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Zeit und Freiheit franzosisches Original Essai sur les donnees immediates de la conscience ist der deutsche Titel einer erstmals 1889 dt 1911 publizierten Abhandlung des franzosischen Philosophen Henri Bergson in der er den Versuch unternimmt Freiheit in einem Dreischritt durch die Zuruckweisung der uneingeschrankten Gultigkeit bzw Anwendbarkeit naturwissenschaftlicher Quantifizierungsbestrebungen und der mit diesen verbundenen materialistischen und deterministischen Theoreme zu sichern Inhaltsverzeichnis 1 Der Bergsonsche Dreischritt in Zeit und Freiheit 1 1 Intensitaten 1 2 Mannigfaltigkeit 1 3 Freiheit 2 Die Grundbegriffe Raum Zeit Dauer 2 1 Raum 2 2 Zeit vs Dauer 3 Literatur 4 EinzelnachweiseDer Bergsonsche Dreischritt in Zeit und Freiheit BearbeitenIntensitaten Bearbeiten Das erste Kapitel von Zeit und Freiheit hebt im Erfahrungsbereich psychologischer Tatsachen an um zu zeigen dass Intensitaten etwa die Empfindung eines starkeren oder geringeren Schmerzes oder die Wahrnehmung zweier verschiedener Blautone nicht eigentlich graduelle Abstufungen eines einheitlichen Phanomens sind sondern qualitativ divergieren Es handelt sich so die These Bergsons um zwei grundstandig verschiedene Arten von Empfindungen die Farbe Blau fachert sich nicht in ein Spektrum unterschiedlichster Abstufungen aus sondern der Begriff Blau stiftet die vermittels Verstandesabstraktion gewonnene Zusammenfassung qualitativ verschiedener Farbeindrucke Mannigfaltigkeit Bearbeiten Nachdem er den fundamentalen Gegensatz zwischen scheinbar quantitativer Abstufung und der tatsachlich qualitativen Divergenz im ersten Abschnitt herausgearbeitet hatte leitet Bergson im zweiten Passus zu einem Kernproblem seiner Philosophie uber Der Differenzierung von Zeit und Dauer duree Zeit analysiert er hier als Bastardbegriff 1 als ein Hybridgebilde aus Dauer und Raum Laut Bergson ist Zeit wie sie sich unserer alltaglichen Wahrnehmung darbietet wesentlich Raum Erfassen wir beispielsweise die Schlage einer Glocke in ihrer Sukzession so gelingt uns das Zahlen einzig da wir die heterogene Empfindung eines Tonkonglomerats ahnlich einer Melodie in diskrete Zeichen in einzelne Schlage kunstlich aufspalten und sie in einem idealen Raume nebeneinander aufreihen Dieser naturwissenschaftlichen Konstruktion deren Produkt der plane Zeitpfeil in der Mechanik reversibel in der Thermodynamik irreversibel gedacht ist setzt Bergson die Dauer des Bewusstseins entgegen In ihrer heterogenen sich selbst durchdringenden Vielheit an Zustanden ist die Dauer des Bewusstseins unabdingbar um den Raum der selbst keine Zeit kennt sondern nur aus wohlunterschiedenen Lagedifferenzen besteht zu einer Bewegung einer Geschichte zusammenzufassen Denkt sich Bergson den Raum also ahnlich einzelnen Schnappschussen einzelnen Bildern so konnen diese Bilder nur dadurch zum Laufen gebracht werden dass ein Bewusstsein das dauert mehrere Bilder eben uberdauert und sie so zusammenzieht sie ineinander ubergehen lasst Die Dauer ist dem Raum damit fremd Freiheit Bearbeiten Auf Basis der Zuschreibung von Dauer ist dem Bewusstsein ein Charakteristikum gegeben das es der Quantifizierung entzieht das es gewissermassen immunisiert gegen die einfache Einbindung in Kausalketten und der aus diesen folgenden Determiniertheit samtlicher Handlungen Sofern das Bewusstsein seiner Dauer gewartig wird der Mensch eine Handlung aus der Ganzheit der Verflechtungen und Verschlingungen seiner individuellen Dauer heraus zur Ausfuhrung bringt setzt es sich uber die Determination moglicher nur kunstlich zu trennender Einzelkomponenten hinweg Eine These die Bergson insbesondere in Materie und Gedachtnis ausweiten und plausibel machen wird und die in der Schopferischen Entwicklung ihre evolutionstheoretische und metaphysische Wendung erhalt Auch wenn Zeit und Freiheit keineswegs reprasentativ fur das Gesamtwerk Bergsons ist und insbesondere der Terminus duree hier noch ganzlich auf den Bereich der unmittelbaren Bewusstseinstatsachen bezogen folglich psychologisch definiert bleibt handelt es sich hier um eine fur das Verstandnis des Gesamtwerkes unverzichtbare Abhandlung die trotz aller spateren Modifikationen bereits die Hauptstrange des komplexen Begriffsgeflechts der neuerdings wieder aktuellen Philosophie Bergsons freilegt Die Grundbegriffe Raum Zeit Dauer BearbeitenRaum Bearbeiten Bergsons Bestimmung des Raumes bedient sich ganz aus dem terminologischen Fundus der ihr von Kant massgeschneidert worden ist erachtet denselben als homogen als Anschauungsform menschlicher Erkenntnis die der Wahrnehmung der ausgedehnten Welt zugrunde liegt und gegen die Annahmen des britischen Empirismus nicht erst von deren Gegenstanden abstrahiert wird folglich auch keine Qualitat von Qualitaten sein kann Uber Kant hinaus geht Bergson dann aber wiederum sogar so weit die Wahrnehmung des homogenen Raumes zur Bedingung samtlicher hoherer Intellekttatigkeiten aufzuwerten der Sprachfahigkeit wie auch mathematischer Operationen oder anders gesagt all jener Verrichtungen die es laut Bergson erfordern Dinge und sei es auch in einem idealen Raum nebeneinander anzuordnen 2 Womit wir bei einer weiteren entscheidenden Eigenschaft des Raumes angelangt waren Er ist der Ort einer reziproke n Exterioritat ohne Sukzession 3 was bedeutet dass wir im Raum ausserhalb des wahrnehmenden Bewusstseins sehr wohl auf mehrere einander ausserliche Zenonische Pfeile treffen konnen und dennoch niemals auf eine Bewegung derselben 4 Schliesslich existiert als Relationsbestimmung innerhalb des Raumes einzig die Lage und da er streng von aller Zeitlichkeit separiert ist keine Aufeinanderfolge keine Sukzession lediglich Simultanitat Sollte Bewegung zustande kommen bedurfte es eines bewussten Beobachters eines Gedachtnisses das den Momentpunkt in seiner Unausgedehntheit sich zu eigen machte ihn mit dem vergangenen Momentpunkt verknupfte und in der Durchdringung von Vergangenheit und Gegenwart eine Bewegung entstehen liesse der qualitativer Aktcharakter eignete 5 Der Raum selbst aber so liesse sich wiederholen kennt keine Geschichte sondern nur simultane Lagedifferenzen Zeit vs Dauer Bearbeiten Ausgehend vom Bewusstsein und seiner Funktion als Beobachter der Simultaneitat der Dinge im Raum bedarf es nur noch eines kleinen Schrittes bis zur Dauer dem eigentlichen und originaren Beitrag des Bergsonschen Denkens um den sich mithin seine Philosophie in ihrer Ganze zu ranken scheint 6 Analysieren wir wie Bergson dies tut den Raum als einen homogenen dreidimensionalen in dem sich Gegenstande gleichzeitig und in mannigfachen Relationen zueinander gruppieren als einen jedoch dem das Nacheinander dem die Folge fremd ist stellen wir ferner das unmittelbar gegebene Bewusstsein diesem Raum gegenuber so scheint es zwingend erforderlich zu sein diesem Bewusstsein gleichfalls eine Dauer zuzuordnen Denn wie sollte es andernfalls in den Stand gesetzt sein die blossen Schnappschusse der inkoharenten Raumbilder zu einer Bewegung zu einem Kontinuum zu verschmelzen Das Bewusstsein will es die soeben wahrgenommene und bereits vergangene Konstellation im Raum mit der gegenwartigen zusammenziehen um die Wahrnehmungsbilder so zum Laufen zu bringen muss beide Konstellationen uberdauern 7 Diese gewissermassen aus den Eigentumlichkeiten von Raum und Bewusstsein selbst hervorgehende Bestimmung der Dauer ist jedoch keineswegs hinreichend Die Bergsonsche Begrifflichkeit greift weiter aus so weit sogar dass der Terminus Dauer 8 fur sich genommen irrefuhrende Implikationen birgt sofern man geneigt ist ihn im gewohnlichen Wortsinn mit Stillstand oder gar zeitlicher Ausdehnung zu assoziieren Dauer ist keineswegs Stillstand 9 da sie insbesondere in den spateren Arbeiten Bergsons vornehmlich der Schopferischen Entwicklung sich zunehmend dem Differenzierungsprozess des elan vital offnet eine Tendenz die zwar in Zeit und Freiheit auch in Materie und Gedachtnis bereits erste Spuren hinterlasst gleichwohl nirgendwo in der dann kennzeichnenden Deutlichkeit zur Sprache gelangt Nun ist sie aber auch nicht zeitliche Ausdehnung Denn ein Grossteil der gedanklichen Bemuhungen in Zeit und Freiheit werden von Bergson darauf verwendet eben gerade eine moglichst saubere Scheidewand zwischen den Termini Zeit und Dauer emporzuziehen zu demonstrieren dass der alltagliche Zeitbegriff am Ende ein Bastardbegriff ist der seinen Ursprung dem Eindringen der Raumvorstellung ins Gebiet des reinen Bewusstseins verdankt 10 Die Zeit als unreines Hybridgebilde von Dauer und Raum ist insofern Raum als sie gleich diesem homogen gedacht wird ein grundierendes Medium das der Aufreihung von Objekten Platz einraumt nur dass die Aufreihung nicht wie im Raum als simultane Auslagerung statthat sondern vielmehr in der Sukzession Gegenstande werden in ihrem Nacheinander auf einer ebenen Flache die wir Zeit nennen platziert sodass Zeit letzten Endes mit dem Raum einerseits in ihrer Homogenitat 11 sich trifft andererseits und dies ist besonders wichtig gleichermassen die Dinge und Ereignisse sich untereinander extern sein lasst Wir vermeinen in der Zeit eine Verkettung diskreter Zeichen zu erblicken Ein Objekt lasst sich hier deutlich wie im Raum vom anderen separieren ein Ereignis vom nachfolgenden trennen Nur ist so Bergson diese Form von Exterioritat der Dauer also dem was ursprunglich und eigentlich Zeit genannt zu werden verdient in keiner Weise zugehorig Das Entstehen des Bastardbegriffes Zeit darf vielmehr als Folge der Verstandesaktivitat gesehen werden genauer gesagt der Fahigkeit Bewusstseinszustande die tatsachlich in sich heterogen und durchdringend sind an einzelne Lagekonstellationen der Raumobjekte zu knupfen und ihnen so dieselbe Wohlunterschiedenheit zuzuschreiben die den Gegenstanden im Raum wirklich eignet 12 Auf diese Weise wird der Raum zum Mass unseres Zeitempfindens ein spezifisches Lageverhaltnis der Dinge tritt offenkundig und zwar nachdem erst das Bewusstsein die ihm zukommende Dauer zur Verfugung gestellt und somit Bewegung und Geschichte hervorgebracht hat gleichzeitig mit einem Bewusstseinszustand ein Als wurde an eine in sich nicht unterschiedene Flache ein Lineal die Raumobjekte angelegt kann nun aus der Heterogenitat und Durchdringung der Bewusstseinszustande derjenige Zustand herausgelost werden der gleichzeitig mit einer festgelegten Raumkonstellation eintritt Das Ergebnis ist die Illusion der homogenen Zeit und der wohl unterschiedenen Bewusstseinszustande Eine Illusion zu der um es pointiert zu sagen das Bewusstsein die Dauer der Raum das diskrete Nebeneinander beigetragen hat 13 Literatur BearbeitenDeleuze Gilles Bergson zur Einfuhrung Hamburg 1989 SOAK Einfuhrungen Bd 44 Gimmler Antje u a Hg Die Wiederentdeckung der Zeit Reflexionen Analysen Konzepte Darmstadt 1997 Guerlac Suzanne Thinking in time Henri Bergson an interdisciplinary conference In Modern Language Notes 120 2005 S 1091 1098 Marrati Paola Time Life Concepts The Newness Of Bergson In Modern Language Notes 120 2005 S 1099 1111 Pflug Gunther Henri Bergson Quellen und Konsequenzen einer induktiven Metaphysik Berlin 1959 Russel Bertrand The Philosophy Of Bergson In The Monist 22 1912 S 321 347 Sandbothe Mike Die Verzeitlichung der Zeit Grundtendenzen der modernen Zeitdebatte in Philosophie und Wissenschaft Darmstadt 1998 Tugendhat Ernst Heidegger und Bergson uber die Zeit In Das Argument 34 1992 S 573 584 Vrhunc Mirjana Bild und Wirklichkeit Zur Philosophie Henri Bergsons Munchen 2002 Ubergange Bd 47 Einzelnachweise Bearbeiten Bergson Henri Zeit und Freiheit Hamburg 2006 3 Auflage S 76 Zur Kritik dieser psychologistischen Auffassung vgl grundlegend Frege Gottlob Die Grundlagen der Arithmetik Stuttgart 1987 zuerst 1884 Bergson Henri Zeit und Freiheit Hamburg 2006 3 Auflage S 83 Bergson Henri Zeit und Freiheit Hamburg 2006 3 Auflage S 86 zur Kritik ausserdem die Diskussion bei Russell Bertrand Philosophie des Abendlandes Ihr Zusammenhang mit der politischen und sozialen Entwicklung Koln 2002 5 Auflage S 811 So Bergsons Vorschlag zur Auflosung der Zenonischen Paradoxie Vgl Bergson Henri Zeit und Freiheit Hamburg 2006 3 Auflage S 86 Vgl dazu Vrhunc Mirjana Bild und Wirklichkeit Zur Philosophie Henri Bergsons Munchen 2002 Ubergange Bd 47 S 27 30 und Deleuze Gilles Bergson zur Einfuhrung Hamburg 1989 SOAK Einfuhrungen Bd 44 S 53 68 vgl Bergson Henri Zeit und Freiheit Hamburg 2006 3 Auflage S 59 Das franzosische duree birgt andere Konnotationen als das etymologisch naheliegende und sich so als Ubersetzung anempfehlende Dauer Vgl Vrhunc Mirjana Bild und Wirklichkeit Zur Philosophie Henri Bergsons Munchen 2002 Ubergange Bd 47 S 15 f vgl Vrhunc Mirjana Bild und Wirklichkeit Zur Philosophie Henri Bergsons Munchen 2002 Ubergange Bd 47 S 15 und S 28f Bergson Henri Zeit und Freiheit Hamburg 2006 3 Auflage S 76 Diese Homogenitat entspricht ebenso der Beschaffenheit der mechanischen Trajektorien bei denen die Gleichartigkeit des Mediums Zeit nachgerade die Ermoglichungsbedingung der Reversibilitat von Bewegungen gemass den Stossgesetzen ist Vgl Sandbothe Mike Die Verzeitlichung der Zeit Grundtendenzen der modernen Zeitdebatte in Philosophie und Wissenschaft Darmstadt 1998 S 12 f Bergson Henri Zeit und Freiheit Hamburg 2006 3 Auflage S 76 S 83 Bergson bezeichnet diesen Austausch als Endosmose Bergson Henri Zeit und Freiheit Hamburg 2006 3 Auflage S 83 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Zeit und Freiheit amp oldid 237275610