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Als archaologische Kultur wird in erster Linie ein raumlich und zeitlich begrenzter Ausschnitt der materiellen Kultur bezeichnet Sie bezeichnet also keineswegs kulturelle oder soziopolitische Entitaten auch wenn die kartografische Verarbeitung dies suggeriert Die Abgrenzung erfolgt in den meisten Fallen willkurlich und wird wenn sie sich in der Forschung durchsetzt als Konvention benutzt Inhaltsverzeichnis 1 Abgrenzungen 2 Kulturwechsel 3 Versuch einer kommentierten Definition 4 Nomenklatur 5 Verwendung des Begriffs 6 Siehe auch 7 Literatur 8 EinzelnachweiseAbgrenzungen BearbeitenTechnokomplex Die fruher gerne als Kultur bezeichneten Grosskomplexe der ur und fruhgeschichtlichen Archaologie werden heute gewohnlich als Technokomplex bezeichnet Allenfalls im Neolithikum oder spater verwendet man noch den Kultur Begriff Assemblage Inventar Assemblage nannte man fruher oft bei Grabungen eine Ansammlung bestimmter Fundobjekte z B Keramikformen und Gerate die in festen Komplexen auftreten Sie wird heute gewohnlich als Inventar bezeichnet mitunter auch bei grossraumigerer Ausdehnung als Industrie Industrie Als Industrie ist in der modernen Urgeschichts Archaologie die Ansammlung eines engeren Komplexes von ubereinstimmenden Assemblagen von z B in bestimmter Technik bearbeiteten Feuersteingeraten definiert Faustkeilindustrie Gruppe Technokomplex In der Ur und Fruhgeschichtsarchaologie nennt man manchmal so eine nur durch eine Reliktgruppe wie Keramik bestimmbare Fundsituation die noch nicht die Grenze zu einer ubergeordneten Systematik uberschreitet die im Neolithikum mitunter auch als Kultur bezeichnet wird Diese Grenze ist allerdings fliessend La Hoguette Gruppe und wird von den einzelnen Forschern unterschiedlich gezogen Meist wird hier aber modern der Begriff Industrie verwendet Als Klassifikationseinheit war die archaologische Kultur fruher ein unentbehrliches Hilfsmittel fur die Arbeit des Archaologen Der Begriff wird heute allerdings nur noch zur vorlaufigen Einordnung als Arbeitshypothese verwendet und ist inzwischen vor allem in der Ur und fruhgeschichtlichen Terminologie und Systematik und hier insbesondere fur das Palaolithikum durch den neutralen kulturgeschichtlich unbelasteten Begriff Technokomplex ersetzt worden 1 2 Kulturwechsel BearbeitenUm eine Einwanderung archaologisch feststellen zu konnen mussen innerhalb eines Kulturgebietes fundamentale Veranderungen Keramik Hausbau in der Sachkultur und Okonomie wahrzunehmen sein vorzugsweise verbunden mit Hinweisen auf das Herkunftsgebiet der Migranten 3 Nach E Drenth und Eric Lohof ist jedoch generell von kultureller Kontinuitat sowie von Immobilitat auszugehen Mit der Verfeinerung der Chronologie des Neolithikums und der Bronzezeit wahrend der letzten Jahrzehnte ist das Bewusstsein gewachsen dass eine archaologische Kultur nach der bekannten von Vere Gordon Childe aufgestellten These einen inharent dynamischen Charakter hat so dass kulturelle Anderungen in der Regel nicht als Folge von Migration erklart werden konnen Versuch einer kommentierten Definition BearbeitenUnter materieller Kultur werden alle beobachtbaren Ergebnisse menschlichen Handelns verstanden wobei die Archaologie besonderes Augenmerk auf Bodenfunde legt Zur materiellen Kultur gehoren z B Topfe und Gewandnadeln aber auch Verzierungsmuster Hausgrundrisse oder die Art und Weise wie Graber angelegt oder Tote gebettet sind Diese Merkmale sind einer zeitlichen Entwicklung unterworfen und treten in geographisch begrenzten Gebieten unterscheidbar auf Ausserdem lassen sich Korrelationen zwischen bestimmten Merkmalen beobachten auch wenn diese Merkmale einander technisch nicht bedingen So konnen z B zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Gebiet Keramikstil X mit Hausform Y zusammen vorkommen Solche Korrelationen mehrerer Merkmale bilden die Grundlage fur die Beschreibung archaologischer Kulturen Konventionen uber eine evtl Mindestzahl derart korrelierter Merkmale bestehen nicht Die zeitliche Entwicklung der Merkmale hat zur Folge dass sich archaologische Kulturen chronologisch untergliedern lassen oft geschieht dies durch Beschreibung einer Anfangs einer Ubergangs und einer Endphase Andererseits wird bei einer grossteils ungebrochenen Entwicklung klar dass die zeitliche Grenzziehung zwischen aufeinander folgenden archaologischen Kulturen rein willkurlich erfolgt Haufig werden kleinere Bruche in der Entwicklung etwa das Auftreten eines neuen Keramiktyps oder der Wegfall eines anderen als zeitliche Grenze zwischen Kulturen definiert Eine zeitliche Mindest oder Maximalgrosse existiert nicht so uberspannt z B die Jōmon Kultur in Japan uber 10 000 Jahre die neolithischen Kulturen Mitteleuropas dagegen nur einige Hundert Jahre Bei der raumlichen Verteilung gleichzeitiger Merkmale einer postulierten Kultur sind ein relativ geschlossenes Verbreitungsgebiet und eine relative Mindestgrosse Mindestanzahl von Fundstellen ausschlaggebend allerdings nicht zwingend Auch hier gilt Bei fliessenden Ubergangen erfolgt die Grenzziehung willkurlich Kommen z B in einem Gebiet die Merkmale A B C und D vor und in einem benachbarten Gebiet gleichzeitig die Merkmale C D E und F konnten zwei hypothetische Kulturen anhand der Verbreitungen der Merkmale A und B einerseits und E und F andererseits postuliert werden LeitformenTypische Artefakte einer Kultur werden in Anlehnung an palaontologische Leitfossilien in der Archaologie als Leitformen bezeichnet Eine begrifflich festgelegte hierarchische Gliederung der archaologischen Kulturen in raumliche und zeitliche Uberkategorien fehlt weitgehend bzw wird von der Forschung fur bestimmte Einheiten dynamisch entwickelt die Trichterbecherkultur wird z B in weitere raumliche Untergruppen untergliedert die sich forschungsgeschichtlich bedingt wiederum aus einzelnen zumeist als Kulturen bezeichneten Einheiten zusammensetzen Versuche der Umbenennungen solch weit verbreiteter Kulturerscheinungen zum Zwecke der besseren Ubersicht wie etwa der Glockenbecherkultur in Glockenbecherphanomen Christian Strahm scheitern zumeist an den etablierten alten Begriffen So ist auch das Verhaltnis der Begriffe archaologische Kultur und archaologische Gruppe nicht eindeutig geklart beide werden sowohl synonym als auch zur Bezeichnung verschiedener hierarchischer Gliederungsebenen genutzt meist Kultur uber Gruppe Nomenklatur BearbeitenDie Benennung der archaologischen Kulturen folgt keinen festen Regeln Sie werden z B benannt nach dem ersten Fundort z B Starcevo Kultur Baalberger Kultur Rossener Kultur La Tene Kultur dem an Flusslaufen festgemachten Verbreitungsgebiet z B Koros Kultur Saone Rhone Kultur Theiss Kultur den Bestattungssitten z B Einzelgrabkultur Hugelgraberkultur Urnenfelderkultur der Keramik Verzierung oder Leitform z B Linienbandkeramik oder Trichterbecherkultur anderen typischen Artefakten z B Streitaxtkulturen Bootaxtkultur oder etwa ihren Bauwerken z B Nuraghenkultur Bei archaologischen Kulturerscheinungen die heutige Lander und Sprachgrenzen ubergreifen kommt erschwerend hinzu dass oft Mehrfachbenennungen fur ein und dieselbe archaologische Kultur existieren so wird z B der Kulturkomplex der spaten Fruh bis Mittelbronzezeit in Niederosterreich als Boheimkirchener Gruppe Kultur in der Sudwestslowakei als Mad arovce Kultur und in Mahren als Veterov Kultur bezeichnet Verwendung des Begriffs BearbeitenDie meist willkurliche Abgrenzung der archaologischen Kulturen untereinander und ihre im Einzelnen sehr verschiedenen manchmal mehr von der Forschungsgeschichte als vom Forschungsgegenstand selbst gepragten Definitionen verdeutlichen dass es sich um rein kunstliche Gebilde handelt die zumindest pauschal nie mit Ethnien Sprachgruppen oder Lebendkulturen gleichgesetzt werden durfen Bei der Definition von archaologischen Kulturen wird e thnische Identitat raumlich definiert Bei der ublichen summativen Kartierung von Einzelobjekten werden relativ beliebige Objekte ausgewahlt und uber bzw nebeneinander kartiert und aus ihrem Kontext gelost Aus ahnlichen Verbreitungsbildern wird eine Verbindung zwischen unterschiedlichen Objekten konstruiert was zu einem Zirkelschluss fuhrt weil sie die Objekte ein ahnliches Verbreitungsbild zeigen und dieser Umstand wiederum als Beweis dafur gilt dass zwischen diesen Objekten ein inhaltlicher Zusammenhang besteht 4 Die Gliederung der immens vielfaltigen archaologischen Hinterlassenschaften in Einheiten dient der anders gar nicht zu bewaltigenden Ubersichtlichkeit und Konventionalisierung mithin als Grundlage fur jede weiterfuhrende Erforschung der im eigentlichen Sinne kulturellen besser kulturanthropologischen Phanomene Siehe auch BearbeitenListe archaologischer Kulturen Ur und fruhgeschichtliche Terminologie und SystematikLiteratur BearbeitenW Angeli Zum Kulturbegriff in der Urgeschichtswissenschaft FS Pittioni Arch Austriaca Beih 13 1976 S 3 6 J Bergmann Ethnos und Kulturkreis Zur Methodik der Urgeschichtswissenschaft Prahist Zeitschr 47 1972 S 105 110 Lewis R Binford Coping with culture In L R Binford Hrsg Debating archaeology New York 1989 S 485 490 Erik Drenth amp Eric Lohof Mobilitat wahrend des Endneolithikums und der Bronzezeit Eine allgemeine Ubersicht fur die Niederlande In Varia neolithica V 2007 ISBN 978 3 941171 27 5 Manfred K H Eggert Zum Kulturkonzept in der prahistorischen Archaologie Bonner Jahrbucher 178 1978 1 20 Frohlich Siegfried Hrsg Kultur ein Interdisziplinares Kolloquium zur Begrifflichkeit Interdisziplinares Kolloquium zur Begrifflichkeit 1999 Halle Saale Halle Saale Landesamt fur Archaologie 2000 Rolf Hachmann u a Hrsg Studien zum Kulturbegriff in der Vor und Fruhgeschichtsforschung Bonn 1987 E Mandera Zur Deutung neolithischer Kulturen Probleme urgeschichtlicher Methodik Nassauische Annalen 76 1965 1 14 Sian Jones The archaeology of ethnicity constructing identities in the past and present Routledge London 1997 Nils Muller Scheessel Stefan Burmester Hrsg Soziale Gruppen kulturelle Grenzen Die Interpretation sozialer Identitaten in der Prahistorischen Archaologie Waxmann Munster 2006 ISBN 3 8309 1651 5 W Schmied Kowarzik Philosophische Uberlegungen zum Verstehen fremder Kulturen und zu einer Theorie der menschlichen Kultur S 349 390 1981 In Grundfragen der Ethnologie Christian Strahm Kontinuitat und Kulturwandel im Neolithikum der Westschweiz Fundberichte Baden Wurttemberg 3 1977 115 143 Ulrich Veit Kulturanthropologische Perspektiven in der Urgeschichtsforschung einige forschungsgeschichtliche und wissenschaftstheoretische Voruberlegungen In Urgeschichte als Kulturanthropologie FS Narr Saeculum 41 1990 182 214 Hans Peter Wotzka 1993 Zum traditionellen Kulturbegriff in der prahistorischen Archaologie Paideuma 39 25 44 Einzelnachweise Bearbeiten John Desmond Clark The Cambridge History of Africa Band 1 Cambridge University Press Cambridge 1982 89 ISBN 0 521 22215 X S 157 f 169 234 Andrew Sherratt Die Cambridge Enzyklopadie der Archaologie Christian Verlag Munchen 1980 ISBN 3 88472 035 X S 10 Harsema 1987 104 Prien 2005 304 316 Nils Muller Scheessel Stefan Burmester Einfuhrung Die Identifizierung sozialer Gruppen In Nils Muller Scheessel Stefan Burmester Hrsg Soziale Gruppen kulturelle Grenzen Die Interpretation sozialer Identitaten in der Prahistorischen Archaologie Waxmann Munster 2006 ISBN 3 8309 1651 5 S 27 Abgerufen von https de wikipedia org w index php title Kultur Archaologie amp oldid 230847390