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Die Biografieforschung ist in der Soziologie und Erziehungswissenschaft 1 ein Forschungsansatz der Qualitativen Sozialforschung Biografieforschung befasst sich mit der Rekonstruktion von Lebensverlaufen und Sinnkonstruktionen auf der Basis biografischer Erzahlungen oder personlicher Dokumente Das Textmaterial kann auch aus Interviewprotokollen in schriftlicher Form bestehen Diese Protokolle werden nach bestimmten Regeln ausgewertet und interpretiert Inhaltsverzeichnis 1 Geschichte der Biografieforschung 1 1 Einzelfallbezogene Biografieforschung 1 2 Biografieforschung zur Erschliessung grosserer Gruppierungen 1 3 Neuere Biografieforschung 2 Methoden und Probleme der Biografieforschung 2 1 Einzelfall Ansatz versus induktive Verallgemeinerung 2 2 Erlebte und erzahlte Lebensgeschichte 2 3 Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen 3 Siehe auch 4 Literatur 5 Weblinks 6 EinzelnachweiseGeschichte der Biografieforschung BearbeitenEinzelfallbezogene Biografieforschung Bearbeiten Biografien auch Autobiografien enthielten seit ihrem Aufkommen in der Antike bedeutend Plutarch immer schon soziologische Erorterungen Zumeist behandelten sie politisch kunstlerisch oder in anderen Lebensbereichen herausragende Einzelpersonlichkeiten doch gab es auch Ausnahmen wie Ulrich Brakers Lebensgeschichte und naturliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg Mit dem Aufkommen der Soziologie drangen deren Sichtweisen in das Blickfeld der Autoren ausgesprochene Sozio Biografien Einzelner blieben aber bis heute selten z B Alphons Silbermann uber Jacques Offenbach Bettina Clausen Lars Clausen uber Leopold Schefer Norbert Elias uber Wolfgang Amadeus Mozart Biografieforschung zur Erschliessung grosserer Gruppierungen Bearbeiten Die biografische Methode als Untersuchungsansatz fur grossere Gruppierungen wurde zuerst von Florian Znaniecki ab den 1920er Jahren in die polnische Soziologie eingefuhrt und dort uber Jahrzehnte hinweg als dominanter Forschungsansatz der empirischen Sozialforschung entwickelt und ausgebaut Der von Znaniecki und William I Thomas publizierten Untersuchung uber Bauern in Polen und als polnische Immigranten in den Vereinigten Staaten liegt eine umfangreiche Sammlung von Tagebuchern Briefen Memoiren Autobiografien und Verwaltungsdokumenten zugrunde die thematisch geordnet und interpretiert werden Die Rezeption dieser Arbeit verzogerte sich aufgrund der sprachlichen Hindernisse zunachst sie wurde dann aber im Social Science Research Council SSRC aufgenommen und verbreitet Der biografische Forschungsansatz bildete eine wichtige Grundlage fur die Entwicklung der Chicagoer Schule die spater den symbolischen Interaktionismus hervorbrachte Ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung der Biografieforschung waren die von Clifford R Shaw 1930 und 1931 verfassten Analysen von Lebenslaufen straffalliger Jugendlicher Nach 1945 sank angesichts des Erfolges quantitativer Methoden und strukturfunktionalistischer Theorien das Interesse an der Biografieforschung Lediglich in der Devianzforschung ging der biografische Ansatz nie ganz verloren 1978 publizierte Aaron Victor Cicourel eine Fallstudie zur Lebensgeschichte eines Jungen namens Mark die in der Sozialarbeit breite Aufmerksamkeit fand Cicourel weist in seiner Untersuchung detailliert nach wie durch polizeiliche Vernehmungen einseitige und verfalschte Interpretationen sowie durch Akteneintragungen eine kriminelle Karriere konstruiert wurde Neuere Biografieforschung Bearbeiten Seit den 1980er Jahren erlebt die Biografieforschung im Zuge einer erstarkenden qualitativen Sozialforschung einen neuen Aufschwung und entwickelt sich zu einem anerkannten Forschungsansatz in der Soziologie siehe Martin Kohli Werner Fuchs Heinritz und andere Unterstutzt wurde diese Entwicklung von einer tendenziellen Abkehr des soziologischen Fokus von System und Struktur hin zu Lebenswelt Alltag und Akteur und das Wiederaufleben phanomenologischer Theorieansatze Die Soziologie wandte sich auch wieder einzelnen sonst unauffalligen aber als exemplarisch wertvoll erachteten Fallstudien von Lebenslaufen zu Mit der zunehmenden Pluralisierung der Lebenswelten der Modernisierung und Differenzierung der postmodernen Gesellschaften der Auflosung traditioneller Werte und Sinngebung stellte sich gegen die Jahrtausendwende die Sinnhaftigkeit biografische Analyse in einer neuen Dringlichkeit dar Der Akteur wurde zu einem Schnittpunkt unterschiedlicher und teilweise divergierender Anforderungen Teilsystemlogiken Erwartungshaltungen normativer Leitbilder und institutionalisierten Regulierungsmechanismen vgl Georg Simmels Schnittpunkt sozialer Kreise Die Normalbiografie loste sich auf und entliess den Einzelnen in die Notwendigkeit seinen Lebenslauf in eigener Regie zu managen und Losungen fur die unterschiedlichen und sich widersprechenden Einflussfaktoren und Figurationen zu finden In dieser Situation wird die selbsterfundene biografische Identitat mit ihren gefahrdeten Ubergangen Bruchen und Statuswechseln zu einem Konfliktfeld zwischen institutioneller Steuerung und individueller Handlungsstrategie In einem DFG Sonderforschungsbereich Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf an der Universitat Bremen wurde in den Jahren 1989 bis 2001 die Dynamik des modernen Lebenslaufregimes empirisch erforscht Der rekonstruktive Ansatz in der Biografieforschung der phanomenologischen und gestalttheoretischen Theorieansatzen nahesteht wurde unter anderem von Gabriele Rosenthal methodologisch weiterentwickelt Methoden und Probleme der Biografieforschung BearbeitenEinzelfall Ansatz versus induktive Verallgemeinerung Bearbeiten Die Biografieforschung ist im Rahmen der qualitativen Forschungsansatze als Einzelfallansatz zu bewerten Mit der Entscheidung Einzelfallstudien durchzufuhren ist eine Herangehensweise an das Forschungsfeld bezeichnet nicht eine spezifische Methode Die Biografieforschung bedient sich bei der Datenauswertung nicht einer einzelnen sondern verschiedener Methoden Dabei sind die am haufigsten verwendeten Methoden der Datenerhebung bei Lebenden das narrative Interview und oder das offene Leitfadeninterview sonst uberwiegt die klassische sozio historische Quellenerschliessung bis hin zur modernen Inhaltsanalyse Die Vielfalt und Vielgestalt biografischer Quellen lassen den aus der quantitativen Sozialforschung und Demoskopie bekannten Versuch induktiv vorzugehen hoffnungslos erscheinen An ihre Stelle tritt oft ein umgangssprachlich gefasst detektivisches Vorgehen Grundsatzlich entsteht also aus der Ausrichtung auf Einzelfalle die Frage nach den Moglichkeiten uberhaupt wissenschaftlich gultig disparate Einzelaussagen zu verallgemeinern Dies ist die Frage nach der Tragfahigkeit abduktiver Schlussfolgerungen Die abduktive Vorgehensweise von einem oder mehreren Fallen auf gesellschaftliche relevante allgemeine Verhaltens Handlungs und Deutungsmuster zu schliessen ist in der soziologischen Praxis sehr verbreitet theoretisch aber bisher nicht vollkommen ausgearbeitet Robert K Merton hat hier von der Serendipity gesprochen Ansatze gibt es zur methodischen Entwicklung von Typen und vergleichenden Typisierungen des Datenmaterials vgl zum Beispiel Uta Gerhardt 1984 Erlebte und erzahlte Lebensgeschichte Bearbeiten Ein grundsatzliches Problem besteht auch in der Differenz zwischen der tatsachlichen der erlebten und der erzahlten Lebensgeschichte In den fruhen Studien der Biografieforschung wurde grosser Wert darauf gelegt aus zusatzlichen Quellen Verwaltungsakten Chroniken Darstellungen Dritter usw den tatsachlichen Verlauf der Biografie zu rekonstruieren und somit Fehlerquellen in der Erinnerung und Darstellung durch den Befragten auszuschalten Heute geht man entsprechend der phanomenologischen Einklammerung des Seins der Objekte zunehmend davon aus dass der tatsachliche Lebenslauf nicht rekonstruiert werden kann dass die Erlebnisse immer schon in der Wahrnehmung interpretiert werden und in der Erinnerung im Rahmen der Gesamtbiografie eingeordnet werden Gegenstand der biografischen Forschung kann und soll daher die wahrgenommene und erinnerte Biografie im Unterschied zum Lebenslauf sein Von Interesse sind gerade die Deutungen und Sinnkonstruktionen die als Leistung des Individuums die eigene Biografie zu einem koharenten Zusammenhang konstituieren und konstruieren Aus den Erfahrungen mit dem lebensgeschichtlichen Erzahlen und der Forschungsmethode des narrativen Interviews hat sich die Methode der biografisch narrativen Gesprachsfuhrung entwickelt die die Forschungsprinzipien auf professionelles padagogisches beratendes und soziales Handeln ubertragt Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen Bearbeiten Die Frage nach den Sinnkonstruktionen fuhrt weiter zur Frage nach dem subjektiv gemeinten und objektiv statthabenden Sinn Ein Handelnder produziert nach Ulrich Oevermann in einer Situation immer mehr und anderen Sinn als er wahrnimmt Als Aufgabe der Biografieforschung wird daher von einigen Biografieforschern die Rekonstruktion beider Arten von Sinngebungen betrachtet Hinter und unter dem von den Befragten geausserten Interpretationen liegen die latenten Sinnstrukturen die den Lebenssinn konstituieren und sich in den einzelnen Lebenssituationen ausbuchstabieren In diesen latenten verborgenen Sinnmustern vermitteln und verflechten sich individuelle Erfahrung und gesellschaftliche Bedingtheit Diese geben dem Leben hinter dem Rucken der Akteure eine Richtung und einen Handlungsrahmen vor Als methodisches Verfahren zur Rekonstruktion der latenten Sinnstrukturen kommen in der Biografieforschung die Objektive Hermeneutik und die Strukturale Rekonstruktion nach Heinz Bude zur Anwendung Siehe auch BearbeitenListe der Biografien BiografiearbeitLiteratur BearbeitenHeinz Bude Rekonstruktion von Lebenskonstruktionen Eine Antwort auf die Frage was die Biographieforschung bringt In Martin Kohli Gunther Robert Hrsg Biographie und soziale Wirklichkeit Neue Beitrage und Forschungsperspektiven Metzler Stuttgart 1984 ISBN 3 476 00548 8 S 7 28 Werner Fuchs Heinritz Biographische Forschung Eine Einfuhrung in Praxis und Methoden 4 Aufl VS Verlag Wiesbaden 2009 ISBN 978 3 531 16702 2 Uta Gerhardt Typenkonstruktion bei Patientenkarrieren In Martin Kohli Gunther Robert Hrsg Biographie und soziale Wirklichkeit Neue Beitrage und Forschungsperspektiven Metzler Stuttgart 1984 ISBN 3 476 00548 8 S 53 77 Martin Kohli Soziologie des Lebenslaufs Soziologische Texte NF Bd 109 Luchterhand Darmstadt 1978 ISBN 3 472 75109 6 Siegfried Lamnek Qualitative Sozialforschung Bd 2 Methoden und Techniken 3 Aufl Beltz Weinheim 1995 ISBN 3 621 27177 5 Helma Lutz Bettina Dausien Bettina Volter Biographieforschung im Diskurs VS Verlag Wiesbaden 2005 u 2009 ISBN 3 53116177 6 Gabriele Rosenthal Erlebte und erzahlte Lebensgeschichte Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibung Campus Verlag Frankfurt M 1995 ISBN 3 593 35291 5 zugl Habilitationsschrift GHS Kassel 1993 Theodor Schulze Allgemeine Erziehungswissenschaft und erziehungswissenschaftliche Biographieforschung in Lothar Wigger Hrsg Forschungsfelder der Allgemeinen Erziehungswissenschaft Leske und Budrich Opladen 2002 S 129 146 Zeitschrift fur Erziehungswissenschaft Beiheft 1 PDF 1 6 MB Clifford R Shaw The Jack Roller A Delinquent Boy s Own Story Routledge London 2006 ISBN 0 415 70093 0 Nachdr d Ausg Chicago 1930 Clifford R Shaw The Natural History of a Delinquent Career Greenwood Press New York 1968 Nachdr d Ausg Philadelphia 1931 William I Thomas Florian Znaniecki The Polish Peasant in Europe and America Organization and disorganization in America Kessinger Publ Whitefish Mon 2010 ISBN 978 0 548 23963 6 5 Teile Nachdr d Ausg Boston Mass 1918 20 Weblinks BearbeitenDFG Sonderforschungsbereich 186 Sektion Biographieforschung der DGS BIOS Zeitschrift fur Biographieforschung Levke Harders Historische Biografieforschung Version 1 0 in Docupedia Zeitgeschichte 31 Oktober 2020Einzelnachweise Bearbeiten Kruger Heinz Hermann Marotzki Winfried Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung Hrsg siehe Autoren 1 Auflage Band 6 Leske und Budrich Opladen 1999 ISBN 3 8100 1281 5 weil es sich bei beiden um nachweisliche Erziehungswissenschaftler handelt ware es straflich diese als Soziologen zu bezeichnen Uberdies ist der Begriff Lebenslauf forschung eher fur Soziologie als fur die Erziehungswissenschaft besetzt Normdaten Sachbegriff GND 4132300 2 lobid OGND AKS Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Biografieforschung amp oldid 228411719