Innsbruck 1897; Übersetzung der 1. Aufl. ins Spanische durch Pedro Dorado Montero, 1898)
- Das Recht der Nationalitäten und Sprachen in Österreich-Ungarn, Wien 1879
- Rechtsstaat und Sozialismus, Wien 1881
- Verwaltungslehre mit Berücksichtigung des österreichischen Verwaltungsrechts, Wien 1882
- Der Rassenkampf, soziologische Untersuchungen, Wien 1883, online. (2. Aufl. 1909; Übersetzung ins Französische durch Charles Baye, 1893)
- Grundriss der Soziologie, Wien 1885 (ebenfalls von Baye übersetzt)
- 2. Auflage 1905 (online)
- Einleitung in das österreichische Staatsrecht, Berlin 1889 (2. Aufl. Berlin 1896 unter dem Titel Kompendium der österreichischen Rechtsgeschichte)
- Österreichisches Staatsrecht, Wien 1891 (2. Aufl. 1902)
- Die soziologische Staatsidee, Graz 1892 (2. Aufl. Innsbruck 1902)
- Soziologische Essays, Innsbruck 1899
- Soziologie und Politik, Leipzig 1902
- Geschichte der Staatstheorien, 1905
- Sozialphilosophie im Umriss, postum 1910
Herausgeberschaft Bearbeiten
- Ludwig Gumplowicz gab 1869–1874 die Zeitschrift Kraj (Land) heraus
Literatur (Auswahl) Bearbeiten
- Horst Reimann: Gumplowicz, Ludwig. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 7, Duncker & Humblot, Berlin 1966, ISBN 3-428-00188-5, S. 307 f. (Digitalisat).
- Gumplowicz Ludwig. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950 (ÖBL). Band 2, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1959, S. 106 f. (Direktlinks auf S. 106, S. 107).
- D. Goetze: Die Staatstheorie von Ludwig Gumplowicz. 1969. Universität Heidelberg, Dissertation.
- Hans Kammler: Der Ursprung des Staates. Eine Kritik der Überlagerungslehre, Westdt. Verlag, Köln 1966.
- John F. Oppenheimer (Red.) u. a.: Lexikon des Judentums. 2. Auflage. Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh u. a. 1971, ISBN 3-570-05964-2, Sp. 263.
- G. Salomon: Ausgewählte Werke von Ludwig Gumplowicz, 4 Bde., Innsbruck 1926–1928.
- Julius Hans Schoeps (Hrsg.): Neues Lexikon des Judentums. Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/München 1992, ISBN 3-570-09877-X, S. 177.
- B. J. Stern (Hrsg.): The letters of Ludwig Gumplowicz to L. F. Ward. 1933.
- Salomon Wininger: Grosse Jüdische National-Biographie, Czernowitz, 1925–1936, Bd. II, S. 554 f.; Bd. VII., S. 40.
- B. Zedrowski: Ausführliche Bio-Bibliographie Gumplowiczs. Berlin 1926.
Weblinks Bearbeiten
- Literatur von und über Ludwig Gumplowicz im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Webedition der Uni Graz
Einzelnachweise Bearbeiten
- Vgl. Horst Reimann, in NDB Bd. 7 (1960), S. 307 f.
- Ludwig Gumplowicz und Gattin nahmen Gift, 1909
- Theodor Geiger: Ideologie und Wahrheit. Eine soziologische Kritik des Denkens. Luchterhand : Neuwied und Berlin 2. Aufl. 1968. S. 19
- Ludwig Gumplowicz: Grundriss der Soziologie. Manzsche k.u.k. Hof- Verlags- und Universitäts-Buchhandlung : Wien 2. Aufl. 1905. S. 5 und S. 157
- Der Rassenkampf. Innsbruck 1928, S. 103f.
- Der Rassenkampf. Innsbruck 1928, S. 66f.
- Der Rassenkampf. 1883
- Georg Lukács: Die Zerstörung der Vernunft. Berlin/DDR 1955, S. 543–548
- Hier zitiert aus der Werkausgabe, Herzl, Briefe und Tagebücher, Frankfurt am Main u. a. 1991, Bd. 5, S. 267 f. u. zugehörige Anmerkung
- Zu dieser Korrespondenz vgl.: Werner J. Cahnman, Scholar and Visionary. The Correspondence Between Herzl and Ludwig Gumplowicz. In: Herzl Year Book I., 1958.