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Der Memminger Prozess fand von September 1988 bis Mai 1989 vor dem Landgericht Memmingen gegen den Arzt Horst Theissen 1938 2020 wegen des Verdachtes des illegalen Schwangerschaftsabbruches in mehreren Fallen statt Das Verfahren fiel in die Zeit einer aufgeheizten politischen und gesellschaftlichen Debatte um die Rechtmassigkeit von Schwangerschaftsabbruchen Daruber hinaus wurden wegen der Art der Verfahrensfuhrung und der Zeugenvernehmung vielfach Zweifel an der Neutralitat der Strafkammer geaussert So wurde der Prozess auch als Moderner Hexenprozess bezeichnet Theissen wurde am 5 Mai 1989 wegen Schwangerschaftsabbruch und Steuerhinterziehung erstinstanzlich zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt zudem wurde ein dreijahriges Berufsverbot verhangt Nach erfolgreicher Revision wurde der Arzt in der Hauptverhandlung zu einer zur Bewahrung ausgesetzten Freiheitsstrafe von eineinhalb Jahren verurteilt ein Berufsverbot wurde diesmal nicht ausgesprochen Inhaltsverzeichnis 1 Das politische Umfeld 2 Die Vorgeschichte 3 Das Verfahren 3 1 Der Verfahrensbeginn 3 2 Die Zeugenvernehmung 3 3 Austausch eines Richters 3 4 Pladoyer der Staatsanwaltschaft 3 5 Pladoyer der Verteidigung 3 6 Das Urteil 4 Nach dem ersten Urteil 5 Quellen und Literatur 5 1 Weblinks 6 EinzelnachweiseDas politische Umfeld BearbeitenNach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Bundesrepublik Deutschland zunachst das Verbot von Schwangerschaftsabbruchen beibehalten Wahrend in der DDR ab 1950 basierend auf dem Gesetz uber den Mutter und Kinderschutz und die Rechte der Frau zunachst eine indikationsbasierte Rechtslage und ab 1972 mit der Verabschiedung des Gesetzes uber die Unterbrechung der Schwangerschaft eine Fristenregelung galt war ein Schwangerschaftsabbruch in Westdeutschland weiterhin strafbar wenn keine medizinische Indikation vorlag Im Zuge der Frauenbewegung setzte sich dann eine liberalere Sichtweise durch die 1974 auch in der Bundesrepublik zum Beschluss einer Fristenregelung fuhrte Hiernach sollte ein Abbruch in den ersten zwolf Wochen der Schwangerschaft prinzipiell straffrei sein Gegen dieses Gesetz stellten CDU und CSU einen Normenkontrollantrag beim Bundesverfassungsgericht welches das Gesetz fur nichtig und die Regelung in seinem Urteil fur mit dem Grundgesetz unvereinbar erklarte Als Alternative wurde eine Indikationslosung angeregt so dass der Bundestag 1976 eine Neufassung der 218 und 219 StGB verabschiedete Danach war ein Schwangerschaftsabbruch nur beim Vorliegen einer medizinischen kriminologischen eugenischen oder einer Notlageindikation straffrei Das neue Bundesgesetz liess den einzelnen Landern relativ breiten Spielraum wie die Beratung zur Indikationsfeststellung und der Schwangerschaftsabbruch selbst durchzufuhren waren um straffrei zu bleiben Dies fuhrte beispielsweise dazu dass in Bayern und Baden Wurttemberg Abbruche seit 1980 nur noch stationar mit einem mehrtagigen Krankenhausaufenthalt durchgefuhrt werden durften zudem waren nur wenige Krankenhauser bereit Abbruche uberhaupt vorzunehmen Die Gerichte in den einzelnen Bundeslandern legten bei der Beurteilung der Rechtmassigkeit einer Indikation sehr unterschiedliche Massstabe an Insbesondere bayerische Gerichte urteilten relativ streng was Zumutbarkeiten bei einer Notlageindikation anging durch die damals etwa 80 der Schwangerschaftsabbruche begrundet wurden Dies hatte zur Folge dass die meisten Frauen aus Bayern und Baden Wurttemberg Schwangerschaftsabbruche ambulant in Hessen vornehmen liessen oder gleich in die Niederlande fuhren Die Vorgeschichte Bearbeiten nbsp Amtsgericht Augsburg Justizpalast Horst Theissen eroffnete 1974 seine Praxis als niedergelassener Frauenarzt in Memmingen Nach jahrelanger Tatigkeit wurde er im Jahr 1986 wegen Steuerhinterziehung anonym angezeigt Wie sich spater herausstellte stammte diese Anzeige von einer ehemaligen Arzthelferin mit der es Differenzen gegeben hatte Im Zuge der Ermittlungen wurden die Geschaftsunterlagen der Arztpraxis beschlagnahmt darunter auch die Patientenkartei Die Steuerfahndung reichte diese Kartei unaufgefordert an die Memminger Staatsanwaltschaft weiter die wiederum vor Gericht die Beschlagnahmung beantragte nun aber in einer Strafsache wegen illegalen Schwangerschaftsabbruchs Wahrend die Steuerstrafsache durch die Kooperation von Theissen relativ schnell beendet werden konnte im Februar 1987 wurde er vom Amtsgericht Augsburg zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten die zur Bewahrung ausgesetzt wurde verurteilt gewann das Strafverfahren wegen Schwangerschaftsabbruch eine eigene Dynamik Alle Patientinnen bei denen nach 1980 ein Abbruch vorgenommen wurde wurden befragt Gegen 279 Frauen und 78 Manner wurden Ermittlungsverfahren wegen illegalen Schwangerschaftsabbruchs oder Beihilfe dazu eingeleitet Die meisten davon endeten mit einem Strafbefehl Nur wenige der Verurteilten legten Einspruch ein und riskierten ein offentliches Gerichtsverfahren Das Verfahren BearbeitenDer Verfahrensbeginn Bearbeiten nbsp Das Landgericht in Memmingen am HallhofDie Hauptverhandlung gegen Theissen wurde am 8 September 1988 vor der 1 Strafkammer des Memminger Landgerichts eroffnet Die Kammer bestand aus dem vorsitzenden Richter Albert Barner den weiteren Berufsrichtern Axel Heinrich und Detlef Ott sowie zwei Schoffen Die Staatsanwaltschaft wurde durch die Staatsanwalte Herbert Krause und Johann Kreuzpointner vertreten Theissen wurde von den drei Rechtsanwalten Wolfgang Kreuzer Sebastian Cobler und Jurgen Fischer verteidigt Gleich zu Beginn der Verhandlung beantragte die Verteidigung die Einstellung des Verfahrens weil die Beschlagnahmung der Patientenkartei als zentrales Beweismittel rechts und verfassungswidrig gewesen sei Begrundet wurde dies damit dass bei der Beschlagnahmung durch die Staatsanwaltschaft kein Anfangsverdacht bestanden habe das Beweismittel somit juristisch verdorben sei und die enthaltenen Daten auch gemass fruheren Urteilen des Bundesverfassungsgerichts einen besonderen Vertrauensschutz besassen Der Antrag wurde vom Gericht abgelehnt In der Folgezeit stellten die Verteidiger mehrere Befangenheitsantrage weil sich Mitglieder der Strafkammer innerhalb und ausserhalb des Verfahrens in einer Weise geaussert hatten die als Voreingenommenheit verstanden werden konnten Auch diese Antrage wurden abgelehnt Interessant hieran war dass die insgesamt sieben Richter der beiden Strafkammern des Gerichts sich dabei gegenseitig Unbefangenheit bescheinigten bis schliesslich das Oberlandesgericht Munchen in Ermangelung entscheidungsbefugter Richter vor Ort einschreiten musste Dieses Vorgehen der Memminger Richter stellte bereits vor Prozessende einen Revisionsgrund dar und ging als Befangenheitskarussell in die Berichterstattung ein Die Zeugenvernehmung Bearbeiten Vor Beginn des Verfahrens verschickte das Gericht einen mit der Staatsanwaltschaft ausgearbeiteten Fragebogen an alle Zeuginnen die von Theissen einen Schwangerschaftsabbruch hatten vornehmen lassen Hierin wurde nicht nur nach der arztlichen Betreuung und Beratung vor und nach dem Eingriff gefragt sondern auch nach personlichen familiaren und finanziellen Verhaltnissen Den Zeuginnen wurde in Aussicht gestellt bei vollstandiger und wahrheitsgemasser Beantwortung nicht personlich vor Gericht erscheinen zu mussen 156 Frauen wurden als Zeuginnen vorgeladen ihre Namen wurden im Prozess verlesen 79 von ihnen wurden vor Gericht vernommen und teilweise offentlich zu intimsten Details befragt den ubrigen 77 blieb schliesslich der Auftritt vor Gericht erspart Die Art des Umgangs mit den Zeuginnen seitens der Richter und der Staatsanwalte fuhrte zu starken Reaktionen in Presse und Offentlichkeit und machte den Prozess bundesweit bekannt Die angespannte Atmosphare wurde auch dadurch deutlich dass die Staatsanwaltschaft einzelne Zeuginnen im Laufe des Prozesses versehentlich mit Angeklagte anredete Der den Zeuginnen zugesandte Fragebogen schlug so hohe Wellen dass er in einer Aktuellen Stunde des Bundestages zur Abtreibungsthematik zitiert wurde Die geladenen Sachverstandigen machten deutlich dass die Entscheidung ob eine Notlage fur die Patientin vorliege in jedem Fall eine Gratwanderung fur den Arzt sei und immer im Kontext des Einzelfalls betrachtet werden musse Demgegenuber vertraten Gericht und Staatsanwaltschaft die Auffassung dass die Grunde fur einen Abbruch auch spater gerichtlich nachvollziehbar sein mussen Die Ansicht dass die Gultigkeit der arztlichen Erkenntnis allein Grundlage des Handelns sein konne schaffe hier rechtsfreie Raume Austausch eines Richters Bearbeiten Am 13 Marz 1989 berichtete das Nachrichtenmagazin Der Spiegel dass der beisitzende Richter Detlef Ott im Sommer 1980 an einem Schwangerschaftsabbruch seiner damaligen Freundin mitgewirkt habe Das Paar sei zu diesem Zweck nach Hessen gefahren weil die einzige Moglichkeit vor Ort die Praxis des spateren Angeklagten Theissen war Der betreffende Richter habe also genau das getan was mehreren anderen Mannern Anzeigen wegen Beihilfe zum Schwangerschaftsabbruch eingetragen habe Gerade Ott der selbst in soliden finanziellen Verhaltnissen lebte hatte besonders nachdrucklich Fragen zu den finanziellen Verhaltnissen der Zeuginnen gestellt Dem darauf gestutzten Ablehnungsgesuch der Verteidigung gegen Ott gab das Gericht schliesslich statt Sein Platz wurde von der jungen Erganzungsrichterin Brigitta Grenzstein eingenommen Der weitere Antrag auf Einstellung des Verfahrens weil das Verhalten des befangenen Richters das Verfahren in einem solchen Ausmass beschadigt habe dass eine objektive Struktur des Prozesses nicht mehr gewahrleistet sei lehnte das Gericht nach zweitagiger Beratung ab Pladoyer der Staatsanwaltschaft Bearbeiten Die Staatsanwaltschaft vertrat in ihrem Pladoyer den Standpunkt dass ein Schwangerschaftsabbruch mit einem Totungsdelikt gleichzusetzen sei und daher bei der Bewertung der in 218 StGB genannten Ausnahmen strengste Massstabe angelegt werden mussten Unter dem Hinweis der Moglichkeit finanzieller Beihilfen staatlicher Betreuungseinrichtungen und der Moglichkeit ein Kind zur Adoption freizugeben sah die Staatsanwaltschaft in keinem einzigen Fall eine Notlageindikation Auch der drohende Verlust des Arbeitsplatzes oder die Abhangigkeit von Sozialhilfe waren aus ihrer Sicht keine ausreichenden Rechtfertigungsgrunde In einem uber achtstundigen Pladoyer handelten die beiden Staatsanwalte abwechselnd jeden der insgesamt 156 Falle einzeln ab Die Beschreibungen der Begleitumstande liessen Schlusse auch auf die Identitat der 79 Frauen zu die vorher noch zu ihrem Schutz in nichtoffentlichen Sitzungen aussagen durften Die Staatsanwaltschaft forderte eine Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren die also nicht mehr zur Bewahrung ausgesetzt werden kann und ein mehrjahriges Berufsverbot Pladoyer der Verteidigung Bearbeiten Das Pladoyer der Verteidigung bestand aus drei Teilen Zunachst analysierte Fischer die Urteile und Gesetzesauslegungen seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch von 1972 Im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft ging er davon aus dass die richterliche Erkenntnis die arztliche nicht ersetzen kann und auch nicht darf Kreuzer knupfte hieran an nahm exemplarisch die Falle einiger Frauen und zeigte Widerspruche bei der Bewertung der Notlagesituationen durch die Staatsanwaltschaft auf Cobler kritisierte schliesslich dass der Begriff Notlage im Prozess oft nur als finanzielle Notlage interpretiert wurde die buchhalterisch erfassbar sein musse Das Pladoyer der Staatsanwaltschaft kommentierte er mit den Worten Wenn es nach der Staatsanwaltschaft ginge dann gabe es hier nicht eine einzige Notlage die von Belang ware ausser vielleicht der des trefflichen Richters Ott Die Verteidigung sah in den Fallen in denen Theissen gegen die Vorschrift der Indikationsfeststellung durch einen zweiten Arzt verstossen hatte eine Verwarnung mit Strafvorbehalt als ausreichend an Im zentralen Anklagevorwurf Verstoss gegen 218 StGB forderte sie Freispruch Das Urteil Bearbeiten nbsp Dr Horst Theissen 1990Theissen wurde wegen mehrfachen Schwangerschaftsabbruchs unter Einbeziehung der bereits rechtskraftigen Verurteilung wegen Steuerhinterziehung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt zudem wurde ein dreijahriges Berufsverbot verhangt In der mundlichen Urteilsbegrundung schloss sich Richter Barner inhaltlich zu grossen Teilen der Argumentation der Staatsanwaltschaft an Die arztliche Erkenntnis durfe sich der gerichtlichen Uberprufung nicht entziehen die Schwierigkeiten der Lebenswirklichkeit seien nicht automatisch eine Notlage Aufgrund der Anzahl der Gesetzesverstosse komme eine Bewahrungsstrafe nicht mehr in Frage Nach dem ersten Urteil BearbeitenNach dem Urteil legte Theissen Revision beim Bundesgerichtshof ein Dieser hob das Urteil im Strafausspruch auf und verwies das Verfahren zur erneuten Hauptverhandlung an das Landgericht Augsburg zuruck weil aufgrund der vergifteten Atmosphare in Memmingen ein objektives Urteil nicht mehr gewahrleistet scheint In der erneuten Hauptverhandlung wurde der Arzt schliesslich zu einer zur Bewahrung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von eineinhalb Jahren verurteilt ein Berufsverbot wurde nicht verhangt Theissen erhob wegen der Verwertung der Patientenkartei im Prozess Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht die im Mai 2000 nicht zur Entscheidung angenommen wurde Er arbeitete zu diesem Zeitpunkt als Arzt in einer Praxis fur Naturheilkunde und Homoopathie in Hessen Spater lebte er in Hildesheim Dort starb er am 25 Juni 2020 1 Von den ursprunglich 156 Fallen in der Anklageschrift des Memminger Prozesses wurden 77 im Laufe des Verfahrens eingestellt Von den ubrigen 79 Fallen wurde im erstinstanzlichen Urteil 36 Mal auf illegalen Schwangerschaftsabbruch nach 218 StGB und vier Mal auf Versuch hierzu erkannt Bei den anderen 39 Fallen wurde zwar keine Indikationsfeststellung durch einen zweiten Arzt vorgenommen Verstoss gegen 219 StGB das Vorliegen einer Notlage aber implizit durch das Gericht anerkannt Im Nachhinein betrachtet hatten die meisten der 259 Frauen die im Vorfeld des Prozesses Strafbefehle vom Memminger Amtsgericht erhalten und sich nicht gerichtlich dagegen gewehrt hatten diese unnotigerweise bezahlt Quellen und Literatur BearbeitenGisela Friedrichsen Abtreibung Der Kreuzzug von Memmingen Fischer Taschenbuch Verlag GmbH Frankfurt am Main 1991 ISBN 3 596 10625 7 Elke Kugler Memmingen Abtreibung vor Gericht Eine Dokumentation und Einschatzung zum Prozess Herausgegeben von Pro Familia Deutsche Gesellschaft fur Sexualberatung und Familienplanung Holtzmeyer Braunschweig 1989 ISBN 3 923722 36 2 Abgetrieben ZDF Film 1992 90 Minuten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22 Mai 2000Weblinks Bearbeiten Eine Stunde History Abtreibung Der Prozess von Memmingen Deutschlandfunk Nova gesendet am 31 Mai 2019Einzelnachweise Bearbeiten https trauer hildesheimer allgemeine de traueranzeige horst theissenBitte den Hinweis zu Rechtsthemen beachten Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Memminger Prozess amp oldid 222236452