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Bei der systemtheoretischen Literaturwissenschaft auch systemtheoretisch orientierte Literaturwissenschaft handelt es sich um denjenigen Zweig des zeitgenossischen literatursoziologischen Diskurses der methodologisch an die Pramissen der struktur funktionalen soziologischen Systemtheorie des amerikanischen Gesellschaftstheoretikers Talcott Parsons 1902 1979 und vor allem deren Weiterentwicklung durch den deutschen Soziologen Niklas Luhmann 1927 1998 anschliesst Titelseite von Niklas Luhmanns kunsttheoretischem HauptwerkSeit den 1990er Jahren hat dieser primar an Luhmanns kunsttheoretischem Hauptwerk Die Kunst der Gesellschaft 1995 sowie an andere kunstsoziologische Schriften Luhmanns anknupfende Ansatz zunehmend an Einfluss gewonnen und gehort mittlerweile trotz teils gehoriger Rezeptionsprobleme die nicht zuletzt auf der zweifellos hohen Abstraktionslage der Luhmannschen Systemtheorie beruhen zum kanonisierten Bestand der literaturtheoretischen Methodendiskussion innerhalb der Literaturwissenschaft Mit ihrer weitgehenden Ausblendung psychisch prozessierter Autorintentionen wahrend des Produktionsprozesses ihrem prinzipiellen Verzicht auf eine Analyse der Psychologie der Rezeptionsakte sowie ihrer relativen Distanz gegenuber einer reinen Einzeltextexegese im Sinne eines close reading reiht sich die systemtheoretische Literaturwissenschaft in die Tradition der kontextorientierten Literaturtheorien ein und wird der Literatursoziologie zugerechnet Allerdings wird die in der literatursoziologischen Tradition bedeutsame Widerspiegelungstheorie des Marxismus ebenso strikt abgelehnt wie andere Formen des sozialen Determinismus An ihre Stelle ruckt der nicht kausale Begriff der Emergenz Die systemtheoretische Literaturwissenschaft ubernimmt Luhmanns Universalitatsanspruch und ist somit auf prinzipiell alle literarischen Phanomene anwendbar In der bisherigen wissenschaftlichen Praxis haben sich jedoch Literaturgeschichte Asthetik Gattungsgeschichte und theorie Liebesroman und semantik sowie die Literatur um 1800 als Hauptarbeitsfelder erwiesen da Luhmann davon ausgeht dass um die Wende vom 18 zum 19 Jahrhundert eine Umstellung der primaren Differenzierungsform der Gesellschaft von Stratifikation auf funktionale Differenzierung erfolgt Mittlerweile rucken aber auch zunehmend die vormoderne Literatur 1 sowie die literarische Produktion des 20 Jahrhunderts ins Blickfeld systemtheoretisch inspirierter Literaturwissenschaft Zwar bildet die Systemtheorie einen eigenen Zweig innerhalb der soziologischen Theoriebildung trotzdem bestehen aber partielle Affinitaten und bestimmte theoretische Uberschneidungen etwa mit der Medienwissenschaft Interdiskursanalyse 2 historischen Diskursanalyse 3 der Feldtheorie 4 sowie anderen uberindividuell orientierten Ansatzen in den Kulturwissenschaften Bislang arbeiten vor allem Germanisten Anglisten sowie Romanisten mit den Theoremen der systemtheoretischen Literaturwissenschaft vor allem im deutschsprachigen Raum sowie in den Niederlanden Inhaltsverzeichnis 1 Grundlagen 2 Theorieansatze 2 1 Empirische Literaturwissenschaft 2 2 Das Bochumer Modell 2 2 1 Epochen moderner literarischer Kommunikation 2 3 Das Leidener Modell 3 Einzelnachweise 4 Kunst und literatursoziologische Veroffentlichungen von Luhmann 5 Sekundarliteratur 5 1 Uberblicksdarstellungen 5 2 Bochumer Modell 5 3 Leidener Modell 5 4 Sammelbande 5 5 Sonstige 6 Siehe auchGrundlagen BearbeitenGemeinsam ist den unterschiedlichen Ansatzen innerhalb der systemtheoretischen Literaturwissenschaft die Ansicht dass sich der Literaturbetrieb der Moderne in seinem Verhaltnis zum Rest der Gesellschaft aber auch im Verhaltnis zu sich selbst am besten als ausdifferenziertes Sozialsystem mit spezifischer Funktion stabiler Leitdifferenz und miteinander konkurrierenden Programmen beschreiben lasst Ausgegangen wird innerhalb des systemtheoretischen Paradigmas von der Existenz eines autonomen und selbstreferentiellen Literatursystems das sich klar von anderen Sozialsystemen die in ihrer Totalitat die Gesamtgesellschaft ausmachen unterscheidet Dabei regeln die systeminternen Strukturen sowohl innersystemische Prozesse als auch uber strukturelle Kopplungen die Intersystembeziehungen des Literatursystems mit anderen Sozialsystemen wie etwa dem Wirtschaftssystem Erziehungssystem Politiksystem Religionssystem usw Da die Sozialsysteme stets mittels interner Strukturen eigene Perspektiven auf die Wirklichkeit hervorbringen die mitunter deutlich voneinander abweichen konnen wird die systemtheoretische Literaturwissenschaft erkenntnistheoretisch dem Konstruktivismus zugerechnet Literarisches Handeln bzw literarische Kommunikation die klar von psychisch prozessierten Autorintentionen oder dem Rezeptionsprozess getrennt wird kann nur innerhalb der Grenzen des Literatursystems vollzogen werden welches zwar eine eigene unverwechselbare Identitat besitzt gleichzeitig aber auch fundamentale strukturelle Gemeinsamkeiten mit anderen Sozialsystemen aufweist und insofern einen spezifischen nicht aber einzigartigen oder irgendwie privilegierten Beitrag zur Konstruktion sozialer Realitat insgesamt leistet So erfullt literarische Kommunikation eine nur ihr eigene Funktion bedient sich dabei eines eigenen symbolischen generalisierten Kommunikationsmediums und verwendet einen eigenen systemspezifischen Code dessen gegenlaufige Werte mittels literarischer Programme definiert werden genau so wie dies auch in den ubrigen Sozialsystemen der modernen Gesellschaft geschieht Dabei wird das Literatursystem als operativ geschlossen konzipiert d h literarische Kommunikation kann erfolgreich nur in Form von Werken vollzogen werden die als symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien dafur sorgen dass Literatur in eine wiedererkennbare vertraute und unverwechselbare Form gebracht wird Uber die Programmebene halt sich das Literatursystem aber strukturell jederzeit potentiell fur ausserliterarische Ideen offen also etwa fur politische Weltbilder religiose Uberzeugungen oder bestimmte Moralvorstellungen die allerdings mit innerliterarischen Werten verrechnet werden mussen und innerhalb des literarischen Werkes nicht zur Dominante werden durfen wenn noch von Literatur die Rede sein soll Theorieansatze Bearbeiten nbsp Siegel der Ruhr Universitat Bochum nbsp Siegel der Universitat LeidenEs existieren mehrere teils miteinander konkurrierende teils einander erganzende literatursoziologische Ansatze die unter dem Oberbegriff der systemtheoretischen Literaturwissenschaft gehandelt werden und meist aus dem Fachgebiet der Germanistik aber auch aus dem der Anglistik stammen Zu diesen gehoren die Empirische Literaturwissenschaft ELW das Bochumer Modell sowie das Leidener Modell Wahrend die ELW eine Weiterentwicklung der strukturfunktionalen Systemtheorie des US amerikanischen Soziologen Talcott Parsons darstellt basieren die an der deutschen Ruhr Universitat Bochum sowie der niederlandischen Universitat Leiden entwickelten Modelle vornehmlich auf der an Parsons anknupfenden funktional strukturalistischen Systemtheorie Niklas Luhmanns 5 Die beiden letztgenannten Modelle ubernehmen im Gefolge Luhmanns auch das Konzept der Autopoeisis der chilenischen Biologen Humberto Maturana sowie Francisco Varela und versuchen Luhmanns nur am Rande auf den Literaturbetrieb Bezug nehmende Kunstsoziologie so weiterzuentwickeln dass sie auch auf literarische Phanomene angewendet werden kann Daneben existieren noch weitere auf Luhmann zuruckgehende Ansatze die meist von einzelnen Literaturwissenschaftlern wie z B dem Anglisten Dietrich Schwanitz dem Romanisten Hans Ulrich Gumbrecht sowie den Germanisten Oliver Jahraus und Oliver Sill vertreten werden und von den beiden genannten Hauptstromungen mehr oder minder stark abweichen bzw diesen neue Aspekte hinzufugen ohne im engeren Sinne eigene Schulen zu begrunden So entstanden im Verlauf der 2000er Jahre beispielsweise Studien die sich der gesellschaftlichen Funktion der Literatur und ihrer Codierung widmen 6 oder das Verhaltnis von Bewusstsein und Kommunikation im Medium der Literatur thematisieren 7 8 Empirische Literaturwissenschaft Bearbeiten Hauptartikel Empirische Literaturwissenschaft Die ELW gehort zu den akademisch erfolgreichsten Varianten systemtheoretisch orientierter Literaturwissenschaft Sie geht auf Uberlegungen des deutschen Literaturwissenschaftlers Siegfried J Schmidt zuruck und stellt eine speziell auf den modernen Literaturbetrieb ausgerichtete Weiterentwicklung der von Parsons entwickelten Theorie der Handlungssysteme dar Ebenfalls auf Parsons gehen die Arbeiten einer in den 1980er Jahren agierenden Arbeitsgruppe um Jorg Schonert zuruck die unter dem Einfluss Georg Jagers in den 1990er Jahren schliesslich in einen kritischen Dialog mit dem Luhmannschen Ansatz eintrat Das Bochumer Modell Bearbeiten Das Bochumer Modell fusst auf Luhmanns Kommunikationstheorie und dem seitens Luhmann vom Philosophen Gotthard Gunther ubernommenen Theorem der Polykontexturalitat Das daraus abgeleitete Programm einer polykontexturalen Literaturwissenschaft weist eine gewisse vor allem wissenschaftspraktische Nahe zu den diskursanalytischen Ansatzen in der Literaturtheorie auf Neben systemimmanenten Prozessen und der Frage nach der gesellschaftlichen Funktion sowie der Codierung literarischer Kommunikation werden auch die Intersystembeziehungen berucksichtigt die das Literatursystem mit anderen Sozialsystemen unterhalt Dabei wird die Literaturgeschichte in Fortsetzung einer von den russischen Formalisten begrundeten Tradition als Prozess literarischer Evolution konzipiert Die Hauptexponenten des Bochumer Modells sind die Germanisten Gerhard Plumpe und Niels Werber Ihr Programm einer polykontexturalen Literaturwissenschaft 9 wurde in den fruhen 1990er Jahren an der Ruhr Universitat Bochum entwickelt und fusst auf den kommunikationstheoretischen Grundlagen der Luhmannschen Theorie sozialer Systeme Dabei wird versucht deren begriffliches Instrumentarium auf die literarische Kommunikation zu ubertragen Das Literatursystem der funktional differenzierten Gesellschaft das in Luhmanns Kunstsoziologie nur ganz am Rande Erwahnung findet wird dabei als autonom aber nicht hermetisch abgeschlossen konzipiert Damit unterscheidet sich das Bochumer Modell deutlich von bekannten auf Werkimmanenz setzenden literaturtheoretischen Schulen wie etwa dem angelsachsischen New Criticism Im Ruckgriff auf ausschliesslich interne Strukturen versucht das Literatursystem seine nicht literarische Umwelt auf literaturfahiges Material hin abzusuchen und dieses in die eigene Kommunikationweise sprich die literarischen Werke zu inkorporieren nbsp Titelansicht von Literatur als SystemDie soziale Funktion die der literarischen Kommunikation im Bochumer Modell zugeschrieben wird besteht darin dass im Zuge empirisch nachweisbarer allmahlich wachsender Freizeitkontingente ein standig zunehmender Bedarf an Unterhaltung innerhalb der Gesellschaft entstand der schliesslich Ende des 18 Jahrhunderts zur Etablierung eines hierfur exklusiv zustandigen autonomen Funktionssystems der Literatur fuhrte das man als Subsystem des Kunstsystems ansehen kann und das bis heute existiert 10 Als Leitdifferenz literarischer Kommunikation auf die alle Mitteilungen systemintern zugeschnitten sind bestimmen Plumpe und Werber die Dichotomie interessant langweilig 11 Es handelt sich dabei um einen asymmetrischen Praferenzcode d h nur eine Seite der Leitdifferenz namlich der positive Wert interessant wird generell immer angestrebt Innerhalb des Literatursystems bedeutet das praktisch dass etwa von Autorenseite immer wieder aufs Neue versucht wird interessant nicht langweilig zu sein naturlich mit unterschiedlichem Erfolg und auf unterschiedliche Art und Weise d h mit unterschiedlichen stilistischen Mitteln Dabei bleibt die Leitdifferenz selbst aber immer unverandert die gleiche und verleiht dem System ein hinreichendes Mass an innerer Stabilitat Trotz des allumfassenden Zuschnitts auf die Leitdifferenz interessant langweilig herrscht allerdings Uneinigkeit daruber wie das Interessante konkret dichterisch zu gestalten sei Damit ist die konflikttrachtige Ebene der im Literatursystem miteinander widerstreitenden Programme angesprochen Gemeint sind damit gegensatzliche Versuche der theoretischen Reflexion daruber wie interessante literarische Werke konkret zu gestalten seien d h es geht darum wie man den positiven Wert des Praferenzcodes der Literatur aufrufen bzw programmieren kann Im Kontrast zur stabilen Leitdifferenz des Literatursystems sind die literarischen Programme somit einem standigen Wandel ausgesetzt d h es wird immer wieder nach neuen Wegen gesucht interessant zu werden oder zu bleiben und dabei konkurrierende Versuche seitens anderer Autoren auszustechen Dabei werden die literarischen Werke im Anschluss an Luhmanns Medientheorie als symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien verstanden Ihr Forschungsprogramm definieren Plumpe und Werber in nuce wie folgt Ist die Literatur ein Sozialsystem unserer Gesellschaft dann beobachtet Literatur all jene Systeme die sich in ihrer Umwelt befinden etwa die Wirtschaft die Politik oder das Recht Das derart unterscheidende und beobachtende Literatursystem muss dabei permanent unterscheiden was es fur poesiefahig halt und was nicht Diese Entscheidung ist historischem Wandel unterworfen Stabil bleibt bei wechselnder Themenvorgabe allerdings die Frage ob die aus der Umwelt ins System der Literatur importierten Themen interessante oder langweilige Unterhaltung versprechen Beobachtungen der Literatur interessieren sich in diesem Sinne primar fur die literarischen Reize ihrer Umwelt die die Literatur in Texte zu integrieren versteht um damit ihr Publikum zu erreichen und nicht um etwa die okonomischen oder politischen Verhaltnisse zu verandern Solche durchaus moglichen Effekte der Literatur auf ihre Umwelt sind Zurechnungen die von literaturexternen Beobachtern vorgenommen werden 12 Mit den Grundannahmen des Bochumer Modells arbeitet auch der Anglist Christoph Reinfandt von der Universitat Tubingen Ihm geht es insbesondere um eine jenseits der althergebrachten Unterscheidung zwischen Individuum und Gesellschaft liegende Prazisierung des Verhaltnisses zwischen literarischer Kommunikation und den an ihr beteiligten Leserpsychen vor dem Hintergrund der Entwicklung des modernen englischen Romans Luhmanns Begriff der Leistung der das Verhaltnis der Sozialsysteme untereinander beschreibt wird dabei von Reinfandt auf das Verhaltnis von Literatursystem und den an ihm partizipierenden Bewusstseinssystemen ausgedehnt Beide Systemtypen stehen laut Reinfandt in einem wechselseitigen Konstitutionszusammenhang wobei die vom Literatursystem fur die Leserpsychen erbrachte Leistung vor allem in der Sinngebung gesehen wird 13 2011 wurde das Bochumer Modell um den Vorschlag erweitert neben der Leitdifferenz interessant langweilig einen Nebencode literarisch wertvoll wertlos zu veranschlagen der vor allem von der Literaturkritik verwendet wird und sowohl fur die Genese des Sekundarmediums personal zurechenbarer Autorenreputation als auch fur die Etablierung eines systemeigenen sozialen Gedachtnisses verantwortlich zeichnet Eingedenk der standig wachsenden Zahl literarischer Neuerscheinungen die Jahr fur Jahr den Buchmarkt uberschwemmen und systemintern fur einen heftigen Uberschuss an Informationen sorgen benotigt das Literatursystem einen Selektionsmechanismus der effizient zwischen relevanten und irrelevanten neuen Werken diskriminiert Dabei wird die grosse Mehrheit der Neuerscheinungen durch Aufruf des negativen Wertes des Nebencodes bzw durch Nichtbeachtung des entsprechenden Werkes dem Vergessen preisgegeben 14 Epochen moderner literarischer Kommunikation Bearbeiten nbsp Titelansicht von Epochen moderner LiteraturWas die Gestaltungsweisen der literarischen Werke angeht bestehen laut Plumpes systemtheoretischem Modell vier prinzipielle Moglichkeiten der Relationierung literarischer Elemente zu neuen Werken d h grob gesagt literarische Werke lassen sich grundsatzlich auf vier verschiedene Weisen herstellen Diese werden als Romantik Realismus Asthetizismus sowie Avantgarde identifiziert 15 Die altbekannten Epochenbegriffe der Literaturwissenschaft erfahren dabei eine systemtheoretisch fundierte Neudefinition von der eine gewinnbringende Prazisierung der als wenig trennscharf empfundenen orthodoxen Epochenbezeichnungen wie sie der Traditionsbestand der Germanistik liefert erhofft wird In diesem Zusammenhang wird auch die aus der Geistesgeschichte und der von ihr beeinflussten Hermeneutik stammende Vorstellung einer relativ rational und linear ablaufenden Literaturgeschichte ersetzt durch den bereits 1927 vom russischen Formalisten Juri Tynjanow in den literaturtheoretischen Diskurs eingefuhrten Begriff der literarischen Evolution Dabei geht Plumpe von folgenden unterscheidungsleitenden Kriterien aus nach denen sich literarische Werke klassifizieren lassen Unter Romantik werden alle dichterischen Formierungsversuche erfasst die vornehmlich die Autonomie des Literatursystems gegenuber allen anderen Funktionssystemen der entstehenden funktional differenzierten in unterschiedliche Teilbereiche sich gliedernden Gesellschaft akzentuieren Zum Medium fur literarischen Formgewinn wird hier damit System Umwelt Grenze selbst 16 Realistische Literatur dagegen geht bereits von der Existenz literarischer Autonomie aus importiert ausserliterarische Theorien sozialer Wirklichkeit z B die Freudsche Psychoanalyse oder den Historischen Materialismus von Karl Marx ins bereits etablierte Literatursystem und gestaltet ihre Werke dementsprechend als Psychodramen Gesellschaftsromane usw Dabei kann es nicht Aufgabe der Literatur sein ihre Umwelten deckungsgleich abzubilden die beobachtete Umwelt wird stattdessen bis zu einem gewissen Grad verklart und auf diese Art und Weise literaturformig gemacht 17 Asthetizistische Literatur wiederum konzentriert sich vornehmlich auf systeminterne Potenziale nutzt primar das Verstandigungsmedium der Sprache fur literarische Formgewinne und setzt dabei ganz auf Sprachschonheit stilistisches Raffinement und einen generell hohen Grad an Poetizitat der relativ unabhangig vom literarischen Genre ist 18 Die Avantgarde schliesslich verfolgt ein dezidiertes Entdifferenzierungsanliegen und stellt sich gegen die Aufsplittung der modernen Gesellschaft in funktionale Teilsysteme Sie will insbesondere die zu Beginn des 20 Jahrhunderts bereits verfestigte Systemgrenze zwischen Literatursystem und Politiksystem aufweichen um mit Literatur Politik machen zu konnen Dabei ging es stets um eine radikale Umwalzung der herrschenden gesellschaftlichen Verhaltnisse was teilweise auch zu vorubergehender oder dauerhafter Bejahung totalitarer Tendenzen fuhrte 19 Mit diesen vier Formierungsweisen sind ungefahr seit den fruhen 1930er Jahren alle prinzipiellen Moglichkeiten der Herstellung literarischer Werke nach Massgabe der Systemtheorie ausgereizt Zeitgenossische Autoren sind daher gezwungen ihre literarischen Leistungen als Innovationen auszugeben die sie in Wirklichkeit nicht sind sondern lediglich Neuauflagen und Rekombinationen von Altbekanntem Neo Realismus Neo Avantgarde usw Diese Phase die bis in die Gegenwart andauert bezeichnet Plumpe im begrifflichen Anschluss an den deutschen Romanisten Hans Robert Jauss daher auch als die relativ diffuse Epoche des Postismus 20 Das Leidener Modell Bearbeiten Das Leidener Modell des Textverstehens baut auf den Theoremen der Intertextualitat und der Kontextmarkierung auf Ferner wird von der Pramisse ausgegangen dass im Medium der Schriftlichkeit prozessierte Kommunikation genauso von Ereignishaftigkeit gepragt sei wie mundliche Interaktionssysteme Am Leidener Institut fur Systemtheorie und Humanoria kurz LISH unter Federfuhrung der Germanisten Matthias Prangel und Henk de Berg entwickelt ist das Leidener Modell als weitere wichtige Variante systemtheoretischer Literaturwissenschaft zu sehen Allerdings handelt es sich nicht um einen neuerlichen Versuch Funktion und Leitdifferenz des Literatursystems der modernen Gesellschaft zu bestimmen Es basiert vielmehr auf einer Reinterpretation der Kommunikationstheorie Luhmanns vor dem Hintergrund traditioneller hermeneutischer und semantischer bzw semasiologischer also die Bedeutungserzeugung betreffender Erwagungen die mit Luhmanns Kommunikationskonzept verbunden werden sollen um die literaturwissenschaftliche Anwendbarkeit der soziologischen Systemtheorie zu erhohen Im Zentrum der Uberlegungen steht dabei der an Luhmanns Adresse gerichtete Vorwurf den Begriff der Ereignishaftigkeit der einen schnellen Verlust der Aktualitat einer bereits getatigten Mitteilung impliziert vor allem fur mundlich prozessierte Kommunikation reserviert zu haben Prangel und de Berg der seit 1996 an der Universitat Sheffield lehrt und sich in den letzten Jahren starker der Geistesgeschichte zugewandt hat 21 gehen im Gegensatz dazu davon aus dass auch im Medium der Schriftlichkeit vollzogene Kommunikation die im Literatursystem den Normalfall darstellt von Ereignishaftigkeit gepragt sei und daher gleichermassen rapide an Aktualitat verliere Dabei wird eine doppelte Abgrenzung gegenuber dem ahistorischen Strukturalismus sowie der Dekonstruktion vorgenommen Laut der Leidener Rekonstruktion geht Luhmanns Kommunikationsmodell weder von einem synchronen Verweisungsnetz das den Zeichen aus ihren fixen differenziellen Abstanden zu den anderen Zeichen heraus eine feste kontextunabhangige Bedeutung zuweist noch von einem unendlichen Spiel der Differenzen aus das zu einer permanenten Verschiebung von Bedeutungen und damit zu immer wieder neuen Lesarten fuhrt weil es innerhalb dieses synchronen Verweisungsnetzes keine Fixpunkte mit dauerhaft stabiler Semantik gebe die eine bestimmte Lesart uber langere Zeitraume hinweg favorisieren wurden Luhmann habe stattdessen nachgewiesen dass sich jede Kommunikation immer in Differenz zum im gleichen Moment nicht Mitgeteilten also in Differenz zu einem Kontext anderer Moglichkeiten 22 konstituiere der als Abhebungskontext 23 gewissermassen die Negativfolie der tatsachlich aktualisierten Kommunikation im Rahmen einer historisch einmaligen Konstellation bilde und eine werkimmanente Analyse literarischer Texte bzw Werke verbiete Allerdings habe Luhmann diese Einsicht nicht konsequent genug auf die Ebene der im Medium der Schrift stattfindenden Erzeugung von Textbedeutungen ubertragen weshalb eine systemtheoretische Literaturwissenschaft bei der Analyse von Texten deren Kontextdifferenzgebundenheit 24 angemessen zu berucksichtigen sprich zu rekonstruieren habe was das Konzept in grosse Nahe zu den Theorien der Intertextualitat bringt Aus diesem Grunde wird das Leidener Modell auch als Text Kontext Differenz Modell gehandelt Einzelnachweise Bearbeiten Vgl Ingo Stockmann Vor der Literatur Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas Tubingen 2001 Vgl Rolf Parr Punktuelle Affinitaten ungeklarte Verhaltnisse Inter Diskurstheorie und Systemtheorie Zur Einfuhrung in die uberfallige Debatte Luhmann und oder Foucault In Kulturrevolution Heft 45 46 Jg 2003 S 55 57 Vgl Jurgen Link Wieweit sind foucaultsche Diskurs und luhmannsche Systemtheorie kompatibel Vorlaufige Skizze einiger Analogien und Differenzen In Kulturrevolution Heft 45 46 Jg 2003 S 58 62 Vgl Armin Nassehi Gerd Nollmann Bourdieu und Luhmann Ein Theorienvergleich Frankfurt M 2004 Vgl Oliver Jahraus Benjamin Marius Schmidt Systemtheorie und Literatur Teil III Modelle Systemtheoretischer Literaturwissenschaft in den 1990ern In Internationales Archiv fur Sozialgeschichte der Literatur IASL Bd 23 Heft 1 Tubingen 1998 insb S 66 70 Vgl Oliver Sill Literatur in der differenzierten Gesellschaft Systemtheoretische Perspektiven auf ein komplexes Phanomen Opladen 2001 Vgl Oliver Jahraus Literatur als Medium Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewusstsein und Kommunikation Weilerswist 2003 Vgl Christoph Reinfandt Romantische Kommunikation Zur Kontinuitat der Romantik in der Kultur der Moderne Heidelberg 2003 Gerhard Plumpe Niels Werber Umwelten der Literatur In Dies Hgg Beobachtungen der Literatur Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft Opladen 1995 S 9 34 Vgl Niels Werber Literatur als System Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation Opladen 1992 S 64 Vgl Gerhard Plumpe Niels Werber Literatur ist codierbar Aspekte einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft In Siegfried J Schmidt Literaturwissenschaft und Systemtheorie Positionen Perspektiven Kontroversen Opladen 1993 S 30ff Gerhard Plumpe Niels Werber Vorbemerkung In Dies Hgg Beobachtungen der Literatur Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft Opladen 1995 S 7 Vgl Christoph Reinfandt Der Sinn der fiktionalen Wirklichkeiten Ein systemtheoretischer Entwurf zur Ausdifferenzierung des englischen Romans vom 18 Jahrhundert bis zur Gegenwart Heidelberg 1997 S 34 Vgl Dominic Berlemann Wertvolle Werke Reputation im Literatursystem Bielefeld 2011 Vgl Gerhard Plumpe Epochen moderner Literatur Ein systemtheoretischer Entwurf Opladen 1995 S 258ff Vgl Gerhard Plumpe Epochen moderner Literatur Ein systemtheoretischer Entwurf Opladen 1995 S 65 104 Vgl Gerhard Plumpe Epochen moderner Literatur Ein systemtheoretischer Entwurf Opladen 1995 S 105 137 Vgl Gerhard Plumpe Epochen moderner Literatur Ein systemtheoretischer Entwurf Opladen 1995 S 138 176 Vgl Gerhard Plumpe Epochen moderner Literatur Ein systemtheoretischer Entwurf Opladen 1995 S 177 230 Gerhard Plumpe Epochen moderner Literatur Ein systemtheoretischer Entwurf Opladen 1995 S 232 Vgl http www sheffield ac uk german staff henkdeberg abgerufen am 3 Marz 2011 Henk de Berg Die Ereignishaftigkeit des Textes In Ders Matthias Prangel Hgg Kommunikation und Differenz Systemtheoretische Ansatze in der Literatur und Kunstwissenschaft Opladen 1993 S 35 Henk de Berg Die Ereignishaftigkeit des Textes In Ders Matthias Prangel Hgg Kommunikation und Differenz Systemtheoretische Ansatze in der Literatur und Kunstwissenschaft Opladen 1993 S 50 Henk de Berg Die Ereignishaftigkeit des Textes In Ders Matthias Prangel Hgg Kommunikation und Differenz Systemtheoretische Ansatze in der Literatur und Kunstwissenschaft Opladen 1993 S 42 Kunst und literatursoziologische Veroffentlichungen von Luhmann BearbeitenLuhmann Niklas Ist Kunst codierbar In Schmidt Siegfried J Hg Schon Zur Diskussion eines umstrittenen Begriffs Munchen 1976 S 60 95 Luhmann Niklas Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie In Gumbrecht Hans Ulrich Link Heer Ursula Hgg Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur und Sprachhistorie Frankfurt M 1985 S 11 33 Luhmann Niklas Das Medium der Kunst In DELFIN Heft VII 1986 S 6 15 Luhmann Niklas Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion von Kunst In Gumbrecht Hans Ulrich Pfeiffer Karl Ludwig Hgg Stil Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselementes Frankfurt M 1986 S 620 672 Luhmann Niklas Weltkunst In Ders Bunsen Frederick D Baecker Dirk Hgg Unbeobachtbare Welt Uber Kunst und Architektur Bielefeld 1990 S 7 45 Luhmann Niklas Die Evolution des Kunstsystems In Kunstforum 124 1993 S 221 228 Luhmann Niklas Die Kunst der Gesellschaft Frankfurt M 1995 Luhmann Niklas Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems In Calleen Justinus Maria Hg Was ist das Kunst Ein interdisziplinares Symposion Stuttgart 1998 S 111 156 Luhmann Niklas Aufsatze und Reden Stuttgart 2001 Luhmann Niklas Schriften zu Kunst und Literatur Frankfurt M 2008 Sekundarliteratur BearbeitenUberblicksdarstellungen Bearbeiten Binczek Natalie Systemtheorie In Schneider Jost Hg Lexikon Methodengeschichte der Germanistik Berlin New York 2009 S 701 720 Jahraus Oliver Schmidt Benjamin Marius Systemtheorie und Literatur Teil III Modelle Systemtheoretischer Literaturwissenschaft in den 1990ern In Internationales Archiv fur Sozialgeschichte der Literatur IASL Bd 23 Heft 1 Tubingen 1998 S 66 111 Jahraus Oliver Niklas Luhmann 1927 1998 In Martinez Matias Scheffel Michael Hgg Klassiker der modernen Literaturtheorie Munchen 2010 S 280 300 Koppe Tilmann Winko Simone Systemtheorie der Literatur In Dies Hgg Neuere Literaturtheorien Eine Einfuhrung Stuttgart 2008 S 175 188 Kretzschmar Dirk Niklas Luhmanns Systemtheorie und ihre literaturwissenschaftlichen Anwendungsfelder In Ders Hg Textbeschreibungen Systembeobachtungen Neue Studien zur russischen Literatur im 20 Jahrhundert Dortmund 1997 S 1 41 Muller Harro Hg Systemtheorie Literaturwissenschaft In Bogdal Klaus Michael Hg Neue Literaturtheorien Eine Einfuhrung Opladen 1997 S 208 224 Ort Claus Michael Systemtheorie In Burdorf Dieter Fasbender Christoph Moennighoff Burkhard Hgg Metzler Lexikon Literatur Begriffe und Definitionen Stuttgart Weimar 2007 S 748 749 Plumpe Gerhard Stockmann Ingo Systemtheorie In Muller Jan Dirk Hg Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft Berlin New York 2003 S 561 564 Reinfandt Christoph Systemtheorie In Nunning Ansgar Hg Metzler Lexikon Literatur und Kulturtheorie Stuttgart 1998 S 521 523 Bochumer Modell Bearbeiten Berlemann Dominic Wertvolle Werke Reputation im Literatursystem Bielefeld 2011 Plumpe Gerhard Asthetische Kommunikation der Moderne 2 Bde Opladen 1993 Plumpe Gerhard Werber Niels Literatur ist codierbar Aspekte einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft In Schmidt Siegfried J Literaturwissenschaft und Systemtheorie Positionen Perspektiven Kontroversen Opladen 1993 S 9 43 Plumpe Gerhard Epochen moderner Literatur Ein systemtheoretischer Entwurf Opladen 1995 Plumpe Gerhard Literatur als System In Fohrmann Jurgen Muller Harro Hgg Literaturwissenschaft Munchen 1995 S 103 116 Reinfandt Christoph Der Sinn der fiktionalen Wirklichkeiten Heidelberg 1997 Reinfandt Christoph Romantische Kommunikation Zur Kontinuitat der Romantik in der Kultur der Moderne Heidelberg 2003 Stockmann Ingo Vor 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und Kunstwissenschaft Opladen 1993 S 9 31 Prangel Matthias Kontexte aber welche Mit Blick auf einen systemtheoretischen Begriff objektiven Textverstehens In de Berg Henk Ders Hgg Differenzen Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus Tubingen 1995 S 153 170 Sammelbande Bearbeiten Bohm Elisabeth Gansel Christina Hgg Systemtheorie In Mitteilungen des Deutschen Germanistikverbandes 58 H 4 2011 de Berg Henk Prangel Matthias Hgg Kommunikation und Differenz Systemtheoretische Ansatze in der Literatur und Kunstwissenschaft Opladen 1993 de Berg Henk Prangel Matthias Hgg Differenzen Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus Tubingen 1995 de Berg Henk Prangel Matthias Hgg Systemtheorie und Hermeneutik Tubingen 1997 Fohrmann Jurgen Muller Harro Hgg Systemtheorie der Literatur Munchen 1996 Plumpe Gerhard Werber Niels Hgg Beobachtungen der Literatur Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft Opladen 1995 Schmidt Siegfried J Hg Literaturwissenschaft und Systemtheorie Positionen Kontroversen Perspektiven Opladen 1993 Werber Niels Hg Systemtheoretische Literaturwissenschaft Begriffe Methoden Anwendungen Berlin 2011 Sonstige Bearbeiten Jahraus Oliver Literatur als Medium Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewusstsein und Kommunikation Weilerswist 2003 Schreiber Dominik Literarische Kommunikation Zur rekursiven Operativitat des Literatursystems In Textpraxis Digitales Journal fur Philologie Nr 1 2010 Schwanitz Dietrich Systemtheorie und Literatur Ein neues Paradigma Opladen 1990 Sill Oliver Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft Systemtheoretische Perspektiven auf ein komplexes Phanomen Opladen 2001 Siehe auch BearbeitenLiteratursoziologie Kommunikation Systemtheorie System Literaturwissenschaft Literaturtheorie Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Systemtheoretische Literaturwissenschaft amp oldid 232186140