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Literarische Evolution ist ein Konzept zur Erklarung literaturgeschichtlicher Entwicklung das seinen Ursprung im Russischen Formalismus hat Es zeichnet sich dadurch aus keine ausseren Einflusse wie etwa politische psychologische oder soziologische in seine Erklarungsmuster einzubeziehen sondern die Entwicklung der Literatur nur aus innerer Notwendigkeit herzuleiten Wichtige Vertreter dieses Konzepts waren Juri Tynjanow und Wiktor Schklowski Inhaltsverzeichnis 1 Das Grundkonzept der literarischen Evolution 2 Entwicklung des Konzepts bei Tynjanow und Schklowski 3 Rezeption 4 Einzelnachweise 5 Literatur 5 1 Primartexte 5 2 SekundartexteDas Grundkonzept der literarischen Evolution BearbeitenInnerhalb der Geschichte durchlauft die Literatur eine Entwicklung wahrend derer sie sich permanent verandert Diese Veranderung ist notwendig weil asthetische Stilmittel mit der Zeit verblassen 1 das heisst ihre Neuheit und Originalitat einbussen und vom Leser dann aus Gewohnheit nicht mehr erkannt werden Sie verlieren dadurch ihre Funktionalitat Nur neuartige Stilmittel die von der herrschenden Norm abweichen sind in der Lage die Aufmerksamkeit des Lesers zu gewinnen eine Veranderung der Formen ist also notwendig um das Fortbestehen der Funktionen zu ermoglichen 2 Diese Veranderung der Formen wird von Schklowski mit dem russischen Begriff ostranenie bezeichnet und meist als Verfremdung ins Deutsche ubersetzt darf jedoch nicht mit der Verfremdung im Sinne Bertolt Brechts verwechselt werden da fur die russischen Formalisten ausschliesslich asthetische Aspekte von Interesse sind 3 Entwicklung des Konzepts bei Tynjanow und Schklowski BearbeitenJuri Tynjanow der als einer der ersten den Begriff der literarischen Evolution verwendete sah die Erforschung dieses Phanomens als einzigen Weg fur die Literaturwissenschaft ihrem eigenen wissenschaftlichen Anspruch gerecht zu werden 4 Ein Fehler der fruheren literaturwissenschaftlichen Forschung bestand seiner Ansicht nach darin dass sie sich zu sehr an der Form literarischer Kunstmittel russ priem orientierte und daraus literarische Traditionen ableitete die in der Weiterfuhrung dieser Formen bestanden Fur Tynjanow ist dieser Begriff der Tradition aber eine unzulassige Abstraktion In seinem Modell einer literarischen Evolution sind die Formen der Kunstmittel selbst nicht entscheidend sondern die Funktionen die sie in einem Werk haben 5 Literarische Kunstmittel lassen sich also nicht gesondert betrachten sondern nur in ihren Kontexten Dabei sind zwei verschiedene Kontexte entscheidend erstens erfullt jedes literarische Element eine Funktion innerhalb des Werks in dem es auftritt zweitens erfullt es eine Funktion innerhalb der Literaturgeschichte Jedes Kunstmittel muss deshalb im Hinblick auf seine Rolle innerhalb dieser beiden Systeme analysiert werden und kann niemals isoliert betrachtet werden 6 Aus dieser Sichtweise folgt fur Tynjanow dass aussere Einflusse die auf einen Autor einwirken keinen entscheidenden Einfluss haben die Elemente seines Werks ordnen sich mit einer gewissen Notwendigkeit an die an ihre Funktionen gebunden ist Aussere Einflusse konnen sich also nur auswirken wenn die Voraussetzungen dafur im Werk und innerhalb der Literaturgeschichte ohnehin gegeben sind Auch die Absicht die ein Autor verfolgt spielt keine Rolle da sie sich ebenfalls dieser Notwendigkeit unterordnen muss Dadurch wird der Begriff der schopferischen Freiheit fur Tynjanow unmoglich 7 Etwas weniger radikal argumentiert Wiktor Schklowski der sich nicht grundsatzlich gegen jede Bedeutung ideologischer Pragung seitens des Autors ausspricht sondern nur von einem Vorrang der Asthetik ausgeht Er betont dass jede eigene Idee eines Autors nutzlos ware wenn sie sich nicht den formellen Notwendigkeiten unterordnet 8 Als Beweis fur die relative Unabhangigkeit der Literatur von ausseren Einflussen fuhren sowohl Tynjanow als auch Wiktor Schklowski an dass viele Volker unabhangig voneinander ahnliche Mythen und Erzahlungen entwickelt haben Ein Literaturbegriff der in erster Linie von kulturellen und sozialen Pragungen ausgehe konne diesen Umstand nicht erklaren 9 Rezeption BearbeitenKritik am Begriff der literarischen Evolution kam zuerst aus dem Lager der marxistischen Literaturtheorie die der Ansicht heftig widersprach soziale Einflusse hatten keinen oder nur geringen Einfluss auf die Entwicklung der Literatur Leo Trotzki widmete in seinem Buch Literatur und Revolution der Kritik am Russischen Formalismus ein ganzes Kapitel in welchem dem Konzept der literarischen Evolution eine wichtige Rolle zukommt Trotzki erkennt das Konzept zwar als nutzliches Hilfsmittel fur die Analyse von Texten an spricht ihm aber den Stellenwert einer vollwertigen Theorie ab da es das Aufgabengebiet der Literaturwissenschaft auf statistische Auswertungen und beschreibende Analysen beschranke und die Entwicklung einer weiter reichenden Kunstphilosophie nicht ermogliche Er widersprach Tynjanow und Schklowski darin die Ahnlichkeit von Mythen und Erzahlungen verschiedener Volker sei ein Beweis fur deren Unabhangigkeit von sozialen Umstanden und fuhrte sie vielmehr auf kulturellen Austausch zuruck 10 Einzelnachweise Bearbeiten Tynjanov 1967 S 44 Erlich 1964 S 281 Metzler Lexikon Literatur und Kulturtheorie Hrsg Ansgar Nunning Metzler Stuttgart Weimar 1998 S 552 Tynjanov 1967 S 38 Tynjanov 1967 S 59 Tynjanov 1967 S 48 Tynjanov 1967 S 53 Striedter 1989 S 34 Erlich 1964 S 110 Erlich 1964 S 110ff Literatur BearbeitenPrimartexte Bearbeiten Jurij Tynjanov Die literarischen Kunstmittel und die Evolution in der Literatur Suhrkamp Frankfurt am Main 1967 Wiktor Schklowski Von der Ungleichheit des Ahnlichen in der Kunst Hanser Munchen 1972 Sekundartexte Bearbeiten Victor Erlich Russischer Formalismus Hanser Munchen 1964 Jurij Striedter Literary Structure Evolution and Value Harvard University Press Cambridge Massachusetts 1989 ISBN 0 674 53653 3 Tony Bennett Formalism and Marxism Methuen London 1979 ISBN 0 416 70870 6 Aleksander Flaker Hrsg Formalismus Strukturalismus und Geschichte Scriptor Kronberg 1974 ISBN 3 589 00059 7 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Literarische Evolution amp oldid 137465473