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Schwurbruderschaft lateinisch fraternitas iurata bezeichnete im europaischen Mittelalter und der fruhen Neuzeit ein kunstliches Verwandtschaftsverhaltnis zwischen zwei Freunden die oft durch rituelle Handlungen auch im kirchlichen Rahmen besiegelt wurde Zu diesen Ritualen konnte das Vermischen oder Austauschen des Blutes durch Trinken gehoren Blutsbruderschaft Fur eine kulturubergreifende Einordnung siehe Bruder Freundschaft Seit der Veroffentlichung des Buches Same Sex Unions in Premodern Europe durch den Historiker John Boswell wird in der Geschichtswissenschaft in der Lesben und Schwulenbewegung aber auch in den verschiedenen Kirchen daruber diskutiert inwieweit diese Institution als Beweis gelten kann dass das Christentum gleichgeschlechtliche Verbindungen in der Vergangenheit nicht nur anerkannt sondern auch gesegnet habe Inhaltsverzeichnis 1 Geschichte 2 Der Ritus der Adelphopoiesis 3 Bruderschaften in der Westkirche 4 Heutige historische Einordnung 5 Literatur 6 Weblinks 7 EinzelnachweiseGeschichte BearbeitenAnno 779 wird im Kapitular von Herstal Belgien in der frankischen Reichsversammlung unter der Regentschaft Karls des Grossen 747 814 die Schwurbruderschaft verboten laut Artikel 16 Von denen die sich gegenseitig in Gilden Eide leisten dass niemand sich unterstehe das zu tun Anderes soll aber gelten fur ihre Almosen oder bei Feuersbrunst oder bei Schiffbruch Auch wenn sie Vereinbarungen schliessen soll niemand sich unterstehen dabei einen Schwur abzulegen Karl der Grosse befand diese unchristlichen Gilden fur Diabolgilden wovon die Sachsen mit gewaltsamem Ubertritt zum Christentum abzuschworen hatten Der Ritus der Adelphopoiesis BearbeitenAls Ausgangspunkt dieser Diskussion dient dabei der Ritus der orthodoxen Kirche die Adelphopoiesis Verbruderung slaw pobratimstwo bzw posestrinstwo Verschwesterung Bereits 1914 hat Pawel Florenski die liturgischen Kernelemente dieses Ritus wie folgt gegliedert 1 Die zukunftigen Bruder oder Schwestern oder Bruder und Schwester werden in der Kirche vor dem Altar positioniert auf dem das Kreuz und das Evangelium ruhen der altere der beiden steht auf der rechten der jungere auf der linken Seite Gebete und Litaneien werden aufgesagt die darum bitten dass die beiden in Liebe vereint werden und sie an Beispiele der Freundschaft aus der Kirchengeschichte erinnern die beiden werden mit einem Gurtel aneinandergebunden und ihre Hande auf dem Evangelium platziert jedem von ihnen wird eine Kerze gegeben die Verse 1 Kor 12 27 13 8 ELB Paulus uber die Liebe und Joh 17 18 26 ELB Jesus uber das Einssein werden verlesen weitere Gebete wie die in Punkt 2 werden verlesen Das Vaterunser wird vorgelesen die zukunftigen Bruder bekommen die vorgeweihten Gaben aus einer gemeinsamen Schale uberreicht sie werden um den Altar herumgefuhrt wahrend sie sich an den Handen halten und die Gemeinde das folgende Troparion singt Herr schau vom Himmel und sieh sie tauschen Kusse aus und die Gemeinde singt Seht doch wie gut und schon ist es wenn Bruder miteinander in Eintracht wohnen Ps 133 1 ELB Eines der Gebete die wahrend dieser Zeremonie gesprochen wurden lautet in deutscher Ubersetzung Unser allmachtiger Gott der du vor den Zeiten warst und fur alle Zeiten sein wirst der sich herabliess die Menschheit durch den Schoss der Mutter Gottes und Jungfrau Maria zu besuchen sende deinen heiligen Engel auf diese deine Diener Name und Name dass sie einander lieben mogen so wie deine heiligen Apostel Petrus und Paulus einander geliebt haben und Andreas und Jakob Johannes und Thomas Jakob Philipp Matthaus Simon Thaddeus Matthias und die heiligen Martyrer Sergius und Bacchus sowie Damian und Cosmas nicht durch fleischliche Liebe sondern durch den Glauben und die Liebe des Heiligen Geistes dass sie alle Tage ihres Lebens in dieser Liebe verweilen Durch Jesus Christus unseren Herrn Amen Die Behauptung John Boswells siehe weiter unten dass Schwurbruderschaften als von der orthodoxen Kirche akzeptierte gleichgeschlechtlicher Partnerschaften d h inkl genitaler Handlungen in der Form der Adelphopoiesis legitimiert wurden ist jedoch nicht haltbar Der ursprungliche Zweck der Adelphopoiesis war eine geistige Verwandtschaft wie bei einer Taufpatenschaft herzustellen siehe weiter unten 2 Entgegen den gegenteiligen Behauptungen von Boswells Kritikern muss die Schwurbruderschaft jedoch tatsachlich auch von gleichgeschlechtlichen Paaren in Anspruch genommen worden sein Das belegt das orthodoxe kanonische Recht das die Abschaffung der Adelphopoiesis im ostromischen Recht und in den kirchlichen Kanones damit begrundet dass die Schwurbruderschaft zur Erfullung fleischlicher Luste und sinnlicher Leidenschaften missbraucht worden sei 3 Hans Christian Andersen beschrieb diesen Brauch in seinem Marchen Der Freundschaftsbund 4 Bruderschaften in der Westkirche BearbeitenIn der katholischen Kirche waren Priester bis weit in die Neuzeit selbst an Eheschliessungen nur selten beteiligt die Formpflicht wurde erst durch das Konzil von Trient eingefuhrt wobei die Umsetzung dieser Vorschrift in einzelnen Landern teilweise erst viel spater erfolgte Das und einiges andere spricht eher dagegen dass der Ritus der Adelphopoiesis der in lateinischer Ubersetzung als ordo ad fratres faciendum vorliegt im Westen breite Verwendung gefunden hatte Jedoch wird er teilweise noch von der Altkatholischen Kirche praktiziert Wenn also nicht im Rahmen einer Messe und vor einem Priester so pflegten Bruder ihren Schwur doch uber einem Altarstein abzulegen und dies der Gemeinde vor der Kirchentur kundzutun Mehr noch als der Schwur war es jedoch das mogliche gemeinsame Begrabnis das der kunstlichen Bruderschaft eine religiose Einbindung verlieh Die Verbreitung dieser Praxis belegen alte englische und irische Friedhofe auf denen sich eine Reihe von Grabern mit dem Namen zweier Manner finden lassen 5 Die Inschriften sind oft Zeugnisse unsterblicher Zuneigung Die Liebe verband sie als Lebende Also moge sie die Erde auch als Tote vereinen Eine der fruhesten Quellen die den Ritus der Verbruderung im lateinischen Westen beschreiben ist die antiirische Propagandaschrift Topographica Hibernica des Giraldus Cambrensis ca 1146 1223 6 Es handelt sich dabei der Intention des Werks entsprechend um eine satirische Uberzeichnung die den Iren zur Last legt den christlichen Ritus durch heidnische Elemente pervertiert zu haben Zwischen den vielen anderen Tauschungen ihrer feindseligen Art ist diese eine besonders lehrreich Unter dem Anschein von Religion und Frieden kommen sie mit dem Mann mit dem sie sich vereinen wollen an einem heiligen Platz zusammen Zuerst schliessen sie Bunde spiritueller Bruderschaft compaternitatis foedera Dann tragen sie sich gegenseitig dreimal um die Kirche Anschliessend gehen sie in die Kirche und vor dem Altar in der Anwesenheit der Reliquien der Heiligen werden viele Eide geschworen Zuletzt werden sie durch die Feier einer Messe und die Gebete von Priestern unaufloslich miteinander verbunden so wie bei einer Verlobung Aber ganz am Ende zur grosseren Befestigung ihrer Freundschaft und um die Dinge abzuschliessen trinkt jeder des anderen Blut dies behielten sie vom Ritus der Heiden bei die Blut zur Besiegelung von Eiden verwenden Wie oft wird in eben diesem Moment der Verlobung von diesen gewalttatigen und betrugerischen Mannern Blut vergossen so arglistig und feindselig dass der eine oder der andere von Blut entleert zuruckbleibt Wie oft folgt der Verlobung in dieser unangebrachten Stunde eine blutige Scheidung geht ihr voraus oder unterbricht sie sogar in noch nie gehorter Weise Zweihundert Jahre nach der Polemik von Geraldus uber die irischen Verbruderungsriten heisst es in einer offiziellen Chronik der Burgerkriegsjahre uber das erste Treffen zwischen Konig Eduard II von England und Piers Gaveston 1 Earl of Cornwall Als der Sohn des Konigs ihn betrachtete empfand er geradewegs so viel Liebe dass er einen Bruderschaftsbund mit ihm einging und wahlend sich fest entschloss vor allen Sterblichen ein unauflosliche Band der Liebe mit ihm zu knupfen Solche Beschreibungen hatten ein biblisches Vorbild den Bund zwischen David und seinem Bruder Jonatan Nach dem Gesprach Davids mit Saul schloss Jonatan David in sein Herz Und Jonatan liebte David wie sein eigenes Leben Saul behielt David von jenem Tag an bei sich und liess ihn nicht mehr in das Haus seines Vaters zuruckkehren Jonatan schloss mit David einen Bund weil er ihn wie sein eigenes Leben liebte 1 Sam 18 1 3 ELB Doch auch die weltliche Literatur erhob die Liebe zwischen zwei geschworenen Brudern zum romantischen Ideal Dies belegen zahlreiche Werke die teils auf popularen Stoffen beruhten wie die Geschichte von Horn und seinem geschworenen Bruder Ayol Adam Bell die Romanze zwischen Floris und Blancheflour der Guy of Warwicke oder die Ballade von Bewick und Graham Eine Mischung aus sakularer und religioser Literatur stellte die von einem Kleriker vor dem 14 Jahrhundert erstellte lateinischen Version von Amys und Amylion dar einer popularen Volkssage die sich in verschiedenen Kulturen von Indien bis zum Atlantik nachweisen lasst In ihrer christianisierten Fassung handelt sie von zwei geschworenen Brudern die fur Karl den Grossen kampften und nach ihrem Tod zunachst getrennt bestattet wurden Doch im Laufe der Nacht bewegten sich ihre Leichname aufeinander zu und am nachsten Morgen fand man sie Seite an Seite liegend Die Worte die der Schilderung dieses Wunders vorausgehen erinnern fast wortlich an die oben zitierte Grabinschrift So wie Gott sie im Leben durch Eintracht und Liebe verbunden hatte so wollte er nicht dass sie im Tode voneinander getrennt wurden Aufgrund der relativen Stereotypie mit der diese Formel verwandt wurde darf man vermuten dass es sich um eine Anspielung auf das Matthaus Evangelium handelt wo Jesus Christus die Unaufloslichkeit der Ehe mit den Worten begrundet Was aber Gott verbunden hat das darf der Mensch nicht trennen Mt 19 6 ELB Heutige historische Einordnung BearbeitenDer Ritus der Schwurbruderschaft hat unter Historikern die sich mit der Geschichte der Homosexualitat befassen in den letzten Jahren grossere Beachtung gefunden da sie das bisherige Bild des Mittelalters und der fruhen Neuzeit in vielerlei Hinsicht modifiziert John Boswell nahm es in seinem 1994 erschienenen Buch Same Sex Unions in Premodern Europe zum Beleg fur seine These dass das Christentum nicht immer homosexuellenfeindliche Positionen vertreten habe Allerdings setzt er dabei einen modernen Begriff an der fur das Mittelalter noch keinerlei Bedeutung hatte die Konstruktion des Homosexuellen als eigenstandigem Personentyp Differenzierter erforschte der in den gay amp lesbian studies nicht minder bekannte Historiker Alan Bray den Ritus der Verbruderung am Beispiel englischer Quellen In seinem postum erschienenen Werk The Friend versucht er diese Institution aus der Mentalitat und dem Gefuge der mittelalterlichen Gesellschaft zu rekonstruieren Kunstliche Verwandtschaftsbeziehungen fur welche die Schwurbruderschaft lediglich ein Beispiel darstellt hatten in der Vormoderne demnach eine zentrale Funktion fur die horizontale Verstrebung der einzelnen Haushalte Nicht nur leisteten sich die beiden Bruder gegenseitigen Waffenschutz was in einer Gesellschaft die durch die Fehde gekennzeichnet war ein nicht zu unterschatzender Aspekt der allgemeinen Lebenssicherheit war Vielmehr verbanden Schwurbruderschaften auch ganze Familien miteinander weshalb solche Freundschaften nicht selten von den Eltern gefordert wurden Daruber hinaus muss betont werden dass diese Institution nicht als Alternative zur Ehe konzipiert war Vielmehr ubte sie auch im Fall einer spateren Heirat und Familiengrundung eine fortdauernde Sicherungsfunktion aus Starb einer der beiden Bruder sah sich der andere in der Pflicht die Familie die jener zuruckgelassen hatte mit den ihm verfugbaren Mitteln zu unterstutzen Dem diente unter anderem die Institution der compaternitas Patenschaft wortlich Mitelternschaft mit der die Verantwortung fur Kinder die wahrend ihrer Jugend oft in mehreren Haushalten lebten ein Stuck weit kollektiviert wurde Die Schwurbruderschaft ist daher nicht allein als romantische Beziehungsform zu sehen sondern muss wie die Ehe zu jenen Zeiten trotz ihrer literarischen und liturgischen Rahmung in den Begriffen von Liebe und Treue auch unter dem Aspekt ihrer materiellen Sicherungs und Versorgungsfunktion betrachtet werden Demgegenuber interessieren sich heutige christliche Theologen die die Ergebnisse solcher Forschungen nicht selten als Angriff auf ihre Lehrposition betrachten vor allem fur die Frage ob diese Beziehungen keusch gewesen seien Diese Frage lasst sich auf der Basis des existierenden Quellenmaterials jedoch kaum allgemeingultig beantworten Alan Bray schreibt hierzu Eine zweite unbehagliche Schwierigkeit ist der Nachweis fur Boswells konsequente Sicht dass Schwurbruderschaft eine Beziehung zwischen zwei Mannern oder Frauen sein konnte die sexuell war oder werden konnte Die Chronik des Zisterzienser Klosters von Meaux in Yorkshire aus dem 14 Jahrhundert ein Werk herausragender Gelehrsamkeit verzeichnete dass Eduard II in vitio sodomitico nimium delectabat sich besonders am Laster der Sodomie erfreute und Gavestons moderner Biograph schliesst daraus verstandlicherweise dass es ausser Frage steht dass Gavestons und Eduards Beziehung sexuell war Dies ist vom kanonischen Recht der Kirche naturlich nicht unterstutzt worden aber es ist unwahrscheinlich dass Eduard und Gaveston in dieser Hinsicht einzigartig waren Es gab eine vergleichbare sexuelle Ambivalenz bezuglich der anderen Formen ritueller Verwandtschaft die Giraldus gesamte Darstellung heraufbeschwort Kirchliche Gerichte missbilligten sexuelle Beziehungen bevor eine Verlobung in der Kirche gefeiert wurde und unterstutzten sexuelle Beziehungen zwischen den spirituellen Verwandten der compaternitas den commatres und compatres nicht aber die Missbilligung sexueller Beziehungen nach einer Verlobung wurde weithin missachtet und die besondere Freude sexueller Beziehungen mit jemandes commatres und compatres war eine gute Quelle fur Witze wahrend des gesamten Mittelalters Alan Bray 7 Literatur BearbeitenJohn Boswell The marriage of likeness Same Sex Unions in Premodern Europe New York 1994 Patrick Viscuso Failed Attempt to Rewrite History New Oxford Review December 61 1994 10 Review Alan Bray The Friend Chicago London 2003 2006 ISBN 0 226 07181 2 Claudia Rapp Brother making in late antiquity and Byzantium monks laymen and Christian ritual New York 2016 Oxford University Press ISBN 978 0 19 538933 3 Weblinks BearbeitenMelkite Catholic Eparchy of Newton Rite of Brotherhood Fr Evangelos K Mantzouneas Fraternization from a Canonical Perspective Church Ceremonies to Unite Same Sex CouplesEinzelnachweise Bearbeiten The Stephanos Project Adelphopoiesis Memento vom 15 Februar 2005 im Internet Archive Vgl Treitinger Otto Die ostromische Kaiser und Reichsidee nach ihrer Gestaltung im hofischen Zeremoniell Jena 1938 195 Vgl Agapius and Nicodemus The Rudder Pedalion All the Sacred and Divine Canons Chicago 1957 997 Ganzes Marchen abgerufen am 2 September 2023 Victoria Combe Church has long blessed gays Alan Bray Boswell and the Latin West and the debate over the blessing of friendship today Alan Bray The Friend Chicago London 2003 S 38 f aus dem Englischen ubersetzt Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Schwurbruderschaft amp oldid 236996133