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Die Summierungsthese auch theorie ist eine politiktheoretische These die Aristoteles in seinem staatsphilosophischen Hauptwerk Politik aufstellt Ihr zufolge kann die Entscheidung einer grosseren Gruppe von Menschen besser sein als die weniger Einzelner oder Fachkundiger Die These ist bisweilen als ein aristotelisches Argument fur die demokratische Staatsform gewertet worden auch weil in ihr Tuchtigkeit arete durch blosse Zahl aufgewogen wird Die Summierungsthese kann als fruhe Formulierung des Grundgedankens der Kollektiven Intelligenz verstanden werden Inhaltsverzeichnis 1 Quellenstelle 2 Einordnung 3 Interpretation 3 1 Zum Inhalt 3 2 Kritik 3 3 Folgerung im Text 4 Siehe auch 5 Einzelnachweise 6 Literatur 6 1 Quelle 6 2 SekundarliteraturQuellenstelle Bearbeiten Dass aber die Entscheidung eher bei der Menge als bei der geringeren Zahl der Besten der aristoi zu liegen habe das scheint zu bestehen und sich verteidigen zu lassen ja vielleicht sogar wahr zu sein Denn die Menge von der der einzelne kein tuchtiger Mann ist scheint doch in ihrer Gesamtheit besser sein zu konnen als jene Besten nicht jeder Einzelne fur sich sondern die Gesamtheit so wie die Speisungen zu denen viele beigetragen haben besser sein konnen als jene die ein Einzelner veranstaltet Denn es sind viele und jeder hat einen Teil an Tugend und Einsicht Wie sie zusammenkommen so wird die Menge wie ein einziger Mensch der viele Fusse Hande und Wahrnehmungsorgane hat und ebenso was den Charakter und den Intellekt betrifft So beurteilt auch die Menge die Werke der Musik und der Dichter besser der eine beurteilt diese der andere jene Seite und so urteilen alle uber das Ganze Aristoteles Politik III 11 1281 a38 b9 1 Einordnung BearbeitenStaatsformen nach Aristoteles 2 Pol III 6 8 Zahl derHerrschenden Zum gemeinsamenNutzen Zum Eigennutz derHerrschendenEiner Monarchie TyrannisWenige Aristokratie OligarchieViele Politie DemokratieScheinbar entgegen dem allgemeinen Tenor des dritten Buches der Politik bringt das 11 Kapitel ein quantitatives Kriterium in die Diskussion der Frage ein was das Entscheidende im Staat sein soll die Menge die Reichen die Anstandigen der Eine der der beste von allen ware oder der Tyrann 3 Aus dem normativen Blickwinkel Aristoteles gilt in erster Linie dass nur ein hohes Mass individueller Tuchtigkeit griech arete Grund dafur sein kann dass jemandem in der staatlichen Gemeinschaft besondere Rechte zustehen womit er zugleich etwa Reichtum oder den blossen Burgerstatus als Begrundung fur politische Teilhabe ablehnt In diesem Sinne stellen fur ihn sowohl Oligarchie als Herrschaft der Reichen als auch Demokratie als Herrschaft der Vielen bzw freigeborenen Armen verfehlte Staatsformen dar auch weil diese nur auf das Wohl der jeweils Herrschenden achten Im Anschluss an die bekannte Staatsformentypologie Kap 6 8 und die Untersuchung des oligarchischen und des demokratischen Gerechtigkeitsbegriffs im Hinblick auf die Natur des Staates als Gemeinschaft zum Zwecke des vollkommenen Lebens Kap 9 enthalt das kurze Kapitel 10 verschiedene Problematisierungen der bisherigen Annahmen W enn die Armen zufolge ihrer Mehrzahl den Besitz der Reichen aufteilen ist dies nicht ungerecht Und doch schien es dem entscheidenden Teile in der Tat gerecht Sollen also die Minderzahl und die Reichen gerechterweise regieren Wenn jene dasselbe tun rauben und der Menge den Besitz wegnehmen ist das gerecht Dann ware es auch das erste 4 Vor diesem Hintergrund beginnt Aristoteles mit Kapitel 11 Uberlegungen uber die richtige Kompetenzverteilung unter den Teilen des Staates im Hinblick auf die gerechte Verfassung Interpretation BearbeitenZum Inhalt Bearbeiten Die Beteiligung der Menge der Freien oder des Demos an der Regierung des Staates findet in veranderter Form durchaus positive Einschatzung im Rahmen der aristotelischen Verfassungstypologie namlich in der guten Volksherrschaft der Politie in welcher Arme und Reiche die beiden wesentlichen Teile des Staates die offentlichen Angelegenheiten zum allgemeinen Wohl verwalten Dementsprechend konnen die Anspruche der Masse der Bevolkerung an der Verwaltung der Staatsgeschafte teil zu haben nicht ganzlich unberechtigt sein was Aristoteles in der Politik auch an verschiedenen wenn auch nicht zentralen Stellen durchaus einraumt So sollte das Urteil des Volkes beispielsweise berucksichtigt werden wo es die besseren etwa weniger parteilichen Ergebnisse hervorbringt oder um den Erhalt des Staates willen miteinbezogen werden muss Unter den Argumenten fur die Partizipation des einfachen Volkes an der Regierung sticht die einfache jedoch bis heute prominente Summierungsthese aus dem dritten Buch der Schrift besonders hervor Die Bezeichnung geht auf einen Aufsatz von Egon Braun aus dem Jahr 1959 zuruck 5 Die besondere Bedeutung der These dass die Masse der Menschen besser urteilen konne als ein Einziger oder Wenige muss vor dem Hintergrund der expertokratischen Haltung gesehen werden die man Platon und seinen Schulern zu denen Aristoteles zahlt nachsagt Als beispielhaft fur diese zieht man immer wieder den so genannten Philosophenkonigssatz in Platons Politeia heran Im Gegensatz zu diesem Denken attestiert die Summierungsthese auch dem Normalburger ausdrucklich eine gewisse politische Kompetenz Bei Henning Ottmann heisst es Das politische Urteil der Menge soll besser oder doch nicht schlechter als das der Experten sein Arist Pol III 11 1282 a17 Zwar sei der Einzelne dem Sachverstandigen unterlegen Aber wenn sich viele zusammenfanden dann entstunde eine Komposition oder Summierung von Tuchtigkeiten und Einsicht die der Tuchtigkeit und Einsicht eines Einzelnen uberlegen sei Die Anteile an Tuchtigkeit und Einsicht die jeder Einzelne besitzt wurden zu einem einzigen grossen Menschen mit vielen Fussen und Handen mit vielen Sinnen und Verstand zusammengefugt 6 Der Zusammenhang den Platon zwischen Politik und fachmannischer Kenntnis hergestellt hatte dass also auch politische Herrschaft vergleichbar der Kunst eines Arztes an eine hohere Qualifikation gebunden sein musse wird von Aristoteles Summierungsthese uberwunden wenngleich sicherlich auch Aristoteles Ausschlusskriterien fur die politische Teilhabe wie etwa einen Mangel an Tugend durchaus kennt Ottmann gibt hierzu ferner kritisch zu bedenken Die These steht und fallt allerdings mit der Annahme dass was addiert wird jeweils schon in sich als einzelne Meinung eine gewisse Richtigkeit beanspruchen kann Eine Menge falscher Meinungen liesse sich durch Addition nicht in eine richtige Gesamtmeinung verwandeln Nicht der Konsens als solcher sondern wohl eher der Prozess der Diskussion und Beratung der hinter der Summierungstheorie steht kann erklaren wie verschiedene Meinungen wenn man sie erortert und hin und herwendet sich verbessern und erganzen so dass am Ende der Deliberation ein besseres Urteil und eine bessere Entscheidung stehen 7 So besehen liesse sich die hier im Zentrum stehende Passage der Politik sogar als ein vereinzeltes Pladoyer fur die direkte beratschlagende Regierungsweise des in der Ekklesie der attischen Demokratie versammelten Volks interpretieren Olof Gigon beurteilt die Passage in seinen Anmerkungen zum III Buch der Politik wie folgt Aufs Ganze gesehen erweist sich die These des Aristoteles als der einigermassen halsbrecherische Versuch zwei Forderungen an den vollkommenen Staat zu vereinigen 1 Ziel des vollkommenen Staates muss die Verwirklichung der Tugend durch die Regierung der ethisch am hochsten Qualifizierten sein 2 Jeder Staat auch der vollkommene dauert nur wenn alle Burger an seinem Bestande interessiert sind das werden sie nur sein wenn sie alle an der Regierung teilhaben konnen Da fuhrt denn der einzige Weg uber die Annahme einer Kollektivvernunft und Kollektivtugend die der Vernunft und Tugend auch des vollkommensten Einzelnen noch uberlegen ist 8 Zu recht sieht Gigon Aristoteles in diesem Punkt im klaren Gegensatz zur sokratischen Tradition wie sie durch Xenophon und vor allem Platon etwa im Gorgias vertreten wird Kritik Bearbeiten Auf der einen Seite kann die Einschatzung der Menge des einfachen Volkes die Aristoteles im 11 Kapitel des III Buches der Politik zeigt mit Ottmann als seltsam optimistisch bezeichnet werden Die Erkenntnis ihrer Anfalligkeit fur Demagogie wie sie Thukydides und Platon thematisieren spiegelt die Passage nicht wider 9 Auch bleibt unklar weshalb nicht auch von einer Aufsummierung negativer Eigenschaften ausgegangen werden muss Dazu Ottmann In Massen verlieren die Einzelnen ihre Individualitat und ihr Verantwortungsgefuhl Sie werden emotionalisiert und zu Taten gedrangt zu denen sie sich als Einzelne nicht hinreissen lassen wurden Aristoteles hat allerdings weniger die Massen der modernen Massenpsychologie vor Augen als eine sich in Volks und Gerichtsversammlung geordnet und diszipliniert artikulierende Burgerschaft 10 Auf der anderen Seite scheint Aristoteles sein Urteil teilweise zu relativieren indem er im Text im auf die Passage der Summierungstheorie folgenden Abschnitt einraumt dass unklar sei ob nun bei jedem Volke und jeder Menge dieser Unterschied der Vielen gegenuber den wenigen Edlen besteht 11 Es stunde vielmehr fest dass die Aussage der Theorie bei vielen Volkern gerade nicht zutreffen konne Folgerung im Text Bearbeiten Vor dem Hintergrund der offenbar auch fur Aristoteles problematisch erscheinen Summierungsthese kommt er angesichts der nun als grundsatzlich berechtigt erkannten Anspruche der Menge auf politische Teilhabe zu folgendem Ergebnis Dass die vielen Freien im Staate die hochsten Amter das Archontat etwa bekleiden sollen sei gefahrlich denn wegen ihrer Ungerechtigkeit und Torheit werden sie hier Unrecht dort Fehler begehen 12 Sie aber von der Herrschaft ganzlich auszuschliessen sei noch gefahrlicher so Aristoteles Denn wenn die Zahl der Ehrlosen d h solcher ohne politische Teilhabe und der Armen sehr gross ist so wird dieser Staat zwangslaufig voll von Feinden sein Es bleibt also nur ubrig sie am Beraten und Entscheiden teilnehmen zu lassen 13 Spatestens an dieser Stelle wird klar dass die Summierungsthese auf eine Vorstellung kollektiver Vernunft abhebt die entstehe wenn Viele zusammen entscheiden jedoch ganzlich abwesend ist wenn Einzelne aus dem einfachen Volk mit Regierungsbefugnissen betraut werden Angesichts dessen erscheint es Aristoteles ratsam die Menge nur am politischen Beratungs und Entscheidungsprozess etwa in der Volksversammlung und der Wahl der Beamten teilhaben zu lassen wahrend man ihr das passive Wahlrecht vorenthalten musse da dem einzelnen Armen in der Regel die personliche Qualifikation zur Herrschaft abgehe Siehe auch BearbeitenDemokratietheorie Kollektive Intelligenz Zweite Staatsformenlehre fur Aristoteles Demokratietheorie im Besonderen Einzelnachweise Bearbeiten zitiert nach Ubersetzung Gigon siehe unten S 119 Hervorhebung nicht im Original Manfred G Schmidt Demokratietheorien 4 Auflage VS Wiesbaden 2008 ISBN 978 3 531 16054 2 1 2 Die vier Schichten der Staatsformenlehre des Aristoteles Tabelle 1 Die erste aristotelische Staatsformenlehre S 31 Arist Pol 1281 a11 ff Arist Pol 1281 a14 ff 1281 a23 ff Vgl Braun 1959 Ottmann 2001 S 194 Ottmann 2001 S 194f Gigon im Anmerkungsteil zu seiner Politik Ubersetzung siehe unten S 308f Vgl Ottmann 2001 S 194 Ottmann 2001 ebd Arist Pol 1281 b14 f Arist Pol 1281 b26 ff Arist Pol 1281 b29 ff Literatur BearbeitenQuelle Bearbeiten Aristoteles Politik Ubersetzt und herausgegeben von Olof Gigon 10 Auflage Munchen 2006 Sekundarliteratur Bearbeiten E Braun Die Summierungstheorie des Aristoteles in Jahreshefte des Osterreichischen Archaologischen Instituts in Wien 44 1959 S 157 184 Henning Ottmann Geschichte des politischen Denkens Die Griechen Von Platon bis zum Hellenismus Bd 1 2 Stuttgart Weimar 2001 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Summierungsthese amp oldid 222647795