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Agonismus aus Griechisch ἀgwn Agon Wettkampf Wettstreit ist eine politische Theorie welche die grundsatzlichen und potenziell positiven Aspekte politischer Konflikte betont Sie geht von einer dauerhaften demokratischen Arena fur gesellschaftliche Konflikte aus in denen gegensatzliche Gruppen um politische Hegemonie wettstreiten Diese Denkrichtung wird auch als agonistischer Pluralismus bezeichnet oder fur die konkrete Anwendung in der Praxis mit dem verwandten Begriff Agonistik Die theoretischen Ansatze stehen in einem Uberschneidungsbereich aus Kulturwissenschaft Philosophie Soziologie und Politikwissenschaft Inhaltsverzeichnis 1 Antikes Verstandnis 2 Kulturwissenschaftliche Grundlagenforschung 3 Agonalitat als Konzept der Philosophie 3 1 Agonistik 4 Agonismus in der Politikwissenschaft 4 1 Antagonistische Konzepte 4 2 Agonistischer Pluralismus 5 Literatur 6 EinzelnachweiseAntikes Verstandnis BearbeitenDie Charakterisierung die der Held Achilles in Homers Ilias erfahrt beschreibt den ursprunglich aristokratischen Anspruch aus der mythisch heroischen Zeit immer der Beste zu sein und ausgezeichnet vor allen anderen 1 Dieses Haltungsideal wird im Zuge der Demokratiebestrebungen zum Selbstverstandnis des Polis Burgers Standig Exzellenz arete anzustreben um Anerkennung und Ehre time zu bekommen war das Ideal und Ziel der griechischen Aristokraten und freien Burger Dieser Ehrgeiz philotimia fuhrte auch dazu dass man sich immer mit Mitburgern und aristokratischen Konkurrenten messen und mehr Ehre erlangen wollte als diese 2 Dieses Kontrahenten Verhaltnis wird jedoch nicht als Kriegszustand verstanden fur den im staatlichen Aussenverhaltnis der Begriff polemos und im Inneren der Begriff stasis verwendet wird So bezeichnet der Begriff Agon nicht nur die grossen athletischen Wettspiele sondern auch Theater Wettbewerbe und Prozessreden von Streitparteien in Gerichtsverhandlungen Ziel ist Aufwertung der kollektiven Identitat durch Leistungen individueller Edel Trefflichkeit kalokagathia Der Agonismus impliziert einen tiefen Respekt um den anderen in der Tat bezieht sich der Agon der Griechen am direktesten auf einen athletischen Wettkampf der nicht nur auf Sieg oder Niederlage ausgerichtet ist sondern die Bedeutung des Kampfes selbst betont ein Kampf der ohne den Gegner nicht existieren kann Der Sieg durch Nichterfullung oder uber einen unwurdigen Gegner ist im Vergleich weniger wert als eine Niederlage durch einen wurdigen Gegner die immer noch Ehre bringt Ein agonistischer Diskurs wird daher nicht nur durch Konflikte sondern vor allem durch gegenseitige Bewunderung gepragt sein 3 Das langfristige Ziel fur die agonistische Polisgemeinschaft ist keineswegs ein endgultige Auflosung der Konfliktverhaltnisse sondern eine Verstetigung der Wettstreitsbedingungen und der bestandigen Herausforderung durch Gegner um dadurch zu immer neuen Hochstleistungen fahig zu sein Kulturwissenschaftliche Grundlagenforschung BearbeitenEine erste philologisch und historisch fundierte Grundlagenarbeit zum Agon der Antike veroffentlichte Johann Heinrich Krause im Jahre 1840 Er definierte Agonistik dabei als jene Sphare der zunachst aristokratischen Wettkampfkultur die aus der Gymnastik als Leibesertuchtigung erwuchs und zur Athletik der panhellenischen Wettspiele fuhrte Ernst Curtius erweiterte 1856 das Verstandnis der Agonistik auch auf andere gesellschaftliche Zusammenhange der griechischen Kultur und Politik Auf diesem Quellenmaterial aufbauend entwickelt Jacob Burckhardt 1872 den Begriff des agonalen Menschen als generationsubergreifende Personlichkeitsstruktur der antiken Griechen sowie des Agonalen als Vergemeinschaftungsform und Bezugsgrosse des Gemeinwesens fur seine politische Bindungskraft nach innen und seinen Geltungsanspruch im Aussenverhaltnis Georg Scheibelreiter sieht in einer agonalen Grundhaltung ein typisches mentalitatsgeschichtliches Merkmal der germanischen Eliten des 5 8 Jahrhundert einen Ausdruck eines Daseinsgefuhls standigen Gefahrdetseins 4 das insbesondere unter den Merowingern zu brutalen und heimtuckischen Verbrechen gefuhrt habe um sich kurzfristige Vorteile zu verschaffen oder potenzielle Gegner aus konkurrierenden Adelsgruppen auf blossen Verdacht hin physisch auszuschalten Sowohl weltliche als auch kirchliche Amtstrager wurden dabei nicht zwischen Amtsausubung und personlichen Interessen unterscheiden Diese Entwicklung erreichte auch den zivilisierten urbanen galloromanischen Bereich Als Merkmale dieser barbarischen Grundhaltung im Gegensatz zur Lebensfuhrung der zivilisierten spatantiken Menschen nennt Scheibelrieder den Mangel an Mass und Rationalitat das Auf und Ab im Verhalten Unberechenbarkeit und Habgier schrankenlosen Opportunismus Verzicht auf Interessenausgleich Bereitschaft zum jederzeitigen Brechen von Eiden und Vertragen zur gewaltsamen Selbstbehauptung und zur schrankenlosen Durchsetzung mittels extremer Gewaltmittel Diese stetige Bereitschaft einen auch nur geringen Vorteil die Gelegenheit des Augenblicks 5 wahrzunehmen gehe oft auf Kosten der Verfolgung eigener langfristiger Ziele Die standige Disposition zum Kampf und dessen erfolgreiches Bestehen sei auch eine wichtige Quelle der Selbstbestatigung und sichere die Loyalitat der Gefolgschaft Diese Sichtweise stellt die These der raschen Assimilation der zum Christentum ubergetretenen germanischen Elite in die romanische Welt in Frage Agonalitat als Konzept der Philosophie BearbeitenDas Streitgesprach als Mittel der Wissensfindung wurde bereits in der Philosophie der Vorsokratiker als Dialektik bei den Sophisten als Eristik und bei Platon schliesslich als Platonischer Dialog entwickelt Gleichwohl gibt es bereits zu dieser Zeit Warnungen vor einer bloss taktisch instrumentellen Agonistik etwa in der Rhetorik Bereits Platons fruher Dialog Euthydemos zeigt sowohl die kritische Selbstreflexion der agonistischen Wahrheitsfindung als auch die Verbindung zum Stil der griechischen Komodie Dabei folgt der Philosoph wohl auch einem individuellen Siegstreben Das was z B bei Plato von besonderer kunstlerischer Bedeutung an seinen Dialogen ist ist meistens das Resultat eines Wetteifers mit der Kunst der Redner der Sophisten der Dramatiker seiner Zeit zu dem Zweck erfunden dass er zuletzt sagen konnte Seht ich kann das auch was meine grossen Nebenbuhler konnen ja ich kann es besser als sie Kein Protagoras hat so schone Mythen gedichtet wie ich kein Dramatiker ein so belebtes und fesselndes Ganze wie das Symposion kein Redner solche Rede verfasst wie ich sie im Gorgias hinstelle und nun verwerfe ich das alles zusammen und verurtheile alle nachbildende Kunst Nur der Wettkampf machte mich zum Dichter zum Sophisten zum Redner 6 Den politischen Zweck den die Agonalitat fur die Stadtstaaten hatte beschreibt der gleichfalls komodienhafte Dialog Anarchasis des Lukian von Samosata als die Freiheit des Einzelnen und die gemeinsame des ganzen Vaterlandes und Wohlstand und Ruhm und der heimischen Feste Frohgenuss und der Angehorigen Sicherheit Friedrich Nietzsche entwickelt sein Verstandnis von Agonalitat wahrend der gemeinsamen Baseler Dozentenzeit mit Jacob Burckhardt Ausgehend von einigen Versen Hesiods uber die Doppelnatur der Eris sowohl negativer grollerfullter Neid als auch positive wetteifernde Leistungswille versteht Nietzsche die Agonalitat als politische ethische und padagogisches Grundstruktur des griechischen Geisteswelt als ewig fortzusetzendes Wettspiel der Krafte ein Gedanke der der Exclusivitat des Genius im modernen Sinne feindlich ist aber voraussetzt dass in einer naturlichen Ordnung der Dinge es immer mehrere Genies giebt die sich gegenseitig zur That reizen wie sie sich auch gegenseitig in der Grenze des Maasses halten Das ist der Kern der hellenischen Wettkampf Vorstellung sie verabscheut die Alleinherrschaft und furchtet ihre Gefahren sie begehrt als Schutzmittel gegen das Genie ein zweites Genie Jede Begabung muss sich kampfend entfalten so gebietet die hellenische Volkspadagogik 6 Dieses Prinzip agonaler Erziehung erscheint explizit und implizit in verschiedenen spateren Arbeiten Nietzsches so etwa im Genie Konzept des Ubermensch dem Willen zur Macht oder in seinen Ausarbeitungen zu Eristik Religionskritik und gesellschaftlichem Wettbewerb Agonistik Bearbeiten Das Themenfeld gesellschaftlicher Kampfes und Konkurrenz beschaftigt mit unterschiedlichen Fragestellungen auch die Philosophie des 20 Jahrhunderts Dabei unterscheidet etwa Karl Jaspers zwischen positivem geistigen Agon und negativer agonaler Gesinnung ein erstes Modell wie aus dem strikt komparativen Begriff des Agonalen ein Konzept des rivalitatslosen Wettbewerbs mit Betonung von Vielfalt und Pluralitat entstehen kann 7 Zum Gegenstand der politischen Theorie wird das Agonale auch verschiedentlich bei Hannah Arendt Sie beschreibt gesellschaftliches Handeln als Phanomen der Selbstenthullung aus agonalem Geist heraus Sich an Anderen messen das seinerseits wiederum den Begriff des Politischen in den Stadt Staaten seinen eigentlichen Gehalt gab 8 Sich auszeichnende Individualitat wird zur Identitat die sich am Gegensatz zwischen dem Selbst und dem Anderen abzeichnet und den Raum des Politischen auch als pluralistischen Redewettstreit in der Offentlichkeit bemisst Ein ahnlich diskursives Modell entwickelt auch Jean Francois Lyotard der von Wittgensteins Sprachspielen her denkend die Agonistik auf primar auf einen Wettstreit bezogene und erfolgsorientierte Sprechakte definiert 9 Agonismus in der Politikwissenschaft BearbeitenIn der Folge des Poststrukturalismus und Postmarxismus gelangte mittels Konzepten von Differenzpolitik wieder das Element des Kampfes um Machthegemonien in den Focus Die Idee des Agonismus steht dabei gleichwohl als Gegenposition zum antagonistisch definierten Materialismus in marxistischen Konzepten der Politik Soziale Spaltungen werden tendenziell eher als kulturelle Verschiedenheiten aufgefasst Modelle eines solchen Differenzagonismus beziehungsweise einer agonistischen Demokratie entwickeln etwa William E Connolly James Tully oder Chantal Mouffe Antagonistische Konzepte Bearbeiten Mit Marx beginnt eine auf materielle Antagonismen verweisende Geschichtsauffassung Die Geschichte aller bisher existierenden Gesellschaft ist die Geschichte der Klassenkampfe 10 Er sieht als Konfliktursachen unausweichlich die Besitzverhaltnisse in der kapitalistischen Gesellschaft Erst mit deren Zerstorung und Ersetzung durch den Kommunismus wurde auch ein Ende der Antagonismen gekommen sein Aus der Richtung der kritischen Theorie her gilt der Agonismus als Teil der eingefuhrten Gesellschaftsordnung in der sich die Gesellschaft produziert und reproduziert und zwar genau aus der Verbindung der antagonistischen Interessen ihrer Mitglieder 11 Fur Adorno geht es beim Agonismus auch um die Theodizee des Konflikts bei dem sich die Gegner gegenseitig vernichten wollen um in den Agon einzutreten jeden den Todfeind eines jeden In klarer Gegnerschaft zum Marxismus steht indessen das antagonistische Konzept von Carl Schmitt der den Begriff des Politischen durch ein grundlegendes Freund Feind Kriterium gekennzeichnet sieht Seine Ablehnung des Liberalismus erstreckt sich auch auf dessen Wettbewerbsverstandnis Entsprechend argumentiert Schmitt auch gegen das Agonale weil es einen Wettstreit auf gemeinsamer Grundlage darstellt und blosse Gegnerschaft nicht die Intensitat jener als grundlegend vorausgesetzten Feindschaftsverhaltnisse erreicht Agonistischer Pluralismus Bearbeiten Dagegen verbindet Michel Foucault seine Machttheorie eher mit dem Begriff des Agonismus Statt von einem wesentlichen Antagonismus sollte man besser von einem Agonismus sprechen von einem Verhaltnis das zugleich gegenseitige Anstachelung und Kampf ist weniger von einer Opposition Kopf an Kopf die sie einander gegenuber blockiert als von einer fortwahrenden Provokation 12 Andere Theorieansatze versuchen den Agonismus wieder fur die Linke und den Liberalismus anschlussfahig zu machen Das Modell der agonistischen Demokratie beschreibt William E Conolly als ebenso respektgeleiteten wie militanten Liberalismus um Antagonismen der Identitat in Agonismen der Differenz zu uberfuhren Bei Bonnie Honig wird die Agonalitat zur Anforderung an eine feministische Praxis fur ein Streben nach Pluralitat und Differenz um uber Nicht Identitat andere Konzepte von Geschlechterkategorien zu uberwinden 13 Einen weitergehenden Entwurf entwickelt Chantal Mouffe mit ihrem Modell des agonistischen Pluralismus in dem sie sowohl uber post marxistische als auch den deliberativen Liberalismus und damit uber Autoren wie Jurgen Habermas Ulrich Beck oder Anthony Giddens hinausgeht Sie kritisiert am Liberalismus dass er die grundlegenden antagonistischen Wirkkrafte in einer Gesellschaft ausblendet das kollektive Identitaten immer Differenzen beinhalten und dass eine Gesellschaft jenseits von Machtstrukturen und Hegemonie wenig realistisch ist Agonismus sei eine Wir Sie Beziehung bei der die konfligierenden Parteien die Legitimitat ihrer Opponenten anerkennen auch wenn sie einsehen dass es fur den Konflikt keine rationale Losung gibt Als Hauptaufgabe der Demokratie konnte man die Umwandlung des Antagonismus in Agonismus ansehen 14 Im Kampf um Hegemonie sei es legitim nicht nur von Konkurrenzverhaltnissen sondern von Gegnerschaften auszugehen Die Gegner bekampfen sich sogar erbittert aber sie halten sich dabei an einen gemeinsamen Regelkanon Ihre Standpunkte werden obwohl letzten Endes unversohnlich als legitime Perspektiven akzeptiert 14 Literatur BearbeitenArendt Hannah Vita activa 1958 Burckhardt Jacob Griechische Kulturgeschichte Basel 1872 veroffentlicht 1889 1902 Colaguori Claudio Agon Culture Wettbewerb Konflikt und das Problem der Herrschaft de Sitter Publications Whitby Ontario 2012 Curtius Ernst Griechische Geschichte Berlin 1 1857 3 1861 mehrere Auflagen z B 5 Aufl Berlin 1878 1880 Honig Bonnie 1993 Political theory and the displacement of politics Ithaca Cornell University Press 1993 ISBN 978 0 8014 8072 0 Jaspers Karl Psychologie der Weltanschauungen 1919 Krause Johann Heinrich Die Gymnastik und Agonistik der Hellenen aus den Schrift und Bildwerken des Alterthums 1840 Lukian Anacharsis Mouffe Chantal On the Political London Routledge 2005 ISBN 978 0 415 30521 1 Deutsch Uber das Politische Wider die kosmopolitische Illusion Aus dem Engl von Niels Neumeier Frankfurt Suhrkamp 2007 ISBN 978 3 518 12483 3 Mouffe Chantal Agonistics Thinking The World Politically London Verso 2013 ISBN 978 1 78168 103 9 Deutsch Agonistik Die Welt politisch denken Aus dem Engl von Richard Barth Berlin Suhrkamp 2014 ISBN 978 3 518 12677 6 Nietzsche Friedrich Homers Wettkampf In Funf Vorreden zu funf ungeschriebenen Buchern 1872 Nullmeier Frank Politische Theorie des Sozialstaats Frankfurt 2000 Schmitt Carl Der Begriff des Politischen Hamburg 1933 Tuncel Yunus Agon in Nietzsche 2013 Weber Max Wirtschaft und Gesellschaft 1922Einzelnachweise Bearbeiten Homer Ilias XI 784 Alexander Meeus Immer der Beste zu sein Die agonale Kultur der Griechen https agon449 wordpress com 2017 06 09 agonale kultur griechen Samuel Chambers Language and Politics Agonistic Discourse in The West Wing 1 Georg Scheibelreiter Die barbarische Gesellschaft Darmstadt 1999 insbes S 215 ff 233 ff Scheibelreiter 1999 S 240 a b Friedrich Nietzsche Homers Wettkampf Basel 1872 Frank Nullmeier Politische Theorie Seite 162 Hannah Arendt Vita activa Jean Francois Lyotard La condition postmoderne Marx amp Engels Manifest der Kommunistischen Partei 1848 Kapitel 1 Theodor Adorno Minima Moralia 1974 Michel Foucault Das Subjekt und die Macht 1994 Frank Nullmeier Politische Theorie Seite 180 a b Chantal Mouffe Uber das Politische Seite 30 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Agonismus amp oldid 238081220