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Die Insel des vorigen Tages ist der dritte Roman von Umberto Eco der 1994 im italienischen Original unter dem Titel L isola del giorno prima und 1995 in der deutschen Ubersetzung von Burkhart Kroeber erschienen ist Er erzahlt die angeblich wahre Geschichte des piemontesischen Landadligen Roberto de La Grive der um die Mitte des 17 Jahrhunderts auf der Suche nach der Losung des Problems der Langengrade an der Datumsgrenze in der Sudsee verschollen sein soll Inhaltsverzeichnis 1 Inhalt 2 Stil und Aufbau 3 Das Symbol der Taube 4 Aufnahme in der Kritik 5 Ausgaben 6 Sekundarliteratur 7 AnmerkungenInhalt BearbeitenDer Erzahler behauptet die Geschichte anhand von fragmentarischen Aufzeichnungen und Briefen aus dem 17 Jahrhundert so getreu wie moglich rekonstruiert zu haben Im Juli oder August des Jahres 1643 befindet sich ein junger Italiener namens Roberto de La Grive als Schiffbruchiger in der Sudsee auf einem verlassenen Segelschiff namens Daphne das in Sichtweite einer einsamen Insel vor Anker liegt und schreibt Briefe an eine nicht genauer definierte Signora aus denen sich sein bisheriges Leben und die Erklarung seiner seltsamen Lage allmahlich ergeben In der Gegend von Alessandria 1 als Sohn eines kleinen Landadeligen aufgewachsen erfindet sich Roberto weil er sich einsam fuhlt einen Halbbruder und Doppelganger den er Ferrante nennt und spater manchmal tatsachlich zu sehen wahnt Im Fruhjahr 1630 im Alter von 16 Jahren reitet er mit seinem Vater und dessen Mannen nach Casale im benachbarten Monferrato um die im Mantuanischen Erbfolgekrieg von den Spaniern belagerte Stadt zu verteidigen Im Kampf gegen die Spanier kommt sein Vater ums Leben und Roberto fuhlt sich noch einsamer als zuvor Beeinflusst von einem franzosischen Edelmann den er in Casale kennengelernt hat geht er schliesslich nach Frankreich studiert in Aix en Provence bei einem nicht weiter prazisierten Kanonikus von Digne 2 und gelangt sodann nach Paris wo er Anschluss an freigeistige Kreise findet in den Salons der Precieuses verkehrt jener adligen Damen die geistreiche unkonventionelle Gesprache lieben und sich in die schone Lilia verliebt was er ihr jedoch nicht zu sagen wagt sondern nur in schmachtenden aber nicht abgeschickten Briefen ausdruckt Um die Angebetete zu beeindrucken halt er Anfang Dezember 1642 in einem Pariser Salon einen Vortrag uber die Liebe als materielle Kraft die dem sympathetischen Pulver vergleichbar sei einer Substanz mit der man Wunden auf Distanz heilen oder auch verschlimmern konne wenn man sie auf die Klinge streue mit der die Wunde geschlagen worden sei Am Abend nach diesem Vortrag taucht ein Hauptmann bei Roberto auf verhaftet ihn und bringt ihn zu Kardinal Mazarin Wahrend Kardinal Richelieu nebenan auf dem Sterbebett liegt beschuldigt Mazarin den Verhafteten des Hochverrats Seine einzige Chance der Todesstrafe zu entgehen sei die Durchfuhrung einer geheimen Mission Ein junger Mann von Anfang Zwanzig namens Colbert der sich auf vielversprechende Weise in die Geheimnisse der Staatsverwaltung einarbeitet wie Mazarin ihn vorstellt erlautert Roberto worum es geht Auf hoher See konne man zwar mit Hilfe der Gestirne und schon seit der Antike bekannter Navigationsinstrumente den jeweiligen Breitengrad ermitteln aber das genuge nicht um beispielsweise eine bestimmte Insel spater wiederzufinden Dazu musse man auch den Langengrad kennen Doch leider so Colbert hat sich bisher jedes Mittel das zur Bestimmung der Langengrade erdacht worden ist als untauglich erwiesen Wenn man ausser der Ortszeit auch die genaue Zeit z B in Paris kennen wurde ware es moglich die Zeitdifferenz in einen Winkel bzw einen Langengrad umzurechnen denn eine Stunde entspricht 15 Langengraden Aber es gibt keine Uhr die genau genug geht und wie soll man irgendwo auf dem Meer wissen wie viel Uhr es gerade in Paris ist Man brauchte einen Festen Punkt oder Punto Fijo wie ihn die Spanier nennen doch woher nehmen Nun habe jedoch die franzosische Regierung erfahren dass der englische Arzt Doktor Byrd sich auf eine Expedition zur Erforschung des Problems vorbereite Aus Grunden der Tarnung werde er dazu nicht ein englisches sondern ein hollandisches Schiff nehmen die Amarilli Roberto solle nach Amsterdam reisen mit an Bord der Amarilli gehen und heimlich beobachten was Doktor Byrd unternehmen werde Nach einer monatelangen Seereise die uber den Atlantik nach Sudamerika um Kap Hoorn herum und bis weit in den Westen des Stillen Ozeans fuhrt und im Kapitel Das Narrenschiff fast elegisch mit Anklangen an beruhmte Sudseegeschichten von der des Robinson Crusoe uber die der Bounty bis zu denen von Robert Louis Stevenson und Paul Gauguin beschrieben wird findet Roberto endlich heraus wie Doktor Byrd jede Nacht heimlich die Uhrzeit in London ermittelt Auf dem Schiff ist ein Hund versteckt den man vor der Abreise in London mit einer Klinge verletzt hat Offenbar streut Doktor Bryd auch noch Salz in die klaffende Wunde damit sie nicht verheilt Immer um Mitternacht streicht jemand in London sympathetisches Pulver auf die Klinge die die Wunde geschlagen hat und im selben Augenblick heult der sonst nur wimmernde Hund laut auf 3 Im Juli oder August 1643 gerat die Amarilli jedoch in einen Orkan und geht mit Mann und Maus unter Roberto kann sich auf eine Planke retten und treibt tagelang im Wasser bis er zu einem Schiff gelangt das in einer seichten Bucht vor Anker liegt die Daphne Mit letzter Kraft klettert er eine Strickleiter hinauf und schlaft erschopft auf dem Deck ein Als er wieder erwacht stellt er fest dass die Rettungsboote fehlen und das Schiff zwar intakt aber offenbar von der Besatzung verlassen ist Im Osten sieht er eine paradiesische Insel liegen die jedoch fur einen Nichtschwimmer wie Roberto unerreichbar ist In der Kombuse findet er reichlich zu essen Als er seltsame Gerausche hort zieht er sich angstlich in die Kapitanskajute zuruck Spater wagt er es den Gerauschen nachzugehen Dabei entdeckt er ein Gewachshaus mit exotischen Pflanzen und ein Vogelhaus voller Kafige mit buntschillernden Vogeln Die Pflanzen sind offenbar frisch gegossen und die Vogel gerade gefuttert worden Als er weitersucht entdeckt er hinter dem Vogelhaus einen Raum mit zahlreichen Uhren und anderen Messinstrumenten Hat vielleicht auch auf diesem Schiff jemand versucht eine Methode zur Bestimmung der Langengrade zu erproben Systematisch untersucht Roberto das Schiff und findet schliesslich einen alten Mann der sich als Jesuitenpater Caspar Wanderdrossel aus Rom vorstellt Der geburtige Deutsche ein barocker Universalgelehrter der ein markant barockes Deutsch spricht 4 und nach dem Muster barocker Universalgelehrter wie Athanasius Kircher und Caspar Schott gestaltet ist erklart Roberto er habe die Reise in die Sudsee unternommen um exotische Tiere und Pflanzen zu sammeln Vor kurzem habe er jedoch wegen eines Insektenstichs hohes Fieber bekommen und als der Kapitan Pestbeulen an ihm zu entdecken glaubte sei die Besatzung auf die nahe Insel geflohen Dort seien die Manner dann wohl von Eingeborenen getotet und womoglich verspeist worden Aufgrund seiner Himmelsbeobachtungen ist Pater Caspar uberzeugt dass zwischen dem Schiff und der Insel im Osten der 180 Langengrad verlauft also die Datumsgrenze Auf der Insel ist es demnach logisch betrachtet vom Schiff aus gesehen noch gestern Fur die beiden Schiffbruchigen wird sie so zur Insel des vorigen Tages Da jedoch beide nicht schwimmen konnen waren sie nur mit einem Floss in der Lage die Insel zu erreichen aber um das zu bauen brauchten sie Werkzeuge und die haben die Matrosen mit auf die Insel genommen Vergeblich bemuht sich Roberto schwimmen zu lernen Da kommt Pater Caspar auf die Idee eine Art Taucherglocke zu bauen in welcher er auf dem vermutlich nicht allzu tiefen Meeresgrund zur Insel hinuberwandern will Der fromme Pater furchtet schon die Sunde der Hoffart zu begehen so stolz ist er darauf als erster Mensch in die geheimnisvolle Meereswelt hinabzusteigen Er schnallt sich die Taucherglocke an Roberto hievt ihn mit einer Winde empor und lasst ihn ins Wasser hinab Dann wartet er lange dass der Pater wieder zum Vorschein kommt aber vergeblich Pater Caspar Wanderdrossel taucht nicht wieder auf In seiner erneuten Einsamkeit ubt sich Roberto weiter im Schwimmen bis er an einen giftigen Fisch gerat dessen Beruhrung ihn in einen Fieberwahn an der Grenze des Todes versetzt Schon vorher hatte er angefangen sich einen Roman auszudenken in dem seine geliebte Lilia und sein boser Doppelganger Ferrante den er sich als Kind erfunden hatte die Hauptrollen spielen Ferrante ist nach Paris gekommen und gibt sich dort als Roberto aus in Robertos Gestalt macht er sich an Lilia heran und uberredet sie mit ihm an Bord des Piratenschiffs Tweede Daphne zu gehen um einem Dokument von grosster Bedeutung fur die Geschicke Frankreichs nachzujagen In blindem Hass verfolgt er Roberto uber die Meere Doch in der Sudsee meutert die gequalte Besatzung der Tweede Daphne danach gerat das Schiff in einen Orkan und geht unter Ferrante gelingt es gerade noch Lilia auf eine aus den Angeln gerissene Tur zu binden So treibt sie schliesslich genau auf die Insel des vorigen Tages zu vor deren Westkuste sich Roberto befindet Ferrante aber wird an den Strand einer anderen Insel gespult die sich als Holle erweist in der lebende Tote in verschiedenen Stadien der Auflosung vergeblich auf ein Ende ihrer Qualen warten Dort lasst Roberto seinen bosen Doppelganger enden Unterdessen treibt Lilia immer in Robertos erdachtem Roman auf ihrem Turblatt im Meer und droht vor Erschopfung zu sterben Um sie zu retten macht sich Roberto selbst zu einer Figur in seinem Roman Wenn er es schafft auf die Insel zu gelangen so uberlegt er dann ist er dank des Zeitsprungs einen Tag vor Lilias Ankunft dort und kann ihr helfen sobald sie gelandet ist Sollte er aber die Insel nicht erreichen dann wurde er sich genau auf dem 180 Langengrad treiben lassen auf der Grenzlinie zwischen heute und gestern ausserhalb der Zeit und wurde dadurch so malt er es sich in seinem Wahn aus auch die Zeit auf der Insel anhalten und den Tod der Geliebten fur immer hinauszogern Mit dieser Idee im Kopf erhebt sich Roberto aus seinem Fiebertraum lasst die Vogel frei steckt die Daphne in Brand lasst sich ins Wasser gleiten und stosst sich ab hin zu einer der beiden Gluckseligkeiten die ihn gewiss erwarteten Im Schlusskapitel erwagt der Erzahler dass die Daphne vielleicht nicht vollig verbrannt ist da man ja sonst Robertos Aufzeichnungen nicht hatte finden konnen Spatere Sudseefahrer wie Abel Tasman oder Captain Bligh hatten das Wrack entdeckt und die Papiere gefunden haben konnen Aber wie sie dann schliesslich in seine Hande geraten sind lasst der Erzahler offen Stil und Aufbau BearbeitenStilistisch ist Die Insel des vorigen Tages wohl Ecos anspruchsvollster Roman Er spielt nicht nur in der Zeit des Barock er ist auch im Geist des Barock und zum Teil sogar in manieristisch barocker Sprache geschrieben Schon die Erzahlerinstanz ist komplex Es gibt zwar einen nicht weiter definierten Ich Erzahler der sich bemuht Robertos Geschichte aus einem Bundel vergilbter Papiere zu rekonstruieren die so oft bemuhte Fiktion der gefundenen Handschrift wird hier durch die Rede von einem Bundel ausgewaschener und zerkratzter Autographen 5 ersetzt aber uber weite Strecken wird die Handlung auch durchaus im Tonfall eines klassisch auktorialen Erzahlers prasentiert mit lebendigen Dialogen effektvollen Pausen farbigen Schilderungen von Stimmungslagen usw Hin und wieder kommt quasi als dritte Erzahlerinstanz auch Roberto selbst zu Wort sei es durch eingeschobene Zitate aus seinen Briefen sei es durch eine so starke Identifikation des Ich Erzahlers mit seinem Protagonisten dass er sich praktisch in ihn hineinversetzt Auch der Aufbau des Ganzen ist alles andere als simpel Die Handlung wird vielfach gebrochen erzahlt in kompliziert ineinander verschrankten Ruckblenden und mit oft eingeschobenen Reflexionen des Erzahlers uber die Triftigkeit oder Fragwurdigkeit seiner Rekonstruktion der Geschichte Manchmal schlagt er sogar mitten im Fortgang alternative Losungen vor so dass sich der Leser aussuchen kann wie es weitergeht Zudem wird sprachlich oft mit dem Kontrast zwischen der blumigen manche finden auch schwulstigen Ausdrucksweise des barocken Helden und der trockenen Sprache des modernen Erzahlers gespielt wobei die Grenzen fliessend sind Schon das erste Zitat aus Robertos Briefen das wie ein Motto am Anfang steht enthalt eine Reihe typisch barocker Denk oder Sinnfiguren Concetti und im ersten Satz des Romans wird der Leser sogleich vor unverbesserlichem Manierismus gewarnt Und doch erfullt mich meine Demutigung mit Stolz und da zu solchem Privilegio verdammt erfreue ich mich nun gleichsam einer verabscheuten Rettung Ich glaube ich bin seit Menschengedenken das einzige Wesen unserer Gattung das schiffbruchig ward geworfen auf ein verlassenes Schiff So in unverbesserlichem Manierismus Roberto de La Grive vermutlich im Juli oder August 1643 Komplexe Wort und Begriffsspiele haufen sich der Text wimmelt nur so von verborgenen Anspielungen auf die verschiedensten Dichter und Denker des 17 Jahrhunderts von nur fur Spezialisten erkennbaren wie Pierre Gassendi oder Giambattista Marino oder Cyrano de Bergerac bis zu weltbekannten aber umso besser versteckten wie Shakespeare oder Pascal Die Uberschriften der 40 Kapitel zitieren mehr oder minder verhullt mit wenigen signifikanten Ausnahmen lauter Titel von Werken aus der Barockzeit die grosstenteils heute nur noch spezialisierten Antiquaren bekannt sein durften und ergeben somit eine ganz eigene fast private Geschichte 6 Philosophische Reflexionen mischen sich besonders gegen Ende des Buches zwischen die eher erzahlerischen Kapitel so etwa eine grosse Meditation mit dem Titel Paradoxe Exerzitien uber das Denken der Steine Kapitel 37 in der sich der fiebernde Roberto vorstellt er ware ein Stein um dann jedoch ungeahnte Komplexitaten im Wesen der angeblich toten Mineralien zu entdecken einmal versucht er sogar sich als Stein in einem Vulkankrater zu imaginieren also als flussiges Magma und beschliesst erschrocken doch lieber wieder als harter Stein zu denken Immer wieder wird uber das Wesen von Raum und Zeit nachgedacht besonders in Pater Caspars abenteuerlichen Spekulationen uber die Genesis und die Sintflut Kapitel 21 Heilige Theorie der Erde und geradezu obsessiv werden die Konsequenzen der Vielzahl moglicher Welten fur die christliche Heilslehre diskutiert besonders originell in Kapitel 14 Traktat der Wissenschaft von den Waffen wo ein Duell zwischen zwei franzosischen Offizieren in Casale erzahlt wird das stark an die Duellszene zu Beginn von Edmond Rostands Cyrano de Bergerac erinnert in der Cyrano ebenso gewandt mit Worten wie mit dem Degen ficht nur dass bei Eco der nach Cyrano modellierte Monsieur de Saint Savin wahrend des Duells kein Sonett dichtet sondern einen theologischen Traktat uber die heilsgeschichtlichen Konsequenzen der Vielzahl moglicher Welten extemporiert und dann nach dem glorios gewonnenen Duell durch einen dummen Zufall stirbt Das Symbol der Taube BearbeitenEine Sonderrolle spielt die Figur der Flammenfarbenen Taube 7 Auf den ersten Blick handelt es sich lediglich um eine besonders schone tropische Taubenart die Pater Caspar mit dem Fernrohr auf der Insel gesehen hat und die er Roberto wegen ihrer glutroten Farbe und ihrem blitzschnellen Flug als Flammende Taube beschreibt Aber Roberto horcht sofort auf fragt nach was fur eine Taube das sei und erfahrt von weitem sei ihr Anblick wie wenn man eine feurige Kugel aus Gold sehe oder aus guldenem Feuer die vom Wipfel der hochsten Baume zum Himmel auffliege wie ein Pfeil Bei diesen Worten des Paters befallt Roberto eine bange Unruhe die der Erzahler als ubertrieben empfindet und kommentiert Als hatte ihm die Insel schon seit einiger Zeit ein dunkles Emblem versprochen das nun auf einmal hell aufleuchtet Um den genauen Rot Ton dieser glut oder flammenfarbenen Taube zu definieren fuhren die beiden Schiffbruchigen einen erregten Dialog Purpurrot rubinrot rosenrot blutrot lippenrot lachsrot krebsrot ziegelrot schlug Roberto vor Nein nein rief der Pater argerlich Und Roberto erdbeerrot himbeerrot kirschrot geranienrot radieschenrot tomatenrot vogelbeerenrot stechpalmenbeerenrot rotkehlchenkehlenrot rotdrosselbauchrot gartenrotschwanzschwanzrot Nein nein insistierte Pater Caspar im Kampf mit seiner und allen Sprachen um das passende Wort zu finden Schliesslich einigen sie sich auf die prangende Farbe einer Pomeranze ein Glut oder eben ein Flammenrot ja es handle sich um eine geflugelte Sonne Wenn man sie am weissen Himmel sah war s als wurfe die Morgenrote einen Granatapfel in den Schnee Und wenn sie sich in die Sonne katapultierte war sie gleissender als die Cherubim Und Pater Caspar fugt noch hinzu diese Taube konne gewisslich nur auf der Insula Salomonis leben denn im Canticum jenes grossen Konigs sei die Rede von einer Taube die sich wie die Morgenrote erhebe glanzend wie die Sonne terribilis ut castrorum acies ordinata schrecklich wie eine waffenstarrende Heerschar Und in einem anderen Psalm heisse es ihre Flugel seien bedeckt mit Silber und die Federn mit dem Schimmer des Goldes Damit ist ein wichtiges Stichwort gefallen das nicht nur aufschlussreich fur Robertos weiteres Verhalten sondern auch bezeichnend fur Ecos literarische Vorgehensweise ist Dieselbe Stelle aus dem Canticum Salomonis bzw Hohenlied der Liebe wird auch schon an einer zentralen Stelle in Ecos Name der Rose zitiert namlich in der emphatischen Beschreibung des namenlosen Madchens dem der junge Adson nachts in der Kuche begegnet einer Beschreibung die er ganz aus Zitaten des Hohenliedes zusammensetzt und mit den Worten beendet Und ich fragte mich ebenso hingerissen wie bang wer diese da sein mochte die da aufging vor mir wie die Morgenrote schon wie der Mond strahlend wie die Sonne terribilis ut castrorum acies ordinata 8 Tatsachlich sieht Roberto die Flammenfarbene Taube im weiteren Verlauf ganz ahnlich wie Adson das Madchen immer mehr als Emblem oder ideale Verkorperung seiner Liebessehnsuchte die sich sowohl auf die ferne Lilia in Paris als auch auf die nahe aber ebenso unerreichbare Insel richten Je tiefer Roberto in seine Fiebertraume versinkt desto mehr verschmelzen die Objekte seiner Begierde zu einem einzigen das ihm als die Flammenfarbene Taube erscheint In Kapitel 26 Emblematisches Lust Cabinet wird eine regelrechte Abhandlung uber die Taube als Symbol Emblem und Allegorie in der Kulturgeschichte von der Antike bis in die Neuzeit eingeblendet und im letzten Satz des Romans vor dem Epilog erscheint die Taube noch einmal im Original sogar als letztes Wort des Romans wenn Roberto wahrend er seinem ungewissen Schicksal entgegenschwimmt sie hoffnungsvoll zum Himmel auffliegen sieht Dort uber der Linie die von den Wipfeln der Baume gezogen wurde musste er mit nunmehr uberscharfen Augen gesehen haben wie sich gleich einem Speer der auf die Sonne zielte die Flammenfarbene Taube erhob Im Epilog wird u a erklart dass es auf der Fidschiinsel Taveuni tatsachlich eine hellrote Taube gebe die englisch Flame Dove oder Orange Dove und lateinisch Ptilinopus Victor heisst Dort ware demnach die Insel des vorigen Tages in der Realitat anzusiedeln Ursprunglich hatte Eco geplant den Roman nicht L isola del giorno prima sondern La Colomba Color Arancio zu nennen In der deutschen Fassung hatte er dann Die Flammenfarbene Taube geheissen Aufnahme in der Kritik BearbeitenDem Erscheinen der deutschen Ausgabe im Marz 1995 war eine monatelange Medienberichterstattung vorausgegangen die in diversen Interviews Andeutungen und Vorabmeldungen die Spannung auf den lange erwarteten dritten Roman des Autors der beiden Welterfolge Der Name der Rose und Das Foucaultsche Pendel anheizte und von bosen Zungen als Chronik eines angekundigten Bestsellers verhohnt worden war Bereits zwei Monate vor Erscheinen als verlautete die italienische Originalausgabe verkaufe sich nicht so gut wie erwartet schrieben manche Zeitungen der neue Eco habe einen vorzeitigen Medientod erlitten 9 Als der Roman dann vorlag war die Reaktion in den Medien zwiespaltig Einige Kritiker fanden ihn weitschweifig und uberladen manche lehnten ihn geradezu schroff in Bausch und Bogen ab 10 Andere lobten ihn dagegen fur seinen originellen und spannenden Plot erzahlerischen Reichtum und die weite Spanne seiner Anspielungen und Bezugnahmen Wieder andere eher in der akademischen Welt liessen sich zu ausfuhrlichen Analysen und tiefgrundigen Essays anregen die spater gesammelt in Buchform erschienen s u die Sekundarliteratur Die zwiespaltige Aufnahme hat aber nicht nur mit dem vorausgegangenen Medienrummel zu tun sondern auch mit dem gewollt barocken Charakter des Romans Wer diesen Stil als schwulstig ablehnt kann sich schwerlich fur Ecos Roman erwarmen und wer Sinn fur kunstvolle Sprachgebilde und manieristische Denkfiguren hat wird ihn zu schatzen wissen Eco ging es genau darum den barocken Stil und Gusto der in Italien ahnlich wie im deutschen Kulturraum seit der nachfolgenden Klassik als pompos und verschnorkelt in Verruf geraten ist wieder ein wenig aufzuwerten war er doch Ausdruck einer Zeit in der die Welt aus den Fugen geraten und die tradierten Gewissheiten allesamt erschuttert schienen angefangen mit dem gewohnten Bild der Welt und ergo des Menschen im Zentrum des Universums Daher die zahlreichen Meditationen und Spekulationen uber Raum und Zeit und ihre komplexen Wechselbeziehungen fur die ja bereits die zentrale Plot Idee von der Insel die im Gestern liegt ein plastisches freilich nicht realistisches Bild abgibt Der Philosophiehistoriker Kurt Flasch schrieb in der F A Z vom 18 Marz 1995 Ecos neues Buch erzahlt die Odyssee des grossen Jahrhunderts Das Zeitalter der Vernunft sucht seinen definitiven Halt und gerat dabei an die Rander seiner Welt und seines Denkens Die Vernunft soeben von Galilei und Descartes zum Triumph uber alte Vorurteile gefuhrt gebiert am Tage darauf utopische Visionen und Traume metaphysischen Erschreckens Sie erfahrt wie zufallig diese Welt und damit sie selbst ist Roberto bewegt sich am Rande von Raum und Zeit er protokolliert das Scheitern einer selbstsicheren Vernunft Sie trifft in der Natur nichts eindeutig Festes mehr an Statt wohlgeformter Dinge sieht sie Zufallswirbel der Atome von der Erde aufblickend sieht sie Zufallswirbel der Galaxien Der Ruckzug des Denkenden auf sich selbst bietet keinen Halt mehr Er ist Roberto und Ferrante er kann die Gedanken Ferrantes denken und zerstort dadurch die cartesianische Gewissheit Ich denke also bin ich Ausgaben BearbeitenUmberto Eco L isola del giorno prima Bompiani Mailand 1994 Umberto Eco Die Insel des vorigen Tages ubers v Burkhart Kroeber Hanser Munchen 1995 ISBN 3 446 18085 0 dtv Munchen 1997 ISBN 3 423 12335 4Sekundarliteratur BearbeitenThomas Stauder Hrsg Staunen uber das Sein Internationale Beitrage zu Umberto Ecos Insel des vorigen Tages Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1997 ISBN 3 534 13028 6 Gunter Berger Annaherungen an die Insel Lekturen von Umberto Ecos Die Insel des vorigen Tages Aisthesis Verlag Bielefeld 1999 ISBN 3 89528 223 5Zum Hintergrund Dava Sobel Longitude 1995 Dt Langengrad ubers v Matthias Fienbork u Dirk Muelder Berlin Verlag 1996 btb 1998 ISBN 3 442 72318 3 Illustr Ausgabe Berlin Verlag 1999 ISBN 3 8270 0364 4Anmerkungen Bearbeiten Alessandria ist Umberto Ecos Geburtsstadt Dahinter verbirgt sich der 1592 in Digne geborene atomistische Philosoph und Naturforscher Pierre Gassendi Dieses abstruse Verfahren zur Bestimmung der Langengrade wurde tatsachlich 1687 in einem Flugblatt mit dem Titel Curious Enquiries vorgeschlagen siehe Dava Sobel Langengrad Berlin 1996 Im italienischen Original spricht er ein Italienisch mit deutscher Wortstellung die Verben am Ende etc das in Italien als tedesco maccaronico eine lange Tradition in der parodistischen und satirischen Literatur hat So noch einmal bekraftigend auf der letzten Seite des Buches Darauf hingewiesen dass die meisten deutschen Leser kaum einen dieser Titel erkennen wurden erwiderte Eco das sei nicht schlimm den meisten italienischen sagten sie auch nichts Im Original Colomba Color Arancio wortl orangenfarbene Taube Der Name der Rose Hanser S 315 dtv S 328 So z B der Wiener Kurier vom 6 Januar 1995 Trivialbarock pur so Der Spiegel 11 1995 und Aus jeder Romanpore dunstet vollig humorlos der akademische Belehrungseifer des Sekundarliteraten der Eco ja leider auch ist so Sigrid Loffler in der Wochenzeitung Die Woche vom 10 Marz 1995 Romane von Umberto Eco Der Name der Rose Das Foucaultsche Pendel Die Insel des vorigen Tages Baudolino Die geheimnisvolle Flamme der Konigin Loana Der Friedhof in Prag Nullnummer Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Die Insel des vorigen Tages amp oldid 196777405